Heute wäre Helmut Haller 80 Jahre alt geworden. Er war nicht nur ein großer Nationalspieler und Italien-Legionär, sondern auch der vielleicht erste Popstar des deutschen Fußballs.
Uwe Seeler hatte noch abgelehnt. Mehr als eine Million D‑Mark klingelten als Angebot in den Ohren des Hamburgers, der AC Mailand wollte sich die Dienste des deutschen Nationalspielers mit einem Anfang der sechziger Jahre geradezu perversen Angebot erkaufen. Doch Seeler, von Nationaltrainer Sepp Herberger, von alten Freunden, ja selbst von einem Hamburger Geistlichen auf seine moralische Verpflichtung hingewiesen, blieb beim HSV. Und setzte ein Zeichen. Das war 1961.
Ein Jahr später erhielt ein anderer Nationalspieler Besuch von schick gekleideten italienischen Vereinsfunktionären. Sie kamen vom FC Bologna, das Ziel ihrer Begierde hieß Helmut Haller. Ein blonder, ziemlich kompakter Mittelfeldmann vom BC Augsburg. Sie lockten mit sehr viel Geld, sehr viel Ruhm und noch mehr Ehre. Sie versprachen Helmut Haller aus Augsburg das Abenteuer seines Lebens. Helmut Haller setzte ein Zeichen. Er unterschrieb beim FC Bologna. In einem Wäschesack transportierte Hallers Vater die 300.000 D‑Mark Handgeld über den Brenner zurück in die Heimat.
Die Männer nannten ihn „Goldjungen“, die Frauen „Blondchen“
Haller war nicht der erste deutsche Fußballer, der Glück und Geld in Italien suchte. Die Pioniere hießen Ludwig Janda, Horst Buhtz und Horst Szymaniak. Aber keiner von ihnen war so berühmt und beliebt, wie es der Blonde aus Augsburg werden sollte. Weil er so begnadet den Ball streicheln konnte, nannten ihn die italienischen Männer schnell „il Ragazzo d´Oro“, den Goldjungen. Und weil er so knuffig aussah, so sympathisch daherkam und so gar nicht ins öffentliche Bild des uniformierten deutschen Strammstehers passte, hatten auch die Frauen Italiens bald einen Kosenamen für ihn: „il Biondino“, das Blondchen. Spätestens, als Haller Bologna zur Meisterschaft 1964 führte und ein Jahr später von Papst Paul VI („Wir freuen uns, doch vom Fußball verstehen wir nichts. Wir wissen nur, dass es beim Fußball einen Torwart gibt!“) empfangen wurde, war Haller nicht mehr nur Goldjunge und Blondchen, da war Helmut Haller ein deutscher Fußball-Popstar.
Seinen Landsleute war das nicht ganz geheuer. Stark irritiert berichtete die in Sachen Popstar doch eigentlich recht bewanderte „Bild“-Zeitung im November 1966 von der 17-jährigen Myra Archer aus London, die sich nicht etwa unsterblich in die Beatles, sondern in Helmut Haller verknallt hatte. „Ich liebe ihn, ich möchte ihn heiraten“, verkündete der Teenager, der nach eigenen Angaben „schon mindestens vierzigmal“ den WM-1966-Film „Goal“ gesehen hatte. Irgendwie unheimlich dieser Haller. Dass er nach dem verlorenen Finale gegen England den Spielball geklaut hatte, machte diesen Kicker auch nicht deutscher.
1973 kehrte Haller zurück. Mit zwei weiteren italienischen Meistertiteln für Juventus Turin im Gepäck. Heldenstatus in der Serie A inklusive. Sein Wechsel von Bologna nach Turin hatte die Juventus-Verantwortlichen 1968 drei Millionen D‑Mark gekostet. Haller war inzwischen 33 Jahre alt, er wollte noch ein wenig Fußball spielen. Er unterschrieb einen Vertrag bei seinem Heimatklub, der inzwischen FC Augsburg hieß. In der damals zweitklassigen Regionalliga Süd. So wird man zur Legende.
Kinder schlugen sich für seine Autogramme die Nasen ein
In Deutschland waren sie jetzt auch so weit, um die Strahlkraft eines Superstars zu begreifen. Unglaubliche 80.000 Zuschauer strömten zum Regionalligaspiel zwischen 1860 München und Augsburg während der Saison 1973/74. Natürlich nur, um Helmut Haller zaubern zu sehen. Auf den Rängen sangen sie bald das passende Lied für den Heilsbringer: „Haller-Haller-Hallerluja“. Bei einem Kinderfest in Göggingen nahe Augsburg eskalierte im Oktober 1973 die Situation, Haller musste von vier Polizisten in Sicherheit gebracht werden, zurück blieb ein Haufen Halbstarker, die sich um die Haller-Autogramme die Nasen eindellten.
Doch Haller, das Genie, war einfach nicht mehr hungrig genug. Jedenfalls auf dem Fußballplatz. Er hatte einfach schon zu viel gewonnen. Hatte er es nicht mehr als jeder andere verdient in den gemütlichen Vorruhestand zu gleiten, ein paar Geniestreiche auf 90 Minuten zu verteilen und die Kilometerfresserei dem Nachwuchs zu überlassen? Aber die Deutschen haben es nicht so mit ihren Idolen. Wer er nicht mehr rennt und siegt und grätscht und Pokale stemmt, der bekommt sein Fehlverhalten früher aufs Brot geschmiert, als ihm lieb ist. Dann werden aus Wimbledon-Siegern Wäschekammer-Trottel, aus Weltfußballern „ein Loddar Matthäus“, aus Helmut Haller ein vollgefressener Standfußballer, „den sie schon in Italien ›Prosciutto rosso‹ nannten – roter Schinken“ („Welt am Sonntag“, 18. August 1974).
Die Krankheit ließ ihn seine Karriere vergessen
1979, mit fast 40 Jahren, beendete Helmut Haller seine Laufbahn als aktiver Fußballer. Er war längst nicht mehr der Fußballer, der er zehn Jahre zuvor gewesen war. Vor allem aber war er es leid, sich in den Zeitungen, die ihn früher als Nationalhelden abgefeiert hatten, gegen den Ruf des „Zirkuspferds“ und „Weißbier-Königs von Augsburg“ zu wehren.
Haller wurde Privatier, Geld hatte er genug verdient. Eine kluge Wahl. So lässt es sich in Würde altern. Wenn da nicht das Leben wäre. 2006 erlitt er einen Herzinfarkt, später wurde er dement und bekam Parkinson. Die Krankheit zerfrass sein Gehirn. Helmut Haller vergaß seine Karriere. Seine ersten Tore für den BC Augsburg, seine Jahre in Italien, seine Weltmeisterschaften. Sein Leben als Popstar. Sein Talent.
Am 11. Oktober 2012 starb Helmut Haller mit 73 Jahren in seiner Heimatstadt Augsburg. Für seine Fans bleibt er unvergessen.