Ja, ich gebe es zu: Ich bin Fan eines Retortenvereins. Seit mehr als zwei Dekaden. Eine bewusste Entscheidung war dies nicht – sieben Jahre war ich an diesem Sommertag im Jahre 1987 erst alt, als ich meinen Großvater zu diesem einzigen Erstligaverein meiner Heimat begleiten durfte.
Dieser Retortenklub, der fortan mein Verein werden sollte, gewann dieses dramatische Spiel – das allererste, dem ich live beiwohnte – mit 3:2. Natürlich war ich begeistert. Ich ging wieder und wieder hin, wurde alt genug, um auch Auswärtsspiele zu besuchen, opferte mein Taschengeld und meine Wochenenden für diesen, meinen Retortenverein.
Ich begann, mich in die Vereinshistorie einzulesen und musste feststellen, dass mein Verein aus einem ganz anderen Ort stammt, vom anderen Ende dieses seltsamen Landes, das es inzwischen nicht mehr gab. Ausgerechnet aus dem Erzgebirge, aus Sachsen! Sommer für Sommer fielen diese Sachsen über unsere Ostseeküste her, unterhielten sich in einer Sprache, die mir fremd war und machten sich kaum Freunde. Ausgerechnet von dort sollte mein Verein, der kleinste gemeinsame Nenner Mecklenburgs, stammen?
Ja, der FC Hansa Rostock stammt aus Lauter, einem erzgebirgischen Kaff mit einer fünfstelligen Vorwahl. Auf Initiative von Karl Mewis, einem einflussreichen Politiker aus der Frühphase der DDR, wurde beschlossen, einen ganzen Verein zu transplantieren, um die Einwohner Rostocks zu bespaßen. Es wurde nicht irgendein Verein erwählt, sondern gleich ein Spitzenteam. Als der Umzug vollzogen wurde, mitten in der Saison 1954/55, war Empor Lauter Tabellenführer der Oberliga.
Aus Empor Lauter wurde Empor Rostock
Lauters Pech war die fußballerische Bedeutungslosigkeit Mecklenburgs. Kein Team aus dem Norden der DDR konnte sich in der Oberliga etablieren, während Sachsen vor Erstligisten beinahe überquoll. Auf politischen Wunsch sollte dies nicht so bleiben, und so wurde aus Empor Lauter Empor Rostock, von nun an zu Hause im nagelneuen Ostseestadion. Einige Jahre später wurde Empor in Hansa umgetauft. Die Rostocker nahmen ihren Verein an, rannten ihm die Bude ein und schlossen ihn in ihr Herz. Karl Mewis‘ Kalkül ging auf. Fußball wurde zum Event, und die Leute vergaßen jeden zweiten Samstag, wie sehr ihnen die DDR auf den Keks ging. Brot und Spiele für das Volk. Nicht mehr, nicht weniger.
Ich begann, mehr über den Fußball der DDR zu lesen. Ich las von Trägerbetrieben und Spielerdelegierungen, von SED-Bezirksvorsitzenden und dem „Schiebermeister BFC“, von Schwerpunktklubs und Betriebssportgemeinschaften. Vom Begriff der Tradition keine Spur. Was vor 1949 existierte, wurde ausgelöscht und stattdessen von vorn begonnen. Vereine wurden zwischen Städten hin- und hergeschachert. Die pure Entwurzelung. Der Fußball im kleineren Deutschland war eine einzige Retorte. Trotzdem rannten viele hin, denn Fußball war auch damals schon geil.
Heute, rund 20 Jahre nach dem Ende des komischen Landes namens DDR, stellen sich viele Anhänger dieser ostdeutschen Retorten hin und sind sich darin einig, Rasenballsport Leipzig, diesem von österreichischen Brausemillionen finanzierten Marketingspielzeug, die Existenzberechtigung abzusprechen. Es fehle diesem Verein an Tradition und Wurzeln. Natürlich tut es das, doch wo ist da das Argument gegen RB Leipzig? Es fehlte einst auch diesen angeblichen Traditionsklubs namens Rot-Weiß Erfurt oder Dynamo Dresden, namens 1.FC Magdeburg oder Carl Zeiss Jena, namens Lok oder Chemie Leipzig an eben jenem. Ihre Gründungen waren ideologisch motiviert, um die alten Zöpfe der bürgerlichen Vereine und ihrer jeweiligen Historie abzuschneiden. Es war ein radikaler Bruch mit der heutzutage so heiligen Tradition.
Doch niemand störte sich daran. Man ging hin, weil diese Klubs erfolgreich waren und sich eine eigene Geschichte aufbauten.
RB Leipzig wollen viele diese Chance nicht geben. Natürlich ist es nicht charmant, einen Verein mit der schnöden Kraft des Mammons in den Profifußball zu kaufen, doch gehorcht diese Herangehensweise nur den Gesetzmäßigkeiten eines zynischen Geschäfts. Genauso wie die Vereinsgründungen in der DDR den damaligen Spielregeln folgten, aber noch heute für Identifikation sorgen. Eine Ironie der Geschichte, dass eine neue Retorte sich nun möglicherweise anschickt, ältere Retorten abzulösen. Lok und und der FC Sachsen, die bisherigen Platzhirsche in der Messestadt, stehen sich selbst im Weg, bekämpfen sich bis aufs Blut und eiern von einer Insolvenz in die nächste. Sie kultivieren ihre Abneigung, sitzen in ihrer eigenen Traditionsfalle und wirken damit nur abstoßend auf die für den Sprung in den Profibereich so nötigen Großsponsoren. Nicht nur auf diese, sondern auch auf viele Leipziger, die sich von diesem Fußballkleinkrieg angewidert abwenden.
Dass „Red Bull“ nun auf einen unbeleckten Vorstadtklub setzt und damit einen lachenden Dritten kreiert, ist vor dem Hintergrund des Leipziger Fußballgefüges nur konsequent. Es steht natürlich außer Frage, dass der Name dieses neuen Vereins eine Katastrophe und an Peinlichkeit nur schwer zu überbieten ist, eine eigene Geschichte wird sich RB Leipzig trotzdem schaffen. Zwangsläufig. Kommt der Erfolg, kommen die Fans. Man wird ihnen jegliche Ahnung von Fankultur absprechen, sie als Eventfans bezeichnen und dies beleidigend meinen.
Rasenballsport Leipzig wird nicht der Untergang des Fußballs werden, lediglich ein weiterer Retortenverein. Ganz so, wie man es im Osten gewohnt ist, denn wenn es dort eine Fußballtradition gibt, dann die des Retortenvereins.
Wären unsere (Ur-)Großväter so engstirnig gewesen wie so mancher juvenile Traditionsbewahrer der Gegenwart, hätte es Hansa Rostock womöglich nie gegeben. Viele mögen eine Welt ohne Hansa Rostock begrüßen, ich aber nicht, denn ich bin froh, dass ich meinen Retortenverein habe.
PS: Meinen Frieden mit Sachsen habe ich inzwischen gemacht.