Wolfram Wuttke war einer der besten Mittelfeldspieler der Achtziger. Heute wäre er 61 Jahre alt geworden. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2015 haben wir mit ihm gesprochen. Über Osram, Bier vor dem Spiel und Verträge mit Gyroshändlern.
Wolfram Wuttke, wo sollen wir nur anfangen?
Bitte nicht mit Dietrich Weise.
Ihrem U 21-Trainer, dem Sie einst ins Bett gepinkelt haben?
Die Geschichte stimmt nicht. Wie so vieles, was über mich geschrieben wurde. Junger Freund, fangen wir doch ganz vorne an: Castrop, Schalke, Pott.
Sie haben mal gesagt: „Ich bleibe ewig der Junge aus dem Kohlenpott. “ Was machte denn Ihre Heimat Castrop-Rauxel in den Siebzigerjahren aus?
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wenn man damals in Castrop in eine Kneipe ging und alle Plätze belegt waren, rückten die Leute zusammen, so dass man sich dazusetzen konnte. In Hamburg, wo ich später spielte, legten die Leute demonstrativ ihre Jacken auf die freien Hocker neben sich. Das erklärt doch alles.
Wie zeigte sich dieser Charakter im Fußball?
Ich habe mich bei Schalke nie als Nummer gefühlt, sondern immer als Teil einer Familie. Als ich mit 15 von der SG Castrop zu Schalke wechselte, vermittelte man mir sofort eine Ausbildung zum Bürokaufmann auf der Geschäftsstelle. Unser damaliger Präsident Günter „Oscar“ Siebert wusste, dass ich die Berufsschule hasste. Oft stand er deswegen bei mir auf der Matte: „Watt machste noch hier? Berufsschule? Ach watt, nu zieh dich um und ab auffen Platz!“ So kam ich bereits mit 16 Jahren zu den Profis.
Sie stießen in eine Schalker Mannschaft mit Spielern wie Klaus Fichtel, Rüdiger Abramczik und Klaus Fischer. Hatten Sie Angst vor den Platzhirschen?
Überhaupt nicht. Ich machte alles, was man mir auftrug. Ich schleppte die Koffer der Stars, baute die Hütchen auf und trug die Ballnetze.
Sie achteten die Hierarchien?
Na klar, warum denn nicht?
Sie sollen kurz vor Ihrem 18. Geburtstag im Mercedes von Charly Neumann provokativ um den Platz gefahren sein, während Ihre Mitspieler trainierten.
Halbwahrheiten. Es stimmt, dass ich mit Charlys Auto fuhr, das war aber ein Scirocco. Ich habe auch keine Ohrfeige von ihm dafür bekommen, wie gerne erzählt wird.
Warum fuhren Sie denn überhaupt in seinem Wagen?
Meine Führerscheinprüfung stand an, ich wollte ein wenig üben. Die anderen haben es mit Humor genommen.
Sie verließen Ihre Schalke-Familie bereits nach einem Jahr. Wieso?
Der Klub hatte große finanzielle Schwierigkeiten und gab mich deswegen nach Gladbach ab. Es folgten zwei richtig harte Jahre.
Weil Sie nicht mit Jupp Heynckes zurechtkamen?
Heynckes war damals ein introvertierter Pedant, der achtete auf jede Kleinigkeit und hatte seine Augen überall. Er fand heraus, wenn wir rauchten, er wusste, wie viele Biere wir am Wochenende getrunken hatten. Ein Feldmarschall.
Heute ist es undenkbar, dass Spieler regelmäßig rauchen oder Alkohol trinken. Schlug sich Ihr Lebenswandel nicht in der Kondition nieder?
Waldläufe habe ich tatsächlich gehasst. Schlimm fand ich auch die Typen, die daraus einen Wettbewerb machten und unbedingt als Erster ins Ziel kommen wollten. Nach dem Motto: Guck mal, Trainer, wie toll ich bin.
Sie liefen immer als Letzter ein?
So war es. In Gladbach gemeinsam mit Frank Mill, in Hamburg mit Jürgen Milewski. Und wir haben herzlich über all die Superjogger gelacht, die acht Stunden am Stück laufen konnten, aber auf dem Platz keinen Ball trafen.
Und Ernst Happel, der Disziplinfanatiker, fand das okay?
Ach, der Alte konnte manchmal richtig lieb sein. Einmal verlief ich mich bei einem Waldlauf in einem Trainingslager im Taunus. Happel, der stets mit einer Art Buggy hinter der Gruppe herfuhr, fand mich abseits vom Weg und sagte nur: „Komm Wurschtl, setz di hin.“ So ging es dann zurück zum Hotel.
Wie reagierten die anderen Trainer?
Es rauchte doch damals beinahe jeder, in Gladbach zum Beispiel Frank Mill, Armin Veh, auch Lothar Matthäus hin und wieder. Und ein Bier vor dem Spiel war immer drin. Wissenschaftler werden Ihnen auch bestätigen, dass das gesünder ist als eine Cola. Das Problem an der ganzen Sache war nur, dass Heynckes ein militanter Asket war.
In der zweiten Saison bei Borussia Mönchengladbach kamen Sie sportlich besser zurecht. Hatten Sie sich mit Heynckes ausgesöhnt?
Ich war mit meinen Leistungen nicht zufrieden. Und mit Heynckes kam es noch schlimmer. Einmal brachte ich 74,2 Kilo auf die Waage und er forderte, dass ich bis zum nächsten Spiel zwei Kilo abnehmen müsste. Am Freitag wog er mich erneut, ich hatte immer noch 600 Gramm zu viel. Heynckes‘ Kopf lief rot an, er verdonnerte mich zu einer Geldstrafe von 100 Mark pro 100 Gramm.
Gaben Sie ihm da den Kosenamen Osram?
Nein, den hatte er längst weg. Allerdings war das eine interne Sache. Ich war nur wieder der Dumme, dem das neben einem Journalisten rausgerutscht ist. Ich sah seinen hochroten Kopf aus der Ferne und sagte mehr zu mir selbst: „Der glüht ja wieder wie ‚ne Osram-Birne.“ Am nächsten Tag stand es in der Zeitung.
Wie hat Heynckes reagiert?
Gar nicht, wie immer. Das hat mich wahnsinnig gemacht.
Eigentlich hätten Sie und der extrovertierte Günter Netzer, der Sie 1983 nach Hamburg holte, doch gut harmonieren müssen. Wieso gerieten Sie mit dem HSV-Manager so häufig aneinander?
Mich störte seine herrische Art. Einmal kickte er in einem Trainingsspielchen mit. Er nahm das richtig ernst und forderte jeden Pass. Als er mir einen Ball schlecht zuspielte, platzte es aus mir heraus: „Nun spiel mal richtig ab, du Arsch!“ Im selben Moment zuckte ich zusammen und entschuldigte mich. Doch zu spät. Netzer bestellte mich auf sein Zimmer und machte mich zur Schnecke.
Was sagte er?
Er schrie: „Du bist ein Nichts! Bald bist du eh weg!“ Mir wurde richtig schlecht, so war ich noch nie runtergemacht worden. Ich war doch damals noch ein halbes Kind, 21 Jahre alt.
Hat es Ihnen denn geschmeichelt, dass Netzer Sie verpflichtete? Immerhin war der HSV 1983 der beste Klub Europas.
Natürlich, ich freute mich wahnsinnig. Doch ich kam zu einem schlechten Zeitpunkt. Die Mannschaft war überaltert. Wir schieden früh im DFB-Pokal und aus dem Landesmeistercup aus, wir verloren außerdem den Supercup und in Tokio das Spiel um den Weltpokal. Was für ein beschissener Start.
Ihr persönlicher Einstand verlief ebenfalls alles andere als traumhaft. Zu Beginn der Saison spuckten Sie Düsseldorfs Peter Löhr an.
Auch wenn Löhr ein übler Treter war, wollte ich den nicht anspucken – ich wollte nur ausspucken. Doch just in dem Moment lief er auf mich zu, und ich traf ihn. Ich bekam acht Wochen Sperre. Eine schlimme Phase.
Zumal Sie in der Hinserie ohne ein einziges Tor blieben. Wie sehr nagte die Angst des Versagens?
Sehr. Ich hatte vor der Saison noch großspurig mit der „Bild“-Zeitung gewettet, dass ich mindestens zehn Tore für den HSV machen würde. In der Rückrunde traf ich immerhin noch sieben Mal.
Lösten Sie Ihre Wettschulden ein?
Klar, ich musste barfuß durch Ahrensburg (Vorort von Hamburg, d. Red.) laufen.
Ernst Happel haben Sie mal als den besten Trainer Ihrer Karriere bezeichnet. Er hat Sie hingegen als „Parasit“ oder „Arsch“ beschimpft. Das klingt nach einer einseitigen Liebe.
Seine Beleidigungen durfte man nicht ernst nehmen. Happel hat viele Spieler niedergemacht. Doch als Trainer war er klasse. Er zeigte uns Übungen, die für mich neu waren. Und das Beste: Sie machten Spaß!
Stimmt es denn, dass Sie in zwei Jahren nicht mehr als zehn Sätze gewechselt haben?
Totaler Quatsch. Der Alte und ich haben uns jeden Freitag getroffen und Klammern gespielt. Er trank dazu seinen Scotch auf Eis, und wir rauchten gemeinsam. Das ging zwei Jahre so. Erst im letzten halben Jahr verhärteten sich die Fronten.
Er verbannte Sie eines Tages wegen Disziplinlosigkeit vom Training und schickte Sie für zwei Wochen auf die Aschenbahn. Wie kamen Sie damit zurecht?
Ich begegnete dem anfangs mit Ironie, einem Journalisten sagte ich, dass ich für den New York Marathon trainiere. Das verstanden die anderen natürlich wieder als Provokation. In Wahrheit ging es mir richtig mies. Jeden Morgen dachte ich, scheiße, wieder laufen. Und abends war mir zum Heulen zumute.
Haben Sie sich missverstanden gefühlt?
Ich habe beim HSV gewiss nicht immer gut gespielt, doch auch nicht durchweg schlecht. In der Saison 1983/84 schoss ich den HSV mit einem Tor gegen Schalke am letzten Spieltag noch in den UEFA-Cup.
Die Fans haben Sie geliebt. Ein Fan sprayte mal den Satz „Wutti, wir brauchen dich!“ auf eine Wand. Hat Sie das nicht wehmütig gemacht?
Es gab ja auch mal einen Westkurven-Boykott. Die Fans versperrten die Zugänge zu den Blöcken, weil Happel mich nicht einsetzte. Doch er konnte und wollte nicht zurückrudern. Und letztendlich war es mein Glück, denn ich wechselte nach Kaiserslautern und hatte dort meine beste Zeit.
Für den FCK schossen Sie in Ihrer ersten kompletten Saison 14 Tore. Was machte denn Trainer Hannes Bongartz besser als Happel und Netzer?
Er ließ mir Freiheiten hinter den Spitzen und faltete mich nicht sofort zusammen, wenn ich mal keine Abwehrarbeit machte. Ich konnte mich auf alles konzentrieren, was mir im Fußball Spaß machte: Freistöße, Ecken, Flanken, Pässe, Schießen.
Sie sind in Kaiserslautern zum Nationalspieler geworden. Bis zum Karriereende haben Sie allerdings nur vier Länderspiele gemacht. Wieso?
Kommen Sie mir jetzt nicht mit verschenktes Talent. Ich weiß, dass ich ein paar Spiele mehr hätte machen können, wenn ich diplomatischer gewesen wäre. Es ist müßig, darüber nachzudenken. Außerdem war damals die Konkurrenz mit Pierre Littbarski, Thomas Häßler und Olaf Thon sehr groß. Immerhin habe ich vier gute Spiele gemacht. Andere machen 50 Länderspiele, und davon sind 49 schlecht. Das habe ich dem Netzer auch mal gesagt.
1988 waren Sie Teil der Olympia-Elf, die in Seoul die Bronzemedaille geholt hat. Wie wichtig war diese Erfahrung?
Mein bestes Fußballerlebnis! Wir hatten sogar kurz zuvor die A‑Nationalelf besiegt und waren eine eingeschworene Truppe. Mit Jürgen Klinsmann, Frank Mill oder Fritz Walter kam ich richtig gut aus. Dem Fritz habe ich einmal Traumasalbe in die Unterhose geschmiert.
Ein Scherz?
Ein brennender Scherz. (Lacht.) Was ich sagen will: Bei diesem Turnier fand ich endlich mal Gleichgesinnte. Diese Medaille ist für mich auch deshalb der größte Erfolg meiner Karriere.
Zurück in Kaiserslautern wurde ein Weinfest zu Ihrem Verhängnis.
Ich wohnte zu der Zeit im pfälzischen Bad Dürkheim, wo einmal im Jahr das größte Weinfest der Welt stattfindet. Für mich war es selbstverständlich, dort mal vorbeizuschauen, zumal ich in jener Woche an einer Leistenzerrung laborierte. Doch ich wurde tags darauf vom Trainer zur Rede gestellt und versuchte mich mit einer Notlüge rauszuretten. Ich sagte, dass ich prinzipiell nicht auf Weinfeste gehe, ich sei ja schließlich Biertrinker. Dumm nur, dass Hans-Günter Neues, Fanbeauftragter beim FCK, mich dort gesehen hatte. Ich bekam eine Geldstrafe von 5000 Mark.
Ihr Name war in Deutschland ziemlich ramponiert. War das auch ein Grund für den Wechsel ins Ausland?
Das Ausland war immer ein Traum von mir. 1988 hatte es bereits Gespräche mit Olympiakos Piräus gegeben. Ich unterschrieb am Tag des EM-Endspiels in München einen Vorvertrag. Präsident Georgios Koskotas schenkte mir danach seinen goldenen Cartier-Füllfederhalter, der 2000 Mark wert war. Mensch, Wutti, hier bist du richtig, dachte ich noch. Ich informierte prompt die FCK-Verantwortlichen.
Die glaubten Ihnen aber nicht.
Sie hatten erfahren, dass Lajos Detari anstelle von mir zu Olympiakos wechseln sollte. Ich merkte, dass Koskotas ein Blender ist, doch nun galt ich als der Depp von der Pfalz. Selbst unser Präsident glaubte mir nicht. Er fragte: „Mit wem hast du denn gesprochen, Wutti? Mit ‚nem Gyroshändler?“
Immerhin wechselten Sie wenig später zu Espanyol Barcelona nach Spanien.
Die spanische Liga war ein anderes Kaliber als Griechenland. Besonders die Spiele gegen den FC Barcelona waren toll, auch wenn wir immer verloren. Die waren mit Michael Laudrup, Andoni Zubizarreta oder Christo Stoitschkow damals schon so gut besetzt, dass ich in den Derbys nur in zwei Situationen an den Ball kam – bei Ecken und Freistößen.
Sie beendeten 1992 Ihre Karriere beim 1. FC Saarbrücken. Am Ende konnten Sie sogar Lobeshymnen in der Presse auf sich lesen.
Sie spielen auf die Geschichte nach dem Spiel gegen Dortmund an. Wir gewannen 3:1, und ich machte ein super Spiel. Als ich danach ein Interview gab, sackte neben mir ein Mann zusammen. Ein Herzinfarkt. Er lag auf dem Rücken und erbrach sich. Ich drehte ihn also zur Seite, damit er nicht erstickte. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: „Erst Fußballheld, dann Lebensretter.“ Ich musste lächeln: Am Ende meiner Fußballlaufbahn meinten es die Journalisten endlich mal gut mit mir.
Wolfram Wuttke, Sie haben mal gesagt, dass Ihre Biografie „Das verdammte Fußballleben des Wolfgang Wuttke“ heißen wird.
Wann erscheint sie denn endlich?
Nie!
Warum nicht?
Vor einigen Jahren sah ich im Supermarkt auf einem Grabbeltisch den Schinken von Stefan Effenberg für 4,95 Euro liegen. Ich dachte nur: Ein Glück hast du dein Buch nie geschrieben. Auf so einem Tisch hätte ich nicht landen wollen.
Genug zu erzählen hätten Sie aber.
Ach, die Leute interessiert doch eh nur, wer wie oft im Puff war oder ob ich dem Dietrich Weise damals ins Bett gepinkelt habe. Das ist mir zu anstrengend.
Die Geschichte mit Weise wurde so häufig erzählt. Warum haben Sie das nie richtiggestellt?
Ich sage Ihnen mal was: Der Weise war ein ganz spezieller Typ, der holte beim Training seine uralten DDR-Methoden raus und achtete tunlichst darauf, dass wir keine Cola trinken. Einmal sahen Matthias Hönerbach und ich, dass seine Tür offen steht, wir füllten einen Putzeimer mit Wasser und schlichen in sein Zimmer. Dann kippten wir es in sein Bett. Ein dummer Jungenstreich, mehr nicht.