Start einer neuen Serie: 11FREUNDE-Redakteure stellen ihr liebstes YouTube-Video vor. Diesmal: Große Emotionen. Und Jerzy Dudek.
Erinnerungen sind Gemälde im Kopf. Und wie ein Künstler basteln wir immer wieder daran herum, tauschen den Rahmen aus und arbeiten mit Deckweiß. Was dazu führt, dass unser Gedächtnis ein trügerischer Teufel ist. Das musste schon Donald Thompson feststellen, ein amerikanischer Gedächtsnisforscher, der 1975 fälschlicherweise einer Vergewaltigung bezichtigt wurde, weil das Opfer kurz vor der Tat ein Fernsehinterview von ihm und ausgerechnet über Gedächtnisverzerrung gesehen hatte. Die nachfolgenden Ereignisse wurden im Kopf verdreht. Und auch wenn das natürlich ein besonders übles Beispiel ist, unseren Erinnerungen sollten wir nicht vertrauen.
Ein Glück, dass es heute YouTube gibt.
Eine Plattform, die, das ist nach 15 Jahren Existenz klar, historische Momente schaffen kann. Und gleichzeitig offen für jeden audiovisuellen Müll ist. Beweis genug ist das allererste Video, das jemals hochgeladen wurde. Dort steht YouTube-Gründer Jawed Karim 18 Sekunden vor einem Elefantengehege und sagt: „Das Coole an diesen Burschen ist, dass sie so lange Rüssel haben. Das macht sie so cool.” Das Video „Me at the Zoo” ist trivial. Und große Kunst. Oder wie es der allererste YouTube-Kommentar unter dem allerersten Video ausdrückt: „Interesting…”.
Seitdem ist viel geschehen. Ronaldinho hat einen goldenen Schuh ausgepackt und den Ball endlos oft gegen eine Torlatte gezimmert. Domian unterhielt sich über Mett. Die Pokémon-Titelmusik war mit 4,3 Millionen Aufrufen für kurze Zeit das mistgesehene Video. Irgendwann übernahmen Beauty-Channels, Do-It-Yourself-Videos, Let’s Plays und der Kommerz den Laden. Nur eine Sache blieb: Räudige Fußballzusammenschnitte.
Mein Lieblings-YouTube-Video ist den meisten unbekannt. 135.000 Aufrufe hatte es bisher – und das seit seinem Erscheinen im Jahr 2008. Und doch, es ist ganz großartig. Weil es heute wirkt, als wäre dieses Werk gänzlich aus der Zeit gefallen. Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass der Nutzer „Elkilo” an einem verregneten Nachmittag seine vorhandenen und ganz sicher nicht legal heruntergeladenen Videoschnipsel neu sortiert, den Soundtrack von „The Rock” unterlegt und bei Windows Movie Maker auf „Ausspielen” gedrückt hat. Das Ergebnis: Genial.
Mit großen Gesten hat „Elkilo” jedenfalls nicht gespart. Mit abgehangenen Zitaten auch nicht. „Many people do not know how important Football is for us.” Urheber? Keine Angabe. Vielleicht „Elkilo” selbst. Dann folgt schon das nächste Bild: Der jubelnde Kaka im Unterhemd: „I belong to Jesus”. Das ist die Duftmarke. Das Video droht sich in Aneinanderreihungen von Emotionen und Hahnenkämpfen zu verlieren. Wäre da nicht der Schnitt nach zwei Minuten.
Andrij Shevchenko nimmt sich im Champions-League-Finale 2005 den Ball zum Elfmeter. Im Tor: der zappelnde Jerzy Dudek. Er springt in die linke Ecke, Shevchenko aber zielt in die Mitte, Dudek reißt seinen Arm nach hinten, wehrt ab! „Liverpool”, tönt es aus dem Off, „are Champions of Europe again.” Und dann beginnt das Video.
Es ist eine Abfolge der größten Momente zwischen 1998 und 2008. Solksjear, der in letzter Sekunde gegen die Bayern trifft. Bergkamp gegen Argentinien. Grosso gegen Deutschland. Trezeguet 2000 und Charisteas 2004. Unterlegt mit den Kommentatoren in Landessprache, das macht es so besonders, weil sie in diesen Momenten jede journalistische Distanz vergessen und zu Fans werden. Wer nicht versteht, was Fußball hervorrufen kann, sollte sich diese 80 Sekunden ansehen. Wer es sich oft genug ansieht, kann jeden einzelnen Satz mitsprechen.
In diesen Sekunden konzentriert sich eine fußballerische Dekade, die nicht den Style der 70er, die Härte der 80er und nicht die asoziale Verrücktheit der 90er besitzt. Und doch ist es Kunst. Im Gegensatz zum Gedächtnis, das uns mitunter Streiche spielt, bilden Videos die Realität ab. Cristiano Ronaldo mit Übersteigern an der Seitenlinie, Heribert Fandel an der Pfeife, Zinedine Zidane des Platzes verwiesen neben dem WM-Pokal.
Hinzu kommen die Erinnerungen, wo wir zu diesem Zeitpunkt waren, was wir rochen und sahen. Baggyjeans und Bier. Abitur. Unbeschwerte Zeit. Zusammen bilden sie das Zeugnis einer Zeit, in der sich Jugendliche die Tonspur des Videos mit einem YouTube-Downloader auf einen MP3-Player gezogen haben. Ein Gerät, nicht größer als ein USB-Stick, mit neonblauem Licht und 256MB Speicherkapazität. Gerade genug, um, wenn man mit dem Fahrrad zum Training fuhr, Jack van Gelder zu lauschen: „Dennis Bergkamp neemt de Ball an. Dennis Bergkamp! Dennis Berg-kamp! Aaaaaaah!”
Was gleichzeitig auch eine Aufgabe ist, denn „Elkilo” hatte es für eine gute Idee gehalten, dem achtzigsekündigen Finale noch weitere vier Minuten anzuhängen. Und bis zum Ende „OneRepublic” abzuspielen. Was das Video nahezu unerträglich werden lässt.
Aber auch das ist kein Problem: In jeder einzelnen Minute werden über YouTube 400 Stunden Videomaterial hochgeladen. Es gibt also genug zu sehen: Alle 65 Freistoßtore von David Beckham, die fünf schönsten Premier-League-Tore von Dennis Bergkamp, Skills and Goals von Markus Schupp. Es wäre eine Tragödie, sollten jemals die Datenträger dieses Konzerns formatiert werden.
Um „More than just a Game // Elkilo (2008)” müsste sich aber niemand sorgen. Ich habe mehrere Sicherungskopien angelegt. Eine liegt auf meinem MP3-Player.