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Seite 4: Favre, die Dramaqueen

Auch das Publikum soli­da­ri­sierte sich mit einer Mann­schaft, die unter Favre in der Rück­runde unglaub­liche 16 Punkte mehr als in der Hin­runde geholt hatte. Im Hin­spiel der Rele­ga­tion gegen den VfL Bochum feu­erten sie ihr Team bis zum Schluss fre­ne­tisch an, obwohl es ewig lange 0:0 stand. So hatte das Publikum hier noch nie­mand erlebt. Die Geduld und die Pas­sion wurden belohnt, in der 94. Minute schoss Glad­bach das 1:0, im Rück­spiel reichte ein 1:1‑Unentschieden. Auf der Jah­res­haupt­ver­samm­lung kurz drauf erlebte die Initia­tive Borussia“ ihr Waterloo. Ihre Anträge wurden mit über­wäl­ti­gender Mehr­heit abge­schmet­tert.

Dass die Mit­glieder damals unserem Weg ver­traut haben, war ein ganz ent­schei­dender Punkt in den letzten 15 Jahren“, sagt Eberl. Alles fühlte sich anschlie­ßend leichter an. Die sen­sa­tio­nelle Saison danach sowieso, als der vor­ma­lige Abstiegs­kan­didat mit der fast glei­chen Mann­schaft Vierter wurde. Aber auch der Neu­an­lauf nach den Ver­käufen von Reus, Dante und Neu­städter. Die neun Bun­des­li­ga­spiele ohne Sieg in der letzten Saison, der kleine Ein­bruch in dieser Spiel­zeit nach der langen Serie unge­schla­gener Spiele sind nur ober­fläch­liche Erre­gungen im Ver­gleich zu jenen Tagen der Rele­ga­tion im Mai 2011.

Ein Trainer muss seine Koffer immer gepackt haben“

Wäh­rend die Jour­na­listen im Pres­se­raum inzwi­schen Rou­laden auf den Tel­lern haben, hat Lucien Favre noch einmal kurz Platz genommen. Das Publikum liebt ihn, und er wird von den Ange­stellten im Klub ver­ehrt, für die Ret­tung vor dem Abstieg und seine Arbeit in den Jahren danach. Man erkennt die Ver­eh­rung am besten daran, dass ihn alle nach­ma­chen, sein fran­zö­sisch ein­ge­färbtes Kau­der­welsch, seinen selt­samen Satz­rhythmus und die hoch­g­e­pitchte Stimme. Auf die Frage, ob er denn beim Klub inzwi­schen ange­kommen ist, sagt Favre: Ein Trainer muss seine Koffer immer gepackt haben.“

Ein halbes Dut­zend Mal hat Favre klub­in­tern angeb­lich schon seinen Rück­tritt ange­boten. Er wollte dann nicht mehr aus der Schweiz zurück­kommen, fand sich aus­ge­brannt oder sah keine Ent­wick­lungs­mög­lich­keiten mehr. Max Eberl stand auch schon kurz davor, die Bro­cken hin­zu­schmeißen, ent­nervt von seinem Trainer. Zugeben würde das beide nicht, Eberl sagt nur: Wir sind schon ein paar Mal aus­ein­an­der­ge­gangen, wo ich gedacht habe: Mann, Mann, Mann …“

Denn so sym­pa­thisch Favre ist, so fleißig und besessen von seiner Arbeit, ist er auch eine Dra­ma­queen. Die Geschichten von seiner Unent­schlos­sen­heit bei Trans­fers gehören längst zur Bun­des­li­ga­folk­lore und werden kichernd hinter vor­ge­hal­tener Hand erzählt. Eine Anek­dote besagt, dass Favre gemeinsam mit Eberl den Stürmer Eren Der­diyok von einem Wechsel nach Glad­bach über­zeugen sollte. Der Trainer erklärte Der­diyok auch enga­giert seine Spiel­idee, und als der fragte, wel­cher Platz dort für ihn vor­ge­sehen sei, soll Favre gesagt haben: Das weiß ich auch nicht.“

Doch inzwi­schen sitzt Lucien Favre eben nicht mehr auf gepackten Kof­fern, auch wenn die, die bei ihm zu Hause waren, sagen, dass es dort so flüchtig ein­ge­richtet wirkt, dass er jeder­zeit abrei­se­be­reit sei. Favre zeigt nach dem Ende des Gesprächs sogar noch einmal auf das Auf­nah­me­gerät. Stellen Sie das noch mal an.“ Der Trainer will Borussia Mön­chen­glad­bach loben: Der Klub ist sehr gut orga­ni­siert. Es ist ein­fach ange­nehm. Keine Dis­kus­sion, eine Top-Adresse!“ So etwas hätte er noch vor einem Jahr nicht einmal unter der Andro­hung gesagt, dass man ihm seine DVDs weg­nimmt.

Lucien passt per­fekt zur Borussia“

Doch sie haben inzwi­schen zuein­ander gefunden, vor allem Trainer und Manager. Lucien Favre ver­sucht alle Even­tua­li­täten zu klären, alles zu kennen. Das tut auch mir gut, weil ich im Gegen­satz zu ihm schnell ent­scheide“, sagt Eberl. Wahr­schein­lich ist er im Nach­hinein auch nicht unfroh, dass es mit Der­diyok damals nicht geklappt hat. Und die Trans­fers vor dieser Saison waren schon im März weit­ge­hend erle­digt.

Lucien passt per­fekt zu Borussia Mön­chen­glad­bach, aber der Klub auch zu ihm“, sagt Eberl. Viel­leicht können andere Klubs daraus lernen, dass es manchmal eben dauert, bis alles seinen Platz gefunden hat, und zu so einem Pro­zess auch Krisen und Kon­flikte gehören. In Mön­chen­glad­bach ist jeden­falls eine beson­dere Chemie ent­standen zwi­schen dem ein­ge­schwo­renen Kern lang­jäh­riger Mit­ar­beiter und dem genia­li­schen Mann auf der Trai­ner­bank.

Den hatte auch die Foh­lenelf in Hennes Weis­weiler, der den Ball haben wollte und mutigen Offen­siv­fuß­ball spielen ließ. Der auch ein Auge für Talente besaß und sie vor allem auch wei­ter­brachte. Bei Favre ist das ähn­lich, wenn auch sein Weg ein anderer ist. So rückt er nie in fremde Sta­dien aus, um Gegner anzu­schauen oder einen inter­es­santen Spieler, er ver­tieft sich lieber in Video­mit­schnitte. Als ver­rückter Pro­fessor gehört er zu jener Avant­garde von Trai­nern, die sich bis in die Atom­struktur des Spiels hin­ein­fressen. Ständig auf der Suche nach wie­der­keh­renden Mus­tern und unauf­fäl­ligen Details, aus denen man den ent­schei­denden Vor­teil ziehen kann. So wie Pep Guar­diola oder Thomas Tuchel, auch sie Fuß­ball­trainer aus dem Geist der Spiel­ana­lyse. Mit den Ergeb­nissen aus der Bil­der­schau geht Favre zu seiner Mann­schaft auf den Platz und ver­wan­delt sie in Praxis, spielt Elf gegen Null, um ihnen zu zeigen, wie sie aus dem, was er gesehen hat, einen Vor­teil ziehen können. Wohin sie in wel­chem Moment spielen sollen, weil der Gegner dort anfällig ist. Er ist ein Gott der kleinen Dinge. Dem Links­ver­tei­diger Tony Jantschke etwa hat er bei­gebracht, geg­ne­ri­sche Flanken mit dem rechten Bein abzu­wehren. Weil er dann nicht nur sta­biler steht, son­dern das Bein auch zehn Zen­ti­meter weiter in die mög­liche Flug­bahn hin­ein­reicht. Zehn Zen­ti­meter, in Favres Welt kann das über Sieg und Nie­der­lage ent­scheiden.

Wahr­schein­lich tun der Verein und er sich wech­sel­seitig so gut, weil sie so unter­schied­lich sind. In der durch und durch ver­nünf­tigen Welt von Borussia Mön­chen­glad­bach, in der alle so gut orga­ni­siert und brav sind wie die Anzüge, die sie am Spieltag tragen, ist der Trainer für krea­tiven Irr­sinn zuständig und für die Schön­heit. Das belebt alle, und umge­dreht hilft es Favre, dass sie ihm wirk­lich ver­trauen und er sich in diesem zutiefst sta­bilen Umfeld unge­stört aus­leben darf. Dass er damit Geschichte schreiben und eine Ära prägen könnte, ist für ihn jedoch ein fast schon absurder Gedanke: Ich denke über­haupt nicht an so etwas. Die Zeit rennt, und ich schaue nur auf das kom­mende Spiel.“ Er muss jetzt auch drin­gend weiter. Die nächsten DVDs hat er schon in der Hand.

Dieser Text erschien bereits als Titel­ge­schichte in unserer Aus­gabe 11FREUNDE #158.