Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten. Außer der FC Bayern spielt, dann kann es auch mal fünf Minuten länger dauern, bis der Dusel hereinbricht. Und so lange wird eben gewartet. Ein Liebesbrief.
Lieber Bayern-Dusel,
das erste Mal lernte ich dich in deiner miesesten Stunde kennen. 1999, als David Beckham sich den Ball an der linken Eckfahne zurechtgelegt hatte und Marcel Reif vor der letzten gefährlichen Situation warnte. Als Sheringham zum 1:1 traf, Lothar Matthäus schon ins Nichts blickte und Ole-Gunar Solksjaer im Fünfmeterraum blank stand. „Wir sind in der 93. Minute“, sagte Reif. „Warum, weiß nur Collina.“ Einen Augenblick später warst du den Champions-League-Titel los. Geschlagen von der Fergie-Time.
Seitdem hast du dir nichts mehr zuschulden kommen lassen. Natürlich, 2001, als die Schalker schon im Parkstadion jubelten, warst du aufmerksam. Die perfekte Meisterschaft war ja schon perfekt, aber du, Bayern-Dusel, hast noch einmal zurückgeschlagen. In Form von Patrik Anderson und seinem Huf, den er Fuß nannte.
Du wirst immer wieder besungen, herbeigesehnt, gefürchtet und verflucht. Ist es eigentlich ein schweres Leben zwischen diesen Extremen?
Heute in Berlin schienst du längst geschlagen. Na klar, manchmal bist du übermächtig, wider jeder Naturgesetze. Aber dieser Mannschaft konntest du doch nun wirklich kein neues Leben einhauchen. „Ungefähr ab der 85. Minute greift die enorme Erfolgszuversicht der Bayern-Spieler. Und in gleichem Maße schrumpft sie bei den Gegenspielern“, hat einmal der Sportphilosoph Reinhard K. Sprenger gesagt. In Berlin hast du den Theoretiker pflichtbewusst – deine stärkste Charaktereigenschaft – bestätigt.
Während ich auf dem Sofa lümmelte, konnte ich die Beine der Hertha-Jungs bereits zittern hören, als die Nachspielzeit begann. Sah wie sich das Rückgrat von Robert Lewandowski anspannte, wie Thomas Müller seinen Massel zurückgewann und wie Manuel Neuer sechzig Meter vor seinem eigenen Tor den Spielaufbau führte. Ich schimpfte darüber, dass Peter Pekarik in der 96. Minute ein unnötiges Foul beging. Sechs Minuten über der Zeit. In Zahlen: 6.
Dann schrie ich heiser auf, als jemand seine Männlichkeit in Robbens Schuss hielt. Und schwieg, nachdem Lewandowski den Ball dann doch über die Linie gedrückt hatte. Niklas Stark sackte auf den Boden wie Sammy Kuffour einst in Barcelona.