Als Sergej Barbarez 1992 seinen Onkel in Hannover besuchte, brach in seiner Heimat Bosnien-Herzegowina der Krieg aus. Also blieb er – und wurde einer der besten Offensivspieler der Liga. Heute hat die HSV-Legende Geburtstag. Zur Feier des Tages hier sein großes Karriereinterview.
Sergej Barbarez, wer hing als Poster in Ihrem Kinderzimmer: der Basketballer Drazen Petrovic oder der Fußballer Dragan Stojković?
Weder noch. Ich hatte Poster von meinen Lieblingsbands. Von „Aha“ zum Beispiel. Musik war immer mein größtes Hobby. Ein guter Freund, Mladen Solomun, ist heute DJ und Inhaber eines Hamburger Elektro-Clubs. Früher war er großer Fan von mir, heute bin ich großer Fan von ihm. Manchmal lege ich sogar selbst auf.
Dennoch: Eigentlich wollten Sie Basketballprofi werden. Wie sind Sie beim Fußball gelandet?
Leichtathletik mochte ich auch, meine Spezialdisziplin war der 400-Meter-Lauf. Dummerweise war es im ehemaligen Jugoslawien nicht so einfach, Schuhe für diese Sportarten zu finden. Beim Fußball war das anders. Da schmiss der Trainer nur einen Karton mit ein paar alten Tretern hin und sagte: „Sucht euch ein Paar aus.“ Das klang einfach.
Was war Ihr Traum? Die Bundesliga? Die Serie A? Die Premier League?
In Jugoslawien schaute damals kaum jemand auf die großen Ligen im Westen, denn wir hatten mit Roter Stern Belgrad einen sehr erfolgreichen Klub. Die Mannschaft gewann 1991 den Europapokal der Landesmeister und wurde danach Weltpokalsieger. Auch die Nationalelf spielte tollen Fußball. Mein Traum war es damals, mir als Fußballprofi bei Velez Mostar einen Namen zu machen. Leider ist zwei Jahre später alles zusammengebrochen.
Kurz vor dem Bosnienkrieg flohen Sie nach Hannover.
Ich wurde eher geflohen, wenn man das so sagen kann. Im Winter 1991/92 schlug mein Vater vor, dass ich mal wieder meinen Onkel in Hannover besuchen könnte. Was ich nicht wusste: Mein Onkel und mein Vater hatten bereits vereinbart, dass ich nicht mehr zurückkehren, sondern in Deutschland bleiben sollte.
Die beiden ahnten, dass der Krieg bald Bosnien erreichen würde?
In Slowenien und Kroatien tobte der Krieg ja schon. Mein Vater machte sich nun große Sorgen, dass wir in Mostar nicht mehr sicher wären. Zugleich war er allerdings der festen Überzeugung, dass der Krieg nicht lange andauern würde. Er hoffte, ich könnte nach ein paar Wochen heimkehren.
Er sollte sich irren.
Aus den zwei Wochen wurden schnell Monate – und am Ende 22 Jahre. Heute kann man sagen, dass mein Vater alles richtig gemacht hat, denn ich hätte sicher in den Krieg ziehen müssen. Abgesehen davon, dass Kriege immer unsinnig sind, fragt man sich in diesem Fall auch: Für wen oder gegen was überhaupt? Meine Mutter ist Kroatin und Muslimin, mein Vater ist orthodoxer Serbe. Dazu kommt noch, dass weder Religion noch Nationalität in meiner Familie je eine große Rolle gespielt haben.
Trauerten Sie in Deutschland Ihrem Traum von der Karriere bei Mostar nach?
Dafür hatte ich gar keine Zeit, da ich schon bald für Hannover 96 spielte. Mein erstes Training kam übrigens ziemlich kurios zustande.
Erzählen Sie.
Nach ein paar Tagen in Hannover fragte mein Onkel mich, ob wir nicht einen Spaziergang machen wollen. Er sagte: „Zieh Sportschuhe an.“ Am Ende dieses Spazierganges standen wir vor diesem tollen Kunstrasenplatz unweit des Maschsees. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Es war der 4. Januar 1992, eiskalt, und mein Onkel unterhielt sich auf einmal mit einem freundlichen Mann im Trainingsanzug: Frank Pagelsdorf. Nach ein paar Minuten rief er mir zu: „Junge, du kannst mittrainieren!“
Wie erging es derweil Ihrer Familie in der Heimat?
Ein paar Wochen später haben wir meinen Vater nach Hannover geholt. Für ihn wäre es in der geteilten Stadt Mostar einfach zu gefährlich geworden. Nur meine Mutter Zlata wollte nicht fliehen. Sie glaubte, sie müsse auf die Wohnung aufpassen.
War Ihre Mutter nie in Gefahr?
Zweimal wäre sie beinahe vom Boden verschwunden.
Was heißt das?
Sie sollte entführt und dann ermordet werden. Wir hatten glücklicherweise Kontakte zu einigen Leuten, die das verhindern konnten.
Ihre Mutter soll auch Morddrohungen erhalten haben, nachdem Sie Einladungen für die Nationalelf Bosnien und Herzegowinas bekamen.
Ich sagte damals, dass ich erst für mein Land spielen würde, wenn meine Mutter sicher ist. Eines Tages schaltete sich die Politik ein und garantierte meiner Familie Schutz. Auch wenn das natürlich keine hundertprozentige Sicherheit bedeutete, gab mir diese Zusage doch eine gewisse innere Ruhe. So habe ich am 14. Mai 1998 im Alter von 26 Jahren mein Länderspieldebüt gegeben. Wir verloren in Cordoba mit 0:5 gegen Argentinien.