Gestern startete auch die spanische Liga in die neue Spielzeit. Gleichzeitig wartet das ganze Land noch immer auf Neymar. Und stellt sich noch eine weitere große Frage: Wann findet Real endlich einen neuen Widersacher für Lionel Messi?
Wenn der Chef selbst zum Telefon greift, darf die Angelegenheit als höchst dringlich gewertet werden. Da verhält es sich bei Transfers von Fußballspielern nicht anders als im herkömmlichen Berufsleben. Ein solcher Anruf von oberster Stelle erreichte laut der spanischen Sportzeitung „Marca“ jüngst den Angreifer Neymar, der in Paris gerade hart an seinem Markenprofil als enfant terrible des Weltfußballs arbeitet. Am anderen Ende war ein hochrangiger Vertreter des FC Barcelona. Nicht etwa Präsident Josep Bartomeu oder Finanzchef Javier Faus, sondern Lionel Messi höchstpersönlich. Wer die Gemengelage beim spanischen Meister kennt, der weiß, dass das Wort des Kapitäns mehr Gewicht hat als das aller Vereinsoffiziellen.
Auch ohne Neymar: Barcelona ist der Favorit
Messi sah sich zu diesem Schritt gezwungen, schließlich waren in den Tagen zuvor verstärkt Meldungen aufgekommen, wonach auch Real Madrid gesteigertes Interesse an Neymar besäße und die Bemühungen nun intensivieren wolle. Um einen Wechsel des Brasilianers zu Barças Erzrivalen zu verhindern, klingelte Messi also lieber durch beim alten Kumpan, mit dem er 2015 zum bislang letzten Mal die Champions League gewonnen hatte. Anschließend reiste eine offizielle Delegation um Sport-Geschäftsführer Eric Abidal zu Verhandlungen nach Paris.
In Barcelona soll vor allem Messi davon überzeugt sein, dass es trotz aller Luxusoffensivkräfte Neymar bedarf, um die Champions League erneut zu gewinnen. Das schmerzliche Aus gegen Liverpool ist noch nicht vergessen. Bei Real Madrid würde man die vergangenen Spielzeit noch sehnlicher aus dem Gedächtnis streichen, Neymar soll den Zement beim Bau einer erfolgreicheren Zukunft geben.
Die Frage, für welches der beiden spanischen Schwergewichte Neymar in Zukunft seine Dribblings aufführen wird, gehört zu den spannendsten vor dieser Spielzeit in der Primera Division, die gestern mit dem Gastspiel von Meister FC Barcelona bei Athletic Bilbao begann. Auf dem Transfermarkt liefern sich Real und Barcelona ein gleichwertiges Duell, auf dem Rasen gelten die Katalanen als deutlicher Favorit.
Wer wird der neue Ronaldo?
In Person von Antoine Griezmann und Frenkie de Jong konnte der Meister zwei spektakuläre Zugänge verbuchen, Kostenpunkt für beide: knapp 200 Millionen Euro. Real hält mit Eden Hazard, Luka Jovic und Eder Militao dagegen, doch während der Vorbereitung holperte es noch gewaltig. Unter anderem gab es ein 3:7 gegen Atletico. Erinnerungen an die vergangene Saison, in der Real drei Mal den Trainer wechselte und am Ende nur Dritter wurde, kamen auf. Zinedine Zidane hat zwar nun wieder das Sagen, aber Besserung ist auch unter ihm nicht in Sicht.
Der von Zidane für so notwendig befundene Umbruch lässt sich kaum realisieren, auch weil Präsident Perez oft andere Interessen in Sachen Zugänge verfolgt. Auf Hazard oder Jovic konnte man sich einigen, was die Nachfolge des vor einem Jahr abgewanderten Cristiano Ronaldo angeht, nicht. Zidane hätte liebend gern seinen französischen Landsmann Kylian M’bappe, Perez tendiert stark zu Neymar. Um den zu verpflichten, wäre Real angeblich bereit Weltfußballer Luka Modric plus 120 Millionen Euro nach Paris zu schicken. Fürs Mittelfeld soll es nach Zidanes Gutdünken Paul Pogba von Manchester United sein, Perez sieht die Personalie als weit weniger dringlich an, ein Wechsel wird immer unwahrscheinlicher.
Und dann ist da noch die Posse um Gareth Bale, den der Präsident einst zum neuen Ronaldo aufbauen wollte und den Zidane am liebsten zum Teufel jagen würde. Ein Transfer des Walisers nach China scheiterte, aus Europa gibt es kaum Interessenten. Bale sieht nur bedingt die Notwendigkeit eines Ortswechsels, auch weil es sich in Madrid ganz hervorragend Golf spielen lässt. Eine der großen Leidenschaften des oft verletzten Angreifers. Sein üppiges Gehalt, das dem Vernehmen nach um die 15 Millionen Euro pro Jahr liegen soll, würde er auch von der Tribüne aus verdienen.
Trotz aller Probleme: Real zählt neben Barcelona und Atletico traditionell zu den Favoriten. Dass ein Überraschungsteam in die Phalanx der großen Drei einbrechen kann, gilt als unwahrscheinlich. Von den Aufsteigern Osasuna, Granada oder Mallorca kommt niemand infrage, auch im Mittelfeld der Liga, wo die Klubs aus Sevilla zuletzt Ambitionen anmeldeten, gab es wenig Bewegung. Ohnehin ist es seit der Ligagründung 1928 nur sechs anderen Klubs neben Barça, Real und Atletico gelungen, die Meisterschaft zu gewinnen (Atletic Bilbao, FC Valencia, Real Sociedad, Deportivo La Coruna, Betis Sevilla, FC Sevilla). Valencia könnte am ehesten noch Ansprüche anmelden, aber dort verlor man im Sommer einige Eckpfeiler des Teams.
La Liga sucht ein neues Gesicht
Am größten fielen die personellen Veränderungen bei Atletico aus. Der Klub befindet sich nach den Abgängen vieler Leistungsträger (Griezmann, Godin, Filipe Luis, Lucas Hernandez, Rodri, Juanfran) im Umbruch. Auch wenn die neue Mannschaft sehr viel Qualität verspricht, könnten Abläufe auf dem Feld zu Saisonbeginn noch nicht so reibungslos funktionieren wie in der Vergangenheit. Die Hoffnungen ruhen neben Rodrigo nun vor allem auf Rekordeinkauf Joao Felix, dem extrem talentierten Portugiesen, der für 126 Millionen Euro von Benfica Lissabon kam und damit der teuerste Zugang in Spanien ist. Dass der europaweit umworbene 19-Jährige sich für Atletico entschied, spricht für das Ansehen, das sich der Klub unter Trainer Diego Simeone in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Während der Vorbereitung ließ Felix bereits erkennen, dass er in absehbarer Zeit das Gesicht der Liga werden könnte.
Ein solches braucht La Liga dringend. Nach Ronaldos Abschied fehlt es Lionel Messi an einem gleichwertigen Gegenpart. Das Duell Ronaldo gegen Messi hatte Spanien fast ein Jahrzehnt lang elektrisiert.
Neymar würde dieses Vakuum nur zu gern füllen und auch der Primera Division würde der Angreifer trotz aller Skandale zumindest mehr Aufmerksamkeit generieren, vor allem im globalen Wettbewerb mit der englischen Premier League. Der war es in der vergangenen Saison gelungen, alle vier Finalisten der beiden Europapokal-Wettbewerbe zu stellen. Erstmals seit 2013 ging kein Cup nach Spanien. Das zu ändern soll Neymar helfen. Ob nun beim FC Barcelona oder bei Real Madrid.