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Seite 2: Ein System, das Deutschland bestens kennt

Der Auf­schrei in der rus­si­schen Bevöl­ke­rung über das neue Geset­zes­paket ist übri­gens kaum wahr­nehmbar. Wen wun­dert’s? Zum einen sind poli­ti­sche Pro­teste in Putins Reich nicht ganz unpro­ble­ma­tisch. Zum anderen über­la­gert die Heim-WM der­zeit alle übrigen Themen, vor allem in den regie­rungs­treuen Staats­me­dien. Im Jubel­trubel des großen Fuß­ball­festes kann man dem Volk also spie­lend leicht unpo­pu­läre Maß­nahmen unter­schieben. Sind ja eh alle beso… freu­de­trunken. Und der Rest guckt ein­fach nur Fuß­ball, dachten sich wohl Putin & Co. Wobei: An diesem Rezept haftet kein rus­si­sches Patent.

System made in Ger­many

Auch in Deutsch­land wurde eine solch hin­ter­lis­tige Stra­tegie bereits mehr­fach erfolg­reich ange­wandt. Im Jahr 2012 zum Bei­spiel. Wenige Minuten nach dem Beginn des EM-Halb­fi­nales zwi­schen Jogis Jungs und Ita­lien (1:2) ver­ab­schie­deten 28 Bun­des­tags-Abge­ord­nete (der Rest war ver­mut­lich beim Public Vie­wing) inner­halb von nur 57 Sekunden ein neues Mel­de­ge­setz mit fol­gendem Inhalt: Unter­nehmen, die mit Adressen han­deln, sollten Zugriff auf die Daten im Mel­de­re­gister erhalten, wenn die betrof­fenen Bür­ge­rinnen und Bürger nicht aus­drück­lich wider­spra­chen. Ver­brau­cher­freund­lich geht irgendwie anders, aber egal – es bekam ja keiner mit.

Auch wäh­rend des Som­mer­mär­chens“ im Jahr 2006 legte man dem par­ty­geilen Bun­des­bürger klamm­heim­lich ein Ei ins Nest: Die Erhö­hung der Mehr­wert­steuer von 16 auf 19 Pro­zent hatte zwar schon im Mai, als vor Tur­nier­be­ginn, den Bun­destag pas­siert. Sie wurde aber erst wäh­rend der WM durch den Bun­desrat gewunken – und somit zur poli­ti­schen Tat­sache. Die meisten Medien berich­teten irgendwo auf Seite 8, weit hinter Klinsi, Poldi und Schweini. Bun­des­fi­nanz­mi­nister Peer Stein­brück mischte sich in jenen Tagen im Ber­liner Café am Neuen See“ unters Volk und guckte unbe­hel­ligt Fuß­ball.

70 Mil­lionen unter der Armuts­grenze

Im Russ­land des Wla­dimir Putin geht es aller­dings um mehr als ein biss­chen Pri­vat­sphäre oder ein paar Cent teu­rere Bananen. Für viele geht es ums täg­liche Über­leben, weil Nah­rungs­mittel – spe­ziell Importe – immer teurer werden und weil Arzt­ter­mine nur gegen üppige Bestechungs­gelder zu kriegen sind. Wirk­lich lustig ist das alles nicht in einem Land, in dem es zwar sehr viele Super­reiche gibt, in dem der Durch­schnitts­bürger jedoch nur ein Mini-Ein­kommen vor­weisen kann. Die Bun­des­zen­trale für Poli­ti­sche Bil­dung in Deutsch­land ermit­telte vor einigen Jahren, dass 50 Pro­zent der rus­si­schen Bevöl­ke­rung ständig am Rande der Armut leben – rund 70 Mil­lionen Men­schen.

Trotz der jüngsten poli­ti­schen Hiobs­bot­schaft ist die Stim­mung in Putins Reich zumin­dest an der Ober­fläche weiter prächtig. Was nicht zuletzt am ful­mi­nanten Tur­nier­start und dem Über­stehen der Grup­pen­phase liegt. Der Prä­si­dent hat mir seinen Dank aus­ge­drückt“, berich­tete Natio­nal­trainer Sta­nislaw Tschertschessow nach dem Match gegen Saudi-Ara­bien. Wir sollen so wei­ter­spielen.“ Na klar.