Ernst Happel liebte den Fußball und das Leben. Ein Hasardeur, der mit einem revolutionären Offensivstil zahllose Titel gewann. Heute wäre die Trainerikone 95 Jahre alt geworden.
Im Büro von Dietmar Beiersdorfer im Volksparkstadion hängt ein riesiges Foto, auf dem die Europacupsieger von 1983 in Zivil über den Rasen schlendern. Hieronymus trägt ein Hawaiihemd, Hrubesch eine Stoffhose mit Discogürtel, Felix Magath linst schelmisch durch die Gläser einer Hornbrille. Ein Bild, das das Selbstbewusstsein dieser Elf, das Glück dieser Zeit, auf magische Weise einfängt. Beiersdorfer schaut auf ein Foto von Happel, auf dem der Alte ein T‑Shirt mit der Aufschrift „No Problem!“ trägt. Der Vorstandschef des HSV kam 1986 zum Probetraining nach Hamburg. Beim Betrachten des Bildes erwacht in ihm das schwärmerische Jungtalent: „Er hatte ein unglaubliches Charisma. Er strahlte diese totale Unabhängigkeit aus, die uns Spielern signalisierte: Es kann kommen, was will. Euch kann nix passieren.“
Beiersdorfer bezieht 1986 ein Apartment im Dachgeschoss eines Hauses im Lütjenmoor 44 in Norderstedt, wo Happel im Erdgeschoss wohnt. Obwohl sie Nachbarn sind, gibt es kaum privaten Kontakt. Erst als Beiersdorfer einen neuen Vertrag unterschreiben soll und mit den Konditionen unzufrieden ist, klingelt er beim Trainer und fragt um Rat. Der Fernseher läuft, der Grantler liegt auf dem Sofa, auf dem Tisch Zettel mit taktischen Aufzeichnungen. Als Beiersdorfer sein Anliegen geschildert hat, schweigt Happel lange, dann sagt er: „Ich kann dir nicht sagen, was du machen sollst. Ich kann dir nur raten: Wenn du von etwas überzeugt bist, musst du deinen Weg gehen!“ Beiersdorfer nimmt es sich zu Herzen – und bekommt die geforderte Gehaltsanpassung. Ist Ernst Happel der größte Trainer in der Geschichte des HSV? „Ich sehe keinen, der an ihn heranreichen könnte“, sagt Didi Beiersdorfer.
Damals ist Ernst Happel bereits an Krebs erkrankt. Die Krankheit, die er lange als Virus abgetan hat, zehrt an ihm. Vom Rauchen kann er dennoch nicht lassen. Unter 30 Belga-Zigaretten am Tag macht er es nicht. „Der Arzt kann mir das nicht verbieten. Mein Glück ist, dass ich immer unter jungen Leuten bin“, beschwichtigt er, „und in der frischen Luft. Würde ich sitzen in einem Kontor – wie der Netzer – und würde so viel rauchen, ginge ich kaputt.“ Doch er geht kaputt. Das Eingeständnis erfolgt wie so oft bei ihm: lautlos. Er kehrt in seine Heimat zurück und übernimmt den FC Tirol.
„Genießen, das ist ein Wort!“
Ganz Österreich feiert die Heimkehr des Trainerfürsten, der sich nach 26 Jahren in der Beletage des Fußballs in die Niederungen der österreichischen Liga zurückzieht, um der darbenden Alpenrepublik Starthilfe zu geben. Er stählt die Spieler wie eh und je, streicht Urlaub, lässt auch im Hochsommer mit langen Hosen trainieren. Als Peter Pacult fragt, warum das nötig sei, grunzt Happel: „Weil’s so is!“ Obwohl er mit dem Klub zwei Mal Meister wird – es sind der 17. und 18. Titel in seiner Trainerlaufbahn – weiß er doch, dass seine Zeit als international erfolgreicher Coach vorbei ist.
Im März 1990 unterliegt sein Team bei Real Madrid mit 1:9 – die höchste Niederlage seiner Karriere. Eine Woche lang schweigt er sich über die Schmach aus. Erst dann kommt es zu einem zweistündigen Donnerwetter. Sechs Spieler werden auf die Tribüne verbannt. Torwart Klaus Lindenberger kann sich einen neuen Verein suchen. Die Freiheit, die Happel stets auf seine Spieler ausgestrahlt hat, hat auch eine dunkle Seite. Einem Reporter gesteht er, wie Niederlagen an ihm nagen: „Genießen, das ist ein Wort! Sehr schwer für einen Trainer, der auf der Bank sitzt.“
Als er nach einer 0:6‑Schlappe der österreichischen Nationalelf 1991 gegen Schweden gefragt wird, ob er dem ÖFB nicht helfen wolle, grantelt er: „Ich bin Patriot, aber kein Idiot.“ Da weiß er längst, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Als kurz darauf Walter Zeman stirbt, sagt er zu Freunden: „Ich bin der Nächste.“ Was interessiert ihn also sein Geschwätz von gestern? Happel ist schwer krank, und doch so frei wie eh und je. Wie in einem sentimentalen Film wird der beste Trainer, den Österreich je hervorgebracht hat, im Schlussakt Teamchef. Die Spieler sind stolz, von ihm berufen zu werden. Ein letztes Mal gelingt es dem Zauberer, ein Team neu aufzustellen und angeschlagenes Selbstbewusstsein zu kurieren.
Drei Wochen vor seinem Tod im November 1992 erlebt er einen 5:2‑Sieg seiner Elf gegen Israel auf der Bank des Wiener Praterstadions, das bald seinen Namen tragen wird. Er kann nicht lassen vom Fußball, der größten Liebe seines so reichhaltigen Lebens. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich eine Woche nicht zum Fußball gehe“, hat Ernst Happel gesagt. „Wenn das eine oder andere Spiel abgesagt wird, weiß ich gar nicht, was ich mit dem Tag beginnen soll. Das ist alles in Fleisch und Blut.“,
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Die Reportage „Zauberer“ erschien in 11FREUNDE #168. Ihr könnt sie weiterhin in unserem Shop oder im App-Store kaufen.