Deutschland vergaß für einige Stunden sogar das Voranschreiten des Corona-Virus und die neue Flüchtlingskrise. Karl-Heinz Rummenigge sprach vom „hässlichen Gesicht des Fußballs“. Sein Bruder Michael forderte im Doppelpass ein „gnadenloses Vorgehen“ gegen die Täter. DFB-Präsident Fritz Keller sagte im Aktuellen Sportstudio, man sei am „Tiefpunkt“ angekommen. Und Mario Basler durfte bei Sport1 sogar verkünden – unwidersprochen von Moderator Thomas Helmer und von Schmunzlern aus der Stammtisch-Runde begleitet – man solle Stadionbesuchern bei der Einlasskontrolle zukünftig auch mal „zwischen die Beine“ fassen, gerade Frauen, die würden schließlich oft den Transport unerlaubter Dinge wie Transparente oder Pyrotechnik in die Kurve übernehmen, schließlich hätten die ja „mehr Platz da unten (höhö)“.
Wer die Hintergründe für die kollektive Schnappatmung bei nahezu allen Vertretern der Bundesliga nicht kannte, hätte angenommen, es habe einen Todesfall oder Vergleichbares bei einem Erstligaspiel gegeben. Passiert war hingegen Folgendes: In einer konzertierten Aktion von aktiven Fans waren bei mehreren Bundesligapartien am Samstagnachmittag Spruchbänder in den Kurven gehisst worden, auf denen Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp als „Hurensohn“ geschmäht wurde. In Sinsheim war die Partie zwischen der TSG 1899 und dem FC Bayern deshalb zwei Mal gemäß des neuen Drei-Stufen-Plans des DFB unterbrochen worden – und am Ende einigten sich die Teams beim Stand von 0:6 darauf, sich 13 Minuten ambitionslos am Mittelkreis den Ball zuzupassen.
Zweifelsohne eine geschmacklose Aktion der Verursacher. Bereits in der Vorwoche war ein Plakat mit Hopps Konterfei hinter einem Fadenkreuz beim Spiel in Mönchengladbach im Fanblock aufgetaucht, was im Verlauf der Woche dazu führte, dass Journalisten und Funktionäre Querverweise zum rechten Terrorakt in Hanau herstellten. Dass sich die Häme gegenüber Hopp an diesem Wochenende gleich an mehreren Standorten Bahn brach, lässt die verantwortlichen Teile des aktiven Anhangs erneut in sehr schlechtem Licht erscheinen.
Insbesondere, weil durch die Kaprizierung auf die Person Hopp das eigentliche Ziel der Maßnahme völlig aus dem Fokus geriet. Der Hoffenheim-Investor ist der falsche Adressat. Seit die TSG Hoffenheim mit der Unterstützung seiner Millionen den Aufstieg in den bezahlten Fußball geschafft hat, taugt Hopp für viele Fans als Symbolfigur für die freidrehende Kommerzialisierung, für die Umgehung der 50+1‑Regel, als Sinnbild dafür, dass im Profigeschäft allenthalben das Geld die Macht übernommen hat. Dass Hopp auf vielen Ebenen soziale Anliegen verfolgt und sein Vermögen mannigfaltig gesellschaftlichen Zwecken zugute kommen lässt, wird bei der holzschnittartigen Wahrnehmung seiner durch einige Fans nur allzu gern unterschlagen.
In der aktuellen Situation wird Dietmar Hopp aber auch deshalb instrumentalisiert, weil einige Ultragruppierungen dem DFB vorwerfen, Kollektivstrafen wieder und gegen anderslautende Versprechungen eingeführt zu haben. Vor einer Woche war geurteilt worden, dass die Fans von Borussia Dortmund bis 2022 nicht zu Spielen nach Hoffenheim fahren dürfen, weil einige von ihnen bei einem Auswärtsspiel Hopp erneut verunglimpft hatten. Kurz: Zahlreiche friedfertige Auswärtsfahrer werden in Sippenhaft genommen für einige wenige, die mal wieder ihre Häme über den Investor ausgekübelt hatten. Ein zweifellos recht antiquiertes Rechtsverständnis.
Was aber darüber hinaus den Ärger der aktiven Fans heraufbeschwört: Noch 2018 hatte der DFB angekündigt, auf Kollektivstrafen zukünftig generell zu verzichten, nicht zuletzt, um die Frontstellung zu Teilen der Fanszene endlich abzubauen. Dieses Versprechen hat der Verband aus der Perspektive der Aktivisten nun gebrochen.
Um auf diesen Missstand hinzuweisen, verständigten sich verschiedene Fangruppen für dieses Wochenende auf eine öffentlichkeitswirksame Maßnahme in den Stadien. Dass sie dabei Dietmar Hopp mit dem darüber hinaus frauenverachtenden Begriff „Hurensohn“ bedachten, war nicht nur stumpf und fantasielos, sondern es schrammte auch meilenweit am eigentlichen Thema vorbei.
Wer die Rezeption im Nachgang der Ereignisse verfolgte, dem erschloss sich gar nicht mehr, um was es eigentlich gegangen war. Niemand sprach über Sinn oder Unsinn von Kollektivstrafen, stattdessen rückte die Frage in den Fokus, welche Art von Meinungsäußerung zukünftig in Fußballstadien überhaupt noch toleriert werden darf. Jahrzehntelang gehörte es in Bundesligaarenen zur Folklore, dass Schiedsrichter als „Drecksau“ betitelt werden, gegnerische Stürmer als „Wichser“ oder eben „Hurensöhne“. Dass man einem Unparteiischen damit drohte, man wisse, wo sein Auto steht, wurde sogar in einem feucht-fröhlichen Song vertont. Niemand vermutete bislang dahinter ernsthaft tiefverwurzelten Hass oder gar Todesdrohungen.
Durch die Vehemenz der Reaktion aber gewinnt das Thema eine neue Qualität, die auf lange Sicht zu einem Kulturwandel im deutschen Fußball führen könnte. Was, wenn zukünftig jede Beleidigung, jedes schräge Bild, dazu führt, dass Profis aufhören zu spielen oder das Match sogar vorzeitig abgebrochen wird? Und, überhaupt, warum fällt die Reaktion jetzt gerade bei Hopp so energisch aus? Schließlich gab es doch zuletzt genug Anlass zur Empörung: Als Herthas Jordan Torunarigha vor drei Wochen von Schalke-Fans rassistisch beleidigt wurde, gab es keine Spielunterbrechung. Als Torunarigha Augenblicke später mit einer Gelb-Roten Karte des Feldes verwiesen wurde, weil er frustriert eine Getränkekiste zu Boden warf, sprang kein großkopferter Funktionär in die Bresche, um diese Strafe anzufechten oder zumindest in Frage zu stellen.
Es wäre auch interessant zu erfahren, was dem neuen Vorstand-Azubi beim FC Bayern, Oliver Kahn, durch den Kopf ging, als er die Brandrede seines Chefs Karl-Heinz Rummenigge nach dem Spiel am Samstag hörte: „Wir haben die ganzen Vorkommnisse filmen lassen. Wir werden mit aller Schärfe gegen die vorgehen und sie werden am Ende des Tages auf alle Fälle zur Rechenschaft gezogen werden. Wir haben viel zu viel gestattet. Mit dem heutigen Tag muss ein Umdenken stattfinden.“ Kahn war zur aktiven Zeit regelmäßig mit Bananen beworfen worden, an jedem Wochenende als Affe und Urmensch von den Rängen verhohnepiepelt worden. Er selbst bekannte, dass ihn diese Feindseligkeiten erst zu Höchstleistungen gepusht hätten. Aber schön wird es auch für ihn nicht gewesen sein.
Bitte nicht falsch verstehen: Es soll an dieser Stelle weder darum gehen, die Ereignisse herunterzuspielen, noch Verständnis für die vermummten Fans zu zeigen, die Dietmar Hopp als Objekt ihrer Feindseligkeiten und als „Hurensohn“ verunglimpft haben. Doch wenn Häme oder Hass im Stadion sanktioniert werden, dann nach einem klar definierten Werteverständnis, das jeden Akteur und auch jeden Zuschauer miteinschließt – und schützt. Oft genug in der jüngeren Vergangenheit wurde dieser Kanon schmerzlich vermisst.
Gerade angesichts der zunehmenden Verrohung in der Gesellschaft sollten deshalb nicht nur die aktiven Fans ihre Rhetorik überdenken, sondern auch Funktionäre abrüsten und versuchen, die Dinge mit etwas Distanz zu betrachten. Begrifflichkeiten wie „zur Rechenschaft ziehen“, „hässliche Gesicht des Fußballs“, „mit aller Schärfe“ wirken wie Brandbeschleuniger in einem ohnehin lodernden Konflikt, der eigentlich sachlich ausgetragen werden müsste. Gladbach-Manager Max Eberl war am Samstag der einzige aus der Führungsriege eines Erstligisten, der ein Stückweit Einsicht mit den Fanbelangen zeigte: „Die Frage ist, ob diese Kollektivstrafe in Dortmund richtig war, wenn man das Wort gegeben hat und wieder zurückgerudert ist. Wie hat man es denn kommuniziert? Wir müssen uns alle hinterfragen, müssen uns zusammensetzen. Wir müssen versuchen, das Problem zu lösen.“
Wenn Rummenigge als Chef der selbsternannten Lokomotive vor dem Bundesligazug wirklich durchgreifen möchte, darf man darauf gespannt sein, wie er in den kommenden Wochen seine Worte mit Inhalt füllt. Über die Entscheidung der beiden Teams, am Samstag den sportlichen Wettkampf einzustellen und sich den Ball zuzuschieben, sagte er: „Ich fand es gut, wie das Spiel am Ende gespielt wurde.“ Es wäre interessant zu erfahren, ob er es auch so gesehen hätte, wenn die Bayern mit 0:1 hinten gelegen hätten. Schließlich war das Match gelaufen. Der FCB hatte ein Topspiel abgeliefert und führte mit 6:0. Was Rummenigge zu der Erkenntnis brachte: „Es war eine absolute Watsch‘n für die Fans von Bayern München.“ So kann man es auch sehen.