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Ich sitze an einem Schreib­tisch und schaue auf meinen Laptop. Dahinter ist eine weiße Wand, auf dem Boden liegen Lego-Steine. Das Kind schläft.

Es ist der 1. April 2020, und ich bin in den ver­gan­genen drei Tagen kaum draußen gewesen. Ein paar Lebens­mittel ein­kaufen, kurze Spa­zier­gänge, einmal ins Büro, das war’s. Am Herr­furth­platz im Schil­ler­kiez hat jemand ein Trans­pa­rent an seinen Balkon gehängt. Stay the fuck home!“, steht drauf. Wie die meisten anderen habe ich kaum noch Kon­takte zu anderen Men­schen, ich besuche keine Ver­an­stal­tungen und meide öffent­liche Orte. Social Distancing. Es ist mal bedrü­ckend, mal über­for­dernd, mal sur­real. Es ist wie damals, als ich 15 war und ich mir nichts Bes­seres vor­stellen konnte.

An irgend­einem Abend im August 1992 starre ich auf einen Com­puter in der Größe eines kleinen Kühl­schranks. Neben dem Rie­sen­gerät, das sich Amiga 500 nennt, stehen leere Mirinda-Dosen, auf dem Boden liegen zer­brö­selte Salz­stangen von Minimal. Es sind die großen Som­mer­fe­rien, die Eltern schlafen, und ich gehe seit ein paar Tagen kaum noch vor die Tür. Den Müll habe ich ges­tern oder vor­ges­tern run­ter­ge­bracht, dem Fami­li­en­frieden zuliebe.

Meine Schwester sagte, ich sei nicht mehr ganz dicht

Ich schalte den Com­puter an, er surrt und ächzt, als würde er den Mount Everest ohne Sau­er­stoff­maske besteigen. Nach etwa zehn oder zwanzig Minuten erscheint die Grafik einer Hand auf dem Bild­schirm. Sie hält ein qua­dra­ti­sches Ding, das man Dis­kette nennt. Ich lege genau so eine Dis­kette ein, auf ihr steht in Blei­stift­schrift Bun­des­liga Manager Pro­fes­sional“.

Meine Mutter hat neu­lich vor­ge­schlagen, dass ich mal wieder an die fri­sche Luft gehen sollte. Mein Vater hat gefragt, ob ich über­haupt wisse, wel­chen Tag wir haben. Meine Schwester hat gesagt, ich sei nicht mehr ganz dicht. Sie alle ver­stehen nicht, dass hier, auf diesem Com­puter, Fuß­ball­ge­schichte geschrieben wird. Sie alle wissen nicht, dass der Ham­burger SV vor seinem fünften Titel im Euro­pa­pokal der Lan­des­meister steht.

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Ich bin schon lange kein Video­spieler mehr. Das Unechte war mir irgend­wann zu echt geworden, vor allem die Fuß­ball­ma­nager-Simu­la­tionen waren mit unnützen Infor­ma­tionen und Details über­laden. Man konnte die Farbe des Klo­pa­piers auf dem Trai­nings­ge­lände der zweiten Mann­schaft bestimmen. Oder die Launen der Spieler durch die Typo­grafie der Sti­ckerei am Tri­kot­saum beein­flussen. Ein­zelne Spiel­tage zogen sich länger als der Bau eines Ber­liner Flug­ha­fens.

Anfang der Neun­ziger war die Com­pu­ter­welt sehr klein. Die Spiel­ideen waren simpel, die nar­ra­tive Struktur ein­di­men­sional, der Markt über­sicht­lich. Statt den foto­rea­lis­ti­schen Simu­la­tionen Fifa 20“ und Pro Evo­lu­tion Soccer“ spielte man Kick off“ oder Sen­sible Soccer“, bei denen die Figuren aus­sahen wie kleine ver­pi­xelte Lego­männ­chen. Die Taktik lau­tete: Kick and rush. Mit einem Plas­tik­knüppel, der sich Joy­stick nannte, ließ man die Figuren gera­deaus laufen, nach rechts und nach links, man konnte sie per Knopf­druck schießen lassen, vorbei oder ins Tor. Das war es im Grunde.

Und dann erschien eines Tages der Bun­des­liga Manager Pro­fes­sional“.

Der BMP, wie Kenner sagten, war nicht die erste Fuß­ball­ma­na­ger­si­mu­la­tion. Für den Com­mo­dore 64 war fünf Jahre zuvor Bun­des­liga 85/86“ raus­ge­kommen, in Eng­land spielte man Brian Clough’s Foot­ball For­tunes“, und auf dem Amiga konnte man schon 1989 den Vor­läufer Bun­des­liga Manager 1“ zocken. Aber der BMP war bahn­bre­chend, er war eine Art Blau­pause für alle fol­genden Mana­ger­spiele, die Pforte zum Fuß­ball­pa­ra­dies“, wie die Zeit­schrift Amiga Joker“ im Oktober 1991 schrieb.

Aus heu­tiger Sicht wirkt das Spiel naiv und über­holt. Fünf, sechs Klicks reichten aus, um einen ganzen Spieltag vor­zu­be­reiten. Man wählte seine Mana­ger­figur (Typ Cal­mund oder Typ Rib­beck), man schickte sein Team ins Trai­nings­lager (Hof Schweiß­perle oder Kick­felder Mühle), man schloss Ver­träge mit Wer­be­part­nern (Foto Oka oder KBC), und man kaufte und ver­kaufte Spieler. Nach jedem Spieltag ver­öf­fent­lichte eine vir­tu­elle Zei­tung einen Bericht, der aus fer­tigen Text­bau­steinen gene­riert wurde, wes­halb er sich manchmal so las: Super gekämpft: Aus einem 0:0 noch ein 3:3 gemacht!“

Wenn ich jungen Kol­legen vom Bun­des­liga Manager Pro­fes­sional“ erzähle, schauen sie mich mit­leidig an. Sie sind auf­ge­wachsen mit ultra­kom­plexen Simu­la­tionen und mehr­bö­digen Stra­te­gie­spielen, für die man ein Mathe­ma­tik­stu­dium abge­schlossen haben sollte. BMP, Amiga 500, 512KB – das alles klingt für sie so, als würde ihnen ihr Erd­kun­de­lehrer erzählen, dass die Beach Boys ganz flotte Tanz­musik spielen, wäh­rend sie über ihre Air­Pods den neusten Track eines Afro-Trap-Künst­ler­kol­lek­tivs aus einem Pariser Ban­lieue hören.

Aber was wissen sie schon von 1992? Damals, als man seinen Geschmack nicht dreimal pro Woche wech­selte. Damals, als es kein Internet gab und nur drei Fern­seh­pro­gramme. Wenn man etwas liebte, liebte man es aus­dau­ernd. Zum Bei­spiel hörte man Musik nicht in Snip­pets, man hörte sie auch nicht quer in Play­lists oder per Zufalls­wie­der­gabe. Man hörte Alben. Von vorne bis hinten und wieder von vorne. Ich weiß noch, dass ich in jenem Sommer 1992 erst eine Kas­sette von Guns N’ Roses, Appe­tite for Des­truc­tion“, zum Leiern brachte und danach aus­schließ­lich die ein­zige CD hörte, die ich besaß: eine Drei-Track-Maxi von Mega­deth namens Sym­phony of Des­truc­tion“. (Zer­stö­rung schien ein Leit­motiv jenes Som­mers gewesen zu sein, viel­leicht wollte ich des­wegen beim BMP etwas auf­bauen, quasi als Selbst­the­rapie.) Just like the Pied Piper led rats through the streets.“ Wenn ich das Intro und die ersten Verse von Dave Mus­taine heute höre, sehe ich vor meinem geis­tigen Auge, wie ich Richard Golz für zwei Mil­lionen Mark zum FC Rem­scheid ver­kaufe. 

Der Tag, an dem ich das erste Mal die raub­ko­pierte BMP-Dis­kette ein­legte, war eine Zäsur. Es gab ein Leben davor (Früh­stück, Schule, Mit­tag­essen, Ten­nis­trai­ning, Haus­auf­gaben, Maumau spielen, Fuß­balll im Park spielen, im Kino Zurück in die Zukunft“ gucken, auf Wetten, dass…?!“ am Samstag warten, schlafen) und danach (BMP, Schule, BMP, BMP, BMP, BMP, schlafen, BMP, Schule, BMP…).

Viel­leicht war der BMP mein erster echter Exzess. Er kam vor dem ersten Voll­rausch und dem ersten Joint, und er war gewaltig. Denn im Gegen­satz zu anderen Kunst­werken und Kul­tur­er­zeug­nissen – ein Buch, ein Kon­zert, ein Song – hatte eine Com­pu­ter­si­mu­la­tion wie der Bun­des­liga Manager Pro­fes­sional“ ein Allein­stel­lungs­merkmal: die Unend­lich­keit. Viele Jahre später berich­teten BMP-Gamer auf irgend­wel­chen Retro-Por­talen davon, dass sie ihre Ver­eine über meh­rere hun­dert Jahre trai­niert hätten. Ich führte den HSV im Sommer 1992 immerhin zehnmal in Folge zum Euro­pa­po­kal­sieg. Für die Sta­tistik: Den letzten Titel im Lan­des­meister-Cup gewann er in der Ver­län­ge­rung gegen den SV Meppen.

Soft­ware 2000 – dieses Unter­nehmen hatte die Zukunft gesehen

Schon der Name des Her­stel­lers machte gehörig Ein­druck auf mich: Soft­ware 2000“. Die Firma, so schien es, ope­rierte aus der Zukunft. Ihr Haupt­quar­tier musste sich in New York oder Tokio befinden. In einem hoch tech­ni­sierten Cyber­punk-Hoch­haus, in dem die Welt aussah wie in einem Roman von Wil­liam Gibson.

Später las ich mal, dass Soft­ware 2000“ in der schleswig-hol­stei­ni­schen Klein­stadt Eutin behei­matet war. Und KRON“, der Name ihres Pro­duk­ti­ons­stu­dios, war eine Wort­schöp­fung aus den ersten beiden Buch­staben der Nach­namen der Ent­wickler: Werner Krahe und Jens Onnen. Das alles klang so bieder und normal wie ein Quer­pass von Jörg Bode. Immerhin: Das Jahr 2000 erlebte das Unter­nehmen noch. Zwei Jahre später aber ging es pleite.

Vor ein paar Jahren erlebten Berufs­si­mu­la­tionen einen echten Hype. Sie waren bei­nahe so pri­mitiv wie der BMP, und viele Leute fragten sich: Worin liegt eigent­lich der Reiz, sich nach getaner echten Arbeit noch vor den Com­puter zu setzten, um einer vir­tu­ellen Arbeit nach­zu­gehen? Noch dazu einer Tätig­keit, bei der man den Algo­rithmen eines Com­pu­ters wehrlos aus­ge­lie­fert ist?

Die Ant­wort ist ein­fach: Am Com­puter kann man Dinge tun, die man eigent­lich nicht tun kann. Weil man keine Aus­bil­dung hat oder kein Stu­dium; weil man zu unbe­gabt oder zu ängst­lich ist. Am Com­puter aber kann man alles sein: Bus­fahrer oder Flug­zeug­pilot, Land­wirt oder Arzt, Astro­naut oder Dro­gen­dealer, Uli Hoeneß oder Jean Löring. Man kann den Rechner anschreien: Für die Scheiß­stim­mung seid ihr doch ver­ant­wort­lich!“, oder im Vor­bei­gehen non­cha­lant flüs­tern: Ich als Verein musste reagieren!“

Manager wurde man an der School of BMP

Der BMP war auch wie ein Blick in den Maschi­nen­raum des Fuß­balls, zumin­dest für mich, der fast sein gesamtes Wissen aus Pani­ni­heften und einem Fuß­ball­buch von Harry Vale­rien zur WM 1986 hatte. Mit dem BMP fühlte es sich zumin­dest an, als sei man nicht mehr nur ein pas­siver Kunde, man war Akteur, Macher und auch ein biss­chen Gott. Manager wurde man an der School of BMP.

Man musste dafür weder BWL stu­dieren, noch in irgend­wel­chen Zau­ber­wäl­dern Prin­zes­sinnen befreien oder gar Pilze und Sterne ein­sam­meln. Man brauchte keine Aus­bil­dung und keine Super­kräfte. Man war sofort mit­ten­drin im harten Fuß­ball der Neun­ziger: BSV Bran­den­burg gegen Bayer Uer­dingen 0:0 vor 3482 Zuschauern, und kurz vor Schluss bekommt Helmut Rahner die Rote Karte. Gab es jemals ein rea­lis­ti­scheres Spiel?

Und trotzdem konnte man ein wenig die eigene Fan-Sozia­li­sa­tion wei­ter­träumen. Denn end­lich mal sah man das Wappen des eigenen Klubs im Euro­pa­pokal der Lan­des­meister neben schil­lernden Namen wie Real Madrid oder Inter Mai­land. End­lich mal lief die eigene Mann­schaft in ein aus­ver­kauftes Sta­dion ein, was in der Rea­lität so gut wie nie vorkam.

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Nun also sitze ich am Schreib­tisch und gehe nicht mehr raus. Vor mir die weiße Wand, die Lego-Steine auf dem Boden. Ich würde gerne den Amiga 500 auf­bauen, er würde surren und ächzen, und ich würde ihn tät­scheln wie einen treuen Hund, aber leider habe ich ihn vor vielen Jahr­zehnten auf einem Floh­markt für 20 Mark ver­kauft. 

Es bleibt also nur, Danke zu sagen. Danke, lieber BMP. Nur durch dich kenne ich Ver­eine wie den KSV Bau­natal, Wormatia Worms oder den SV 1919 Irx­leben. Danke, lieber Amiga 500. Ich weiß heute nichts mehr von Algebra oder dem Bau­ern­krieg. Ich spreche kaum noch ein Wort Fran­zö­sisch, obwohl ich es vier Jahre in der Schule gelernt habe. Aber egal, denn ich weiß immer noch, wo bei Gianna Sis­ters“ der erste Warp ver­steckt ist (Level 3) oder wie die Bar bei Lei­sure Suit Larry“ heißt („Lefty’s“).

Und ich weiß, dass man bei BMP 10.000 Mark ergau­nern konnte, wenn man im Menü Bank“ auf das Schild neben Ein­gang klickt. Und ich bin mir sicher, wenn ihr den Text bis hierhin gelesen habt: Ihr wusstet es auch.