Borussia Mönchengladbach ist der deutsche Konsensklub. Doch auf dem Weg zu alter Größe braucht es auch etwas Wahnsinn.
Lucien Favre schaut an den Zuhörern vorbei, als er über „Francfort“ spricht. Sein Blick flackert hin und her, wie er das meistens tut. Der Trainer von Borussia Mönchengladbach erklärt den Journalisten, wie viel fußballerisches Potential die Eintracht habe und man ahnt, dass dabei reihenweise Spielszenen durch seinen Kopf rattern. Hat er noch was übersehen? Gibt es vielleicht noch einen taktischen Kniff?
Auch für dieses Spiel hat Favre sich wieder die letzten vier Partien des Gegners angeschaut. Wie immer mit dem Finger auf der Fast-Forward-Taste des DVD-Spielers, um sofort weiterzuspulen, sobald der Ball nicht im Spiel ist. Wenn man das nicht gewöhnt sei, bekomme man schnell Kopfschmerzen davon, sagen die, die ihn dabei beobachtet haben.
Der verrückte Professor der Bundesliga
Die Reporter notieren Favres Warnungen geduldig, hinten im Presseraum warten zur Belohnung schon Rouladen mit Rosenkohl und Kartoffeln. Die meisten halten den kauzigen Schweizer für den besten Trainer, der in den letzten Jahrzehnten bei Borussia Mönchengladbach gearbeitet hat. Wie er das genau macht, ist aber auch nach fast vier Jahren irgendwie undurchschaubar. Klar ist nur: Favre ist der verrückte Professor unter den Bundesligatrainern. In einem amerikanischen Kinderfilm würde er eine übergroße Brille mit schwarzem Rand tragen und ein Perpetuum mobile bauen, aus dem unaufhörlich Bonbons plumpsen. In der Kinderwelt des Fußballs hat er Borussia Mönchengladbach durch einen „Time Tunnel“ geführt und aus der Vergangenheit eine Zukunft gemacht.
Neulich etwa hat Favre einen jahrzehntealten Rekord von Hennes Weisweiler gebrochen. 18 Pflichtspiele hintereinander ohne Niederlage, das war nicht einmal dem alten Meistertrainer gelungen, der vier der fünf Deutschen Meisterschaften und den UEFA-Pokal nach Gladbach geholt hat. Und wie selbstverständlich stellte sich die Frage, die bei diesem Klub im Erfolgsfall immer kommt: Wie viel Vergangenheit ist in der Gegenwart möglich? Oder anders gefragt: Wie viel Fohlenelf steckt in der Mannschaft von heute?
Herbert Wimmer, den noch immer alle „Hacki“ nennen, war dabei, als 1965 ein bis dahin unbedeutender Provinzverein mit einer Mannschaft, die im Durchschnitt kaum älter als 21 Jahre alt war, in die Bundesliga aufstieg. Fünf Jahre später wurde Wimmer erstmals Meister mit der Fohlenelf, die man nicht nur wegen ihrer Jugend, sondern auch wegen ihres stürmischen Ungestüms so nannte. Bis heute kommt er zu jedem Spiel und gesellt sich unauffällig an den Traditionsstammtisch, den es gibt, seit der Klub 2004 den Borussia-Park bezogen hat. Zwei Dutzend ehemalige Spieler kommen jedes Mal und werden bemerkenswert herzlich betreut.
Große Momente, große Zeiten
Wimmer ist an diesem Traditionsstammtisch nicht nur einer der treuesten, sondern einer der scheuesten Gäste. Auch mit 70 Jahren ist der einstige Wasserträger von Günter Netzer ein fast schüchterner Mann. Erinnert ihn die Mannschaft von heute an früher? „Am ehesten, wenn sie schnelle Konter spielen“, sagt Wimmer leise, „aber wir hatten mehr Einheimische.“ Klar, Jupp Heynckes, Günter Netzer und Herbert Laumen wurden in Mönchengladbach geboren, Berti Vogts kam aus Korschenbroich, ein paar Meter die Straße runter, und Wimmer selbst aus der Nähe von Aachen. So was gibt es heute weder in Gladbach noch eigentlich sonst irgendwo.
Wimmer mag eine Legende des Vereins sein, aber er ist auch ein prosaischer Mann, dem die Idee einer Wiedergeburt der Fohlenelf im Geiste des 21. Jahrhunderts fremd ist. Und worum würde es da eigentlich gehen? Um hinreißenden Konterfußball, um europäische Flutlichtnächte durchzogen von niederrheinischen Nebelfetzen, um Pfostenbruch und Büchsenwurf? Überall im Stadion und in der Geschäftsstelle wird diese Historie beschworen. Auf den Gängen und in den Büros, in den Logen und an den Wänden der VIP-Ebene hängen Fotos in Schwarz und Weiß. Große Momente, große Zeiten, goldene Vergangenheit.
Doch bedient das mehr als Nostalgie? Stephan Schippers greift in den Büroschrank hinter seinem großen, weißen Schreibtisch und holt „Die Mitspielerfibel“ hervor. Jeder Mitarbeiter von Borussia Mönchengladbach bekommt zum Dienstantritt das kleine Bändchen mit dem weißen Umschlag. Es erklärt auf knapp fünfzig Seiten das Markenversprechen („Die Fohlenelf“), dessen Treiber („Zugehörigkeit, Zugänglichkeit, Individualität und Frische“) und die Werte des Vereins, alles hergeleitet aus der Geschichte des Klubs. Familiär, glaubwürdig, jung, begeisternd, mutig, selbstbewusst, unabhängig und traditionsbewusst will Borussia Mönchengladbach sein. „Aber nicht traditionell“, ergänzt Schippers, der Geschäftsführer und starke Mann des Klubs.
„Borussia ist ein Verein, der nicht polarisiert“
Solche Selbstvergewisserungen gibt es inzwischen bei vielen Profiklubs, mal heißen sie Leitbild, mal Markenfibel. Hilfreiche Orientierungen dafür, wie man handelt. „Glaubwürdig zu sein, heißt: Wir werden nicht wortbrüchig“, sagt Schippers bemerkenswert bestimmt. Wenn einem Spieler die Vertragsverlängerung zugesagt ist, gilt das genauso wie die Zusage, ein versprochenes Interview auch wirklich zu geben. Unabhängig zu sein, heißt, sich nicht auf Modelle einzulassen wie der Hamburger SV mit dem Investor Kühne. Und noch was ist wichtig: „Borussia ist ein Verein, der nicht polarisiert.“ In Köln mögen sie darüber lachen, aber eigentlich stimmt das.
Wie das funktioniert, zeigt sich zweieinhalb Stunden vor dem Spiel am Fanhaus. Es kämen immer mehr Autos aus Holland und Belgien, sagt der Ordner am Eingang zum Parkplatz davor, und auch das Nummernschild „MYK“ sei verstärkt vertreten: Mayen-Koblenz, der größte Landkreis in Rheinland-Pfalz. Nirgendwo in der Bundesliga gibt es mehr Fans, die nicht aus der Stadt selbst und nächster Umgebung zum Spiel kommen, als in Mönchengladbach. Nur ein Drittel stammt aus der Stadt selbst, das zweite Drittel aus bis zu 200 Kilometern Entfernung, der Rest kommt von weiter her. Woher sie anreisen, kann man im Fanhaus sehen. In dem Gebäude, das an ein Schützenzelt erinnert, erklingt halbstündlich die Stadionhymne „Ja, wir schwören Stein und Bein / auf die Elf vom Niederrhein“. Die Fans essen Bratwurst, Pommes und Grünkohl. Getrunken wird Diebels Alt aus großen Gläsern. Unter der Decke hängen die Schals der „Schwalmborussen“ und „Spreeborussen“. An der Wand: eine große Deutschlandkarte, in der die Wappennadel eines jeden Fan-Clubs steckt. Besonders viele stecken in Franken und Bayern.
„Wir expandieren definitiv“
Das ist ein Erbe aus der Hochzeit der Fohlenelf in den Siebzigern, als es in Deutschland, so sieht man es hier im Fanhaus, nur zwei Fußballklubs gab: Gladbach und Bayern. „Und die Borussia war der Klub, der Fußball gespielt hat“, sagt Charly Ritter, 45. Der Präsident des „Fohlenfanclub Unterallgäu“ trinkt ein Bier. Sie haben sich erst im Januar 2014 gegründet und bereits 57 Mitglieder. Tendenz: steigend. „Wir expandieren definitiv“, sagt Ritter. Viermal pro Saison fahren sie gemeinsam in den Borussia-Park. Um 4.45 Uhr ist ihr Bus diesmal losgefahren, um halb eins waren sie da. „Dahoim“ sind sie erst wieder am Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe.
Sonst treffen sie sich in der Pizzeria „Loris“ in Pfaffenhausen, weil der Wirt ein Sky-Abo hat. Die Mitglieder stammen aus Schlingen, Niedergeltingen und Kirchheim. Wären sie Fans des FC Augsburg, bräuchten sie nur 45 Minuten ins Stadion. Aber warum stehen vor dem Fanhaus denn nun so viele junge Fans, die mit bayerischem Idiom sprechen? Der 21-jährige Johannes Windrath sagt: „Bei uns gibt es einfach in jedem Dorf ein paar Gladbacher. Das wird von den Vätern und Großvätern auf die Söhne übertragen.“ Die Dörfler suchten in den siebziger Jahren händeringend nach einem Klub, der in Opposition zum FC Bayern stand. Die Bayern hielten sie für arrogant, und im Grundsatz ist das bis heute so geblieben.
Borussia Mönchengladbach hingegen ist so was wie der deutsche Konsensverein. Nicht so dominant wie Bayern, nicht so laut wie Dortmund, nicht so verrückt wie Schalke, aber auch kein Nischenklub wie Mainz oder Freiburg. Gladbach ist groß, hält sich in den Debatten des Fußballs aber bewusst zurück. Auch hat die Borussia nie jemandem so richtig weh getan. Selbst in den großen Zeiten war die sportliche Überlegenheit immer fragil, weil noch Größere die besten Spieler wegholten: Heynckes, Netzer, Stielike, Matthäus, Effenberg und zuletzt Reus. Ein Spitzenklub, der immer auch etwas Underdog blieb und von Tragik umweht. Wie bei diesem Büchsenwurf 1971, der den größten Sieg im Europapokal auslöschte, das 7:1 über Inter Mailand.
Von der Zahl der Sympathisanten ist Borussia Mönchengladbach in Deutschland vermutlich der viertgrößte Verein hinter Bayern, Dortmund und Schalke. Überall gibt es Fans, die selbst mit der Geschichte der Fohlenelf groß geworden sind oder sie weitergegeben bekamen. Allerdings wäre die 1999 fast zu Ende gegangen. Gladbach war zum ersten Mal aus der Bundesliga abgestiegen, die Schulden höher als der Jahresumsatz, das Bökelbergstadion nicht mehr konkurrenzfähig und aus Sicherheitsgründen von der Schließung bedroht. Es gab weder vernünftige Trainingsplätze noch eine ernstzunehmende Nachwuchsarbeit. „Sportlich und wirtschaftlich stimmte nichts“, sagt Rolf Königs.
Schon damals gehörte der Textilunternehmer zum dreiköpfigen Vorstand, der sich daran machte, den Klub zu sanieren. Seit 2004 ist er Vorsitzender, immer noch ehrenamtlich, immer noch ohne einen Euro Kosten abzurechnen, wie er betont. Bis heute wirkt er fremd in der Welt des Fußballs. Königs trägt zum Anzug stets Einstecktücher und tritt auch sonst so auf, dass einem sofort das Wort „distinguiert“ einfällt. Obwohl er bei internationalen Auswärtsspielen stets dorthin kommt, wo sich die mitgereisten Anhänger treffen und bereitwillig Hände schüttelt, ist er zweifellos nicht das, was man fannah nennt. Vermutlich kennen ihn selbst viele Gladbach-Fans nicht. Genauso wenig wie Geschäftsführer Schippers oder die Namen der Abteilungsleiter für Marketing, den Stadionbetrieb oder die Nachwuchsarbeit.
Keine Transfers auf Pump
Dabei ist es wichtig, ihre Geschichte zu kennen, denn die Wiedergeburt der Fohlenelf vollzog sich ab 1999 nicht zuerst auf dem Rasen, sondern in den Bürozimmern des Vereins. Die meisten, die an der Renaissance des Klubs beteiligt waren, stammen wie auch Königs und Schippers aus Mönchengladbach selbst. Und als sie zur Borussia kamen, waren sie Newcomer. Schon drei Jahre nach dem Fast-Kollaps schrieb der Klub dank dieser Fohlen erstmals wieder schwarze Zahlen, 2004 zog er ins eigene Stadion. In diesem Jahr wird er 125 Millionen Umsatz machen und schuldenfrei sein. „Wir geben nicht mehr Geld aus, als wir haben“, sagt Königs. Es gibt keine Transfers auf Pump, dafür hat der Klub einige Hektar Gelände um das Stadion zugekauft, als die Gewerbeerschließung zu nahe rückte. Alles, was bei diesem Klub passiert, ist so unglaublich solide und vernünftig, dass es fast schon unsexy ist.
Auch Max Eberl kam 1999 und arbeitete zunächst fünf Jahre lang als ein Außenverteidiger, dem man nicht unrecht tut, wenn man seine Spielweise brav und wacker nennt. 2005 wurde er Nachwuchsmanager von Borussia Mönchengladbach. Dass das Nachwuchsleistungszentrum heute zu den am besten bewerteten in Deutschland gehört, liegt auch an seiner Arbeit. Als er begann, hatte der Klub einen Nationalspieler in den Jugendnationalmannschaften, im Moment sind es 18. Seit sechs Jahren ist er Sportdirektor und als solcher sagt Eberl an einem Freitagmorgen im November: „Das ist unsere Keimzelle.“
Alle Trainer des Klubs, auch die der Jugendmannschaften und des Frauenteams, sitzen an den langen Tischen im „Spelershome“ im Souterrain des Borussia-Parks. Den Begriff hat der ehemalige Trainer Hans Meyer aus Holland mitgebracht, im „Spelershome“ verbringen sonst die Spieler ihre freie Zeit. Doch freitags vor jedem Heimspiel treffen sich hier die Coaches zum Frühstück, heute hat Torwarttrainer Uwe Kamps für die Brötchen und das Rührei gesorgt. Fans könnten bei dieser Gelegenheit prima ihre Autogrammsammlung von Borussia-Helden auffrischen. Oliver Neuville ist da, Arie van Lent, Markus Hausweiler, Steffen Korell, Manfred Stefes, alle arbeiten als Trainer für diverse Teams. Man kennt sich also oft schon seit Jahren, das Familiäre ist keine Behauptung. Nach dem Frühstück gibt es regelmäßig einen kurzen Vortrag. Mal geht es um taktische Fragen, um die Schulung von Jugendspielern oder adäquates Torwarttraining. Heute erklärt die Presseabteilung, wie soziale Medien funktionieren, in welche Fallen auch Nachwuchsspieler tappen können und welche Regeln gelten sollten.
Der Vortrag ist knapp und klar, die anschließende Diskussion kurz, die Fragen präzise. Auch hier wirkt der Klub durchdacht, zielorientiert, professionell und für einen Fußballverein ziemlich unaufgeregt. Man kann ihn sich vorstellen wie den Flipchart im Büro von Max Eberl. Dort sind mit roten und blauem Filzstift die Spielzeiten eingetragen, die Punkte aus der Hin- und die aus der Rückserie, und die Namen der Trainer: HM für Hans Meyer, MF für Michael Frontzeck und LF für Lucien Favre. Eingetragen sind auch die Tabellenplatzierungen der letzten Jahre. Gemittelt ist es, seit Eberl Sportdirektor ist, ständig nach oben gegangen.
Marin, Dante, Reus – die Abgänge waren schmerzhaft
„Es muss eine Leitlinie geben und einen Plan, wie die Mannschaft aussehen soll“, sagt er. Das hört sich wie ein Allgemeinplatz an, aber in Mönchengladbach ist der Plan auch umgesetzt worden. Der Kader, so war die Vorgabe, soll zu einem Drittel aus eigenen Nachwuchsspielern bestehen, und tut es auch. Dazu kommen entwicklungsfähige Talente aus anderen Klubs, für die Borussia oft nur eine Durchgangsstation ist, wie einst für Marco Reus, Roman Neustädter oder derzeit wahrscheinlich Granit Xhaka und Christoph Kramer. Und dann sind da noch die Führungsspieler, fertige Profis wie Max Kruse, der Brasilianer Raffael oder Torhüter Yann Sommer. Natürlich war es schmerzhaft, als Marko Marin den Klub verließ, dann Marco Reus und Dante, oder als in diesem Sommer Torwart Mark André ter Stegen zu Barcelona wechselte, aber Eberl hat die opulenten Ablösesummen so investiert, dass sich die Qualität der Mannschaft kontinuierlich verbessert hat.
Auf seinem Flipchart ist jedoch auch ein Blitz eingezeichnet, direkt über „10÷11 MF 10“. In der Hinrunde der Saison 2010/11 hatte Michael Frontzeck nur zehn Punkte geholt, und Borussia drohte der dritte Abstieg aus der Bundesliga. Ins Bild aufsteigender Kurven passt das nicht. „Das ist das Loch, wo wir den Trainer entlassen haben“, sagt Eberl. Er hätte auch sagen können: Hier begannen die dramatischsten Wochen der jüngeren Vereinsgeschichte und auch die aufregendsten für ihn selbst. Denn in fast aussichtsloser Situation im Abstiegskampf entließ er Frontzeck und verpflichtete einen Trainer, der zu diesem Zeitpunkt fast anderthalb Jahre arbeitslos war, weil er nach seinem Rauswurf bei Hertha BSC als nervöser Zauderer galt: Lucien Favre. Wer ihn damals wohlwollender sah, hielt ihn für einen interessanten Konzepttrainer, aber wohl niemand für einen Feuerwehrmann.
Eberl hatte Favre Anfang 2008 in der Schweiz besucht, als er noch den Nachwuchs managte und sich darüber informieren wollte, wie in der Schweiz ausgebildet wird. Dreieinhalb Stunden hatte er bei Favre auf der Veranda gesessen, den Mont Blanc im Hintergrund. „Das war stressfrei, weil weder er mir noch ich ihm etwas verkaufen wollte“, sagt Eberl. „Als ich wegfuhr, hatte ich ein bisschen im Kopf: Wenn du irgendwann mal was machen dürftest, dann wär das schon ein Trainer, bei dem man denkt, es könnte gut passen.“
Vogts‘ Kritk an Eberl
Im Februar 2011 durfte er nicht nur machen, es musste auch passen, denn Eberl und Borussia Mönchengladbach lebten im Belagerungszustand. Berti Vogts verspottete den Sportdirektor öffentlich als „Ja-Sager seiner Majestät“, gemeint war Präsident Königs. „Eberl weiß ja gar nicht, wie er in diese Position gekommen ist. Er ist kein Borusse! Er ist mal von Torpfosten zu Torpfosten gelaufen und mehr nicht“, giftete Vogts, immerhin einer aus der Fohlenelf. Die Gehässigkeit traf durchaus eine allgemeine Stimmung. Genau wie die „Initiative Borussia“ mit Frontmännern wie Stefan Effenberg und Horst Köppel. Sie mobilisierte im Prinzip gegen alle, die den Klub 1999 übernommen hatten. Ein Schattenkabinett stand bereit, ihre Posten zu besetzen.
Wie zugespitzt die Situation war, zeigt sich dadurch, dass alle im Verein die gleiche Antwort auf die Frage nach dem größten Moment der letzten Jahre geben. „Die Relegation gegen Bochum“, sagt Eberl. Sagt Schippers. Sagt Königs. Sagt Favre. Sagen alle. Uwe Kamps, der im Tor stand, als Borussia Mönchengladbach 1995 beim Sieg im DFB-Pokalfinale gegen Wolfsburg den letzten Titel gewann, meint sogar: „Für den Erfolg in der Relegation kannst du den Pokalsieg in die Tonne kloppen.“ Dass durch einen Abstieg der komplette Umsturz drohte, sorgte innerhalb des Vereins für ein großes Zusammenrücken. „Alle haben darum gekämpft, dass wir drin bleiben. Da hat sich gezeigt, dass es im Klub stimmt“, sagt Kamps.
Auch das Publikum solidarisierte sich mit einer Mannschaft, die unter Favre in der Rückrunde unglaubliche 16 Punkte mehr als in der Hinrunde geholt hatte. Im Hinspiel der Relegation gegen den VfL Bochum feuerten sie ihr Team bis zum Schluss frenetisch an, obwohl es ewig lange 0:0 stand. So hatte das Publikum hier noch niemand erlebt. Die Geduld und die Passion wurden belohnt, in der 94. Minute schoss Gladbach das 1:0, im Rückspiel reichte ein 1:1‑Unentschieden. Auf der Jahreshauptversammlung kurz drauf erlebte die „Initiative Borussia“ ihr Waterloo. Ihre Anträge wurden mit überwältigender Mehrheit abgeschmettert.
„Dass die Mitglieder damals unserem Weg vertraut haben, war ein ganz entscheidender Punkt in den letzten 15 Jahren“, sagt Eberl. Alles fühlte sich anschließend leichter an. Die sensationelle Saison danach sowieso, als der vormalige Abstiegskandidat mit der fast gleichen Mannschaft Vierter wurde. Aber auch der Neuanlauf nach den Verkäufen von Reus, Dante und Neustädter. Die neun Bundesligaspiele ohne Sieg in der letzten Saison, der kleine Einbruch in dieser Spielzeit nach der langen Serie ungeschlagener Spiele sind nur oberflächliche Erregungen im Vergleich zu jenen Tagen der Relegation im Mai 2011.
„Ein Trainer muss seine Koffer immer gepackt haben“
Während die Journalisten im Presseraum inzwischen Rouladen auf den Tellern haben, hat Lucien Favre noch einmal kurz Platz genommen. Das Publikum liebt ihn, und er wird von den Angestellten im Klub verehrt, für die Rettung vor dem Abstieg und seine Arbeit in den Jahren danach. Man erkennt die Verehrung am besten daran, dass ihn alle nachmachen, sein französisch eingefärbtes Kauderwelsch, seinen seltsamen Satzrhythmus und die hochgepitchte Stimme. Auf die Frage, ob er denn beim Klub inzwischen angekommen ist, sagt Favre: „Ein Trainer muss seine Koffer immer gepackt haben.“
Ein halbes Dutzend Mal hat Favre klubintern angeblich schon seinen Rücktritt angeboten. Er wollte dann nicht mehr aus der Schweiz zurückkommen, fand sich ausgebrannt oder sah keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. Max Eberl stand auch schon kurz davor, die Brocken hinzuschmeißen, entnervt von seinem Trainer. Zugeben würde das beide nicht, Eberl sagt nur: „Wir sind schon ein paar Mal auseinandergegangen, wo ich gedacht habe: Mann, Mann, Mann …“
Denn so sympathisch Favre ist, so fleißig und besessen von seiner Arbeit, ist er auch eine Dramaqueen. Die Geschichten von seiner Unentschlossenheit bei Transfers gehören längst zur Bundesligafolklore und werden kichernd hinter vorgehaltener Hand erzählt. Eine Anekdote besagt, dass Favre gemeinsam mit Eberl den Stürmer Eren Derdiyok von einem Wechsel nach Gladbach überzeugen sollte. Der Trainer erklärte Derdiyok auch engagiert seine Spielidee, und als der fragte, welcher Platz dort für ihn vorgesehen sei, soll Favre gesagt haben: „Das weiß ich auch nicht.“
Doch inzwischen sitzt Lucien Favre eben nicht mehr auf gepackten Koffern, auch wenn die, die bei ihm zu Hause waren, sagen, dass es dort so flüchtig eingerichtet wirkt, dass er jederzeit abreisebereit sei. Favre zeigt nach dem Ende des Gesprächs sogar noch einmal auf das Aufnahmegerät. „Stellen Sie das noch mal an.“ Der Trainer will Borussia Mönchengladbach loben: „Der Klub ist sehr gut organisiert. Es ist einfach angenehm. Keine Diskussion, eine Top-Adresse!“ So etwas hätte er noch vor einem Jahr nicht einmal unter der Androhung gesagt, dass man ihm seine DVDs wegnimmt.
„Lucien passt perfekt zur Borussia“
Doch sie haben inzwischen zueinander gefunden, vor allem Trainer und Manager. „Lucien Favre versucht alle Eventualitäten zu klären, alles zu kennen. Das tut auch mir gut, weil ich im Gegensatz zu ihm schnell entscheide“, sagt Eberl. Wahrscheinlich ist er im Nachhinein auch nicht unfroh, dass es mit Derdiyok damals nicht geklappt hat. Und die Transfers vor dieser Saison waren schon im März weitgehend erledigt.
„Lucien passt perfekt zu Borussia Mönchengladbach, aber der Klub auch zu ihm“, sagt Eberl. Vielleicht können andere Klubs daraus lernen, dass es manchmal eben dauert, bis alles seinen Platz gefunden hat, und zu so einem Prozess auch Krisen und Konflikte gehören. In Mönchengladbach ist jedenfalls eine besondere Chemie entstanden zwischen dem eingeschworenen Kern langjähriger Mitarbeiter und dem genialischen Mann auf der Trainerbank.
Den hatte auch die Fohlenelf in Hennes Weisweiler, der den Ball haben wollte und mutigen Offensivfußball spielen ließ. Der auch ein Auge für Talente besaß und sie vor allem auch weiterbrachte. Bei Favre ist das ähnlich, wenn auch sein Weg ein anderer ist. So rückt er nie in fremde Stadien aus, um Gegner anzuschauen oder einen interessanten Spieler, er vertieft sich lieber in Videomitschnitte. Als verrückter Professor gehört er zu jener Avantgarde von Trainern, die sich bis in die Atomstruktur des Spiels hineinfressen. Ständig auf der Suche nach wiederkehrenden Mustern und unauffälligen Details, aus denen man den entscheidenden Vorteil ziehen kann. So wie Pep Guardiola oder Thomas Tuchel, auch sie Fußballtrainer aus dem Geist der Spielanalyse. Mit den Ergebnissen aus der Bilderschau geht Favre zu seiner Mannschaft auf den Platz und verwandelt sie in Praxis, spielt Elf gegen Null, um ihnen zu zeigen, wie sie aus dem, was er gesehen hat, einen Vorteil ziehen können. Wohin sie in welchem Moment spielen sollen, weil der Gegner dort anfällig ist. Er ist ein Gott der kleinen Dinge. Dem Linksverteidiger Tony Jantschke etwa hat er beigebracht, gegnerische Flanken mit dem rechten Bein abzuwehren. Weil er dann nicht nur stabiler steht, sondern das Bein auch zehn Zentimeter weiter in die mögliche Flugbahn hineinreicht. Zehn Zentimeter, in Favres Welt kann das über Sieg und Niederlage entscheiden.
Wahrscheinlich tun der Verein und er sich wechselseitig so gut, weil sie so unterschiedlich sind. In der durch und durch vernünftigen Welt von Borussia Mönchengladbach, in der alle so gut organisiert und brav sind wie die Anzüge, die sie am Spieltag tragen, ist der Trainer für kreativen Irrsinn zuständig und für die Schönheit. Das belebt alle, und umgedreht hilft es Favre, dass sie ihm wirklich vertrauen und er sich in diesem zutiefst stabilen Umfeld ungestört ausleben darf. Dass er damit Geschichte schreiben und eine Ära prägen könnte, ist für ihn jedoch ein fast schon absurder Gedanke: „Ich denke überhaupt nicht an so etwas. Die Zeit rennt, und ich schaue nur auf das kommende Spiel.“ Er muss jetzt auch dringend weiter. Die nächsten DVDs hat er schon in der Hand.
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Dieser Text erschien bereits als Titelgeschichte in unserer Ausgabe 11FREUNDE #158.