Borussia Mönchengladbach ist der deutsche Konsensklub. Doch auf dem Weg zu alter Größe braucht es auch etwas Wahnsinn.
Doch bedient das mehr als Nostalgie? Stephan Schippers greift in den Büroschrank hinter seinem großen, weißen Schreibtisch und holt „Die Mitspielerfibel“ hervor. Jeder Mitarbeiter von Borussia Mönchengladbach bekommt zum Dienstantritt das kleine Bändchen mit dem weißen Umschlag. Es erklärt auf knapp fünfzig Seiten das Markenversprechen („Die Fohlenelf“), dessen Treiber („Zugehörigkeit, Zugänglichkeit, Individualität und Frische“) und die Werte des Vereins, alles hergeleitet aus der Geschichte des Klubs. Familiär, glaubwürdig, jung, begeisternd, mutig, selbstbewusst, unabhängig und traditionsbewusst will Borussia Mönchengladbach sein. „Aber nicht traditionell“, ergänzt Schippers, der Geschäftsführer und starke Mann des Klubs.
„Borussia ist ein Verein, der nicht polarisiert“
Solche Selbstvergewisserungen gibt es inzwischen bei vielen Profiklubs, mal heißen sie Leitbild, mal Markenfibel. Hilfreiche Orientierungen dafür, wie man handelt. „Glaubwürdig zu sein, heißt: Wir werden nicht wortbrüchig“, sagt Schippers bemerkenswert bestimmt. Wenn einem Spieler die Vertragsverlängerung zugesagt ist, gilt das genauso wie die Zusage, ein versprochenes Interview auch wirklich zu geben. Unabhängig zu sein, heißt, sich nicht auf Modelle einzulassen wie der Hamburger SV mit dem Investor Kühne. Und noch was ist wichtig: „Borussia ist ein Verein, der nicht polarisiert.“ In Köln mögen sie darüber lachen, aber eigentlich stimmt das.
Wie das funktioniert, zeigt sich zweieinhalb Stunden vor dem Spiel am Fanhaus. Es kämen immer mehr Autos aus Holland und Belgien, sagt der Ordner am Eingang zum Parkplatz davor, und auch das Nummernschild „MYK“ sei verstärkt vertreten: Mayen-Koblenz, der größte Landkreis in Rheinland-Pfalz. Nirgendwo in der Bundesliga gibt es mehr Fans, die nicht aus der Stadt selbst und nächster Umgebung zum Spiel kommen, als in Mönchengladbach. Nur ein Drittel stammt aus der Stadt selbst, das zweite Drittel aus bis zu 200 Kilometern Entfernung, der Rest kommt von weiter her. Woher sie anreisen, kann man im Fanhaus sehen. In dem Gebäude, das an ein Schützenzelt erinnert, erklingt halbstündlich die Stadionhymne „Ja, wir schwören Stein und Bein / auf die Elf vom Niederrhein“. Die Fans essen Bratwurst, Pommes und Grünkohl. Getrunken wird Diebels Alt aus großen Gläsern. Unter der Decke hängen die Schals der „Schwalmborussen“ und „Spreeborussen“. An der Wand: eine große Deutschlandkarte, in der die Wappennadel eines jeden Fan-Clubs steckt. Besonders viele stecken in Franken und Bayern.
„Wir expandieren definitiv“
Das ist ein Erbe aus der Hochzeit der Fohlenelf in den Siebzigern, als es in Deutschland, so sieht man es hier im Fanhaus, nur zwei Fußballklubs gab: Gladbach und Bayern. „Und die Borussia war der Klub, der Fußball gespielt hat“, sagt Charly Ritter, 45. Der Präsident des „Fohlenfanclub Unterallgäu“ trinkt ein Bier. Sie haben sich erst im Januar 2014 gegründet und bereits 57 Mitglieder. Tendenz: steigend. „Wir expandieren definitiv“, sagt Ritter. Viermal pro Saison fahren sie gemeinsam in den Borussia-Park. Um 4.45 Uhr ist ihr Bus diesmal losgefahren, um halb eins waren sie da. „Dahoim“ sind sie erst wieder am Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe.
Sonst treffen sie sich in der Pizzeria „Loris“ in Pfaffenhausen, weil der Wirt ein Sky-Abo hat. Die Mitglieder stammen aus Schlingen, Niedergeltingen und Kirchheim. Wären sie Fans des FC Augsburg, bräuchten sie nur 45 Minuten ins Stadion. Aber warum stehen vor dem Fanhaus denn nun so viele junge Fans, die mit bayerischem Idiom sprechen? Der 21-jährige Johannes Windrath sagt: „Bei uns gibt es einfach in jedem Dorf ein paar Gladbacher. Das wird von den Vätern und Großvätern auf die Söhne übertragen.“ Die Dörfler suchten in den siebziger Jahren händeringend nach einem Klub, der in Opposition zum FC Bayern stand. Die Bayern hielten sie für arrogant, und im Grundsatz ist das bis heute so geblieben.
Borussia Mönchengladbach hingegen ist so was wie der deutsche Konsensverein. Nicht so dominant wie Bayern, nicht so laut wie Dortmund, nicht so verrückt wie Schalke, aber auch kein Nischenklub wie Mainz oder Freiburg. Gladbach ist groß, hält sich in den Debatten des Fußballs aber bewusst zurück. Auch hat die Borussia nie jemandem so richtig weh getan. Selbst in den großen Zeiten war die sportliche Überlegenheit immer fragil, weil noch Größere die besten Spieler wegholten: Heynckes, Netzer, Stielike, Matthäus, Effenberg und zuletzt Reus. Ein Spitzenklub, der immer auch etwas Underdog blieb und von Tragik umweht. Wie bei diesem Büchsenwurf 1971, der den größten Sieg im Europapokal auslöschte, das 7:1 über Inter Mailand.
Von der Zahl der Sympathisanten ist Borussia Mönchengladbach in Deutschland vermutlich der viertgrößte Verein hinter Bayern, Dortmund und Schalke. Überall gibt es Fans, die selbst mit der Geschichte der Fohlenelf groß geworden sind oder sie weitergegeben bekamen. Allerdings wäre die 1999 fast zu Ende gegangen. Gladbach war zum ersten Mal aus der Bundesliga abgestiegen, die Schulden höher als der Jahresumsatz, das Bökelbergstadion nicht mehr konkurrenzfähig und aus Sicherheitsgründen von der Schließung bedroht. Es gab weder vernünftige Trainingsplätze noch eine ernstzunehmende Nachwuchsarbeit. „Sportlich und wirtschaftlich stimmte nichts“, sagt Rolf Königs.