Ernst Happel liebte den Fußball und das Leben. Ein Hasardeur, der mit einem revolutionären Offensivstil zahllose Titel gewann. Heute wäre die Trainerikone 95 Jahre alt geworden.
Happel will konditionsstarke Athleten, die in der Lage sind, dem Gegner über die gesamte Spielzeit einen Stil aufzuzwingen. Wenn heute davon die Rede ist, dass eine Mannschaft „hoch steht“, dass „offensiv verteidigt“ wird und Roger Schmidt, der ehemalige Trainer von Bayer Leverkusen, einst forderte, seine Elf solle „jagen“, ist dies das Vermächtnis von Ernst Happel.
Bei Feyenoord Rotterdam lässt er ab 1968 einen Fußball spielen, der seiner Zeit um Jahre voraus ist. Das ganze Team ist in Bewegung, alle Akteure sind an Vor- und Rückwärtsbewegung beteiligt, so dass überall die Räume aufgehen. Die Abwehr steht kurz vor der Mittellinie, mancher Gegner kriegt regelrecht Platzangst, so eng wird es in der eigenen Hälfte. Und ständig schnappt die Abseitsfalle zu.
Für diesen Stil braucht er Leute, die sich bedingungslos seinen Ideen unterwerfen. Hierarchien innerhalb der Mannschaft sind ihm herzlich egal, solange die Spieler tun, was er von ihnen verlangt. Diese Erfahrung muss auch Franz Hasil machen, den Happel 1969 nach Rotterdam holt. Die physisch starken Holländer unterziehen den schmächtigen Operettenkicker aus Wien einer Spezialbehandlung. Abwehrchef Rinus Israel bricht Hasil beim Tackling im Training das Nasenbein. Als der sich beim Coach über die rüde Gangart beschwert, lässt Happel den Landsmann auflaufen: „Zauberer, i kann dir net helfen, des kannst nur allein. Lauf halt beim nächsten Mal schneller.“ Kein Jahr später gewinnt Feyenoord den Landesmeistercup und den Weltpokal. Hasil wird zum besten Legionär gewählt, der je in der Ehrendivision gespielt hat. Ein Verdienst von Ernst Happel? „Ja“, sagt Franz Hasil, „es war gut, dass er mir damals nicht entgegen gekommen ist. Er gab mir das Gefühl von Verbundenheit, aber ich musste mich ohne seine Hilfe durchsetzen.“
Happel eilt von Erfolg zu Erfolg. ADO Den Haag hat er zum Pokalsieger gemacht. Rotterdam verlässt er 1973 mit den Worten: „Mit zu viel Siegen geht die Disziplin zurück. Wir werden zu sehr Freunde.“ Den FC Sevilla führt er aus der zweiten Liga in einem Jahr fast auf einen UEFA-Cup-Rang. Aus dem belgischen Mittelklasseklub FC Brügge macht er ein Spitzenteam, das zwei Mal in Folge ins Europacupfinale vordringt. Der Wiener ist längst ein Weltbürger, der die landestypischen Einflüsse seiner Stationen absorbiert und mit seiner Spielphilosophie verschmelzen lässt. Kein Wunder, dass sich der niederländische Verband kurz vor der WM 1978 entschließt, ihn zum Bondscoach zu ernennen. Es fehlt nur ein Hauch, damit der „Wödmasta“ seinem Spitznamen gerecht wird. Die Elftal unterliegt Gastgeber Argentinien erst in der Verlängerung des Endspiels.
Happel ist über das Ergebnis und die Umgangsformen der Ausrichter so erzürnt, dass er die Pressekonferenz schwänzt und mitteilt, er habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Im Vorgriff auf Nachfragen ergänzt er: „Gerne reiche ich den Veranstaltern ein schriftliches Attest meiner Ärzte ein.“ Und als die niederländische Königin ihn tags drauf beim Empfang der Mannschaft im Palast warten lässt, nimmt er Prinz Willem Alexander beiseite und flüstert: „Wann kommt denn die Oma? Ich hab’ wenig Zeit, ich muss nach Velden ins Casino.“
Ab 1981 beschert er auch dem HSV die größte Ära seiner Geschichte. Der Kader, der von Branko Zebec mit teils ausuferndem Konditionstraining auf Vordermann gebracht worden ist, wundert sich über die kurzen, intensiven Einheiten, die Happel anordnet. Bei jeder Übung ist plötzlich der Ball mit im Spiel. Nach einer Stunde schickt der Alte das Team zum Duschen. Felix Magath glaubt, dass ein Geheimnis von Happels Erfolg auch in den knappen Ansprachen lag: „Meistens hat er gar nicht gesprochen. Und wenn, dann nur in einem Kauderwelsch, das so schwer zu verstehen war, dass wir uns sehr konzentrieren mussten, um alles mitzukriegen.“ Nach gut zwanzig Jahren im Ausland, hat der Coach sich einen kruden Slang aus wienerischen, niederländischen, flämischen und englischen Elementen angeeignet.
Hrubesch wird sein verlängerter Arm, sein „Cowboy“
Wenn Happel von „Kondizi“ spricht, davon, dass man „auf Hin und Her“ spielen wolle und Magath für den „Cornerball“ zuständig sei, muss sich jeder HSV-Spieler seinen eigenen Reim darauf machen. Die Abwehrreihe schiebt er einfach mal um 15 Meter nach vorne. Außenstürmer Bernd Wehmeyer, eine Pferdelunge, lobt er über Nacht zum linken Verteidiger aus. Im Spiel wird Horst Hrubesch sein verlängerter Arm, sein „Cowboy“, der bei Ballbesitz des Gegners plötzlich wie ein wilder Stier auf die Abwehr zuprescht und damit die Jagd eröffnet, an der sich minutenlang die gesamte Mannschaft beteiligt. Der HSV spielt Forechecking in Perfektion. Pressing. „Er ließ die Mannschaft so offensiv agieren, dass es den Spielern manchmal fast zu viel wurde“, erklärt Günter Netzer, „die waren es schlichtweg nicht gewohnt, so viele Torchancen zuzulassen.“ Ernst Happel bedeutet ein 6:5‑Sieg mehr als ein schnödes 1:0. Er sagt: „Ich lebe mit dem Risiko, ich liebe Risiko. Das ist mein Naturell!“
Dinge, die nur mittelbar mit dem Spiel zu haben, sind ihm lästig. Als er für seine Wohnung Einrichtung braucht, geht er in eine Buchhandlung am Neuen Wall, deutet auf ein Regal mit Schulbüchern und sagt: „I hätt gern an halben Meter von die Gelben und an halben von die Roten.“ Pressetermine sind ihm ein Graus. Auf Fragen antwortet er mit Einwortsätzen, vielfach nur mit Schweigen. Günter Netzer hält öfter mal den Atem an, weil ihn die beklemmende Stille fertigmacht. Nach dem letzten Spiel vor der Winterpause gibt Happel die kürzeste Pressekonferenz der Geschichte. Auf die Frage nach seiner Analyse antwortet er: „Ich wünsche allen Anwesenden gesegnete Feiertage. Auf Wiedersehen.“
Als nach dem Sieg im Europacup 1983 Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke, die damals begehrtesten Offensivspieler Deutschlands zum HSV wechseln, offenbart der Coach jedoch ein Defizit in seiner Teamführung. Seine Art zu kommunizieren dringt zu den allürenhaften Jungstars nicht durch. „Er wollte mündige Spieler, keine, denen er nachlaufen musste, um sie zu motivieren“, sagt Günter Netzer, „das war ihm offenbar zu dumm.“ Wuttke ist ein Begnadeter, aber ständig schlägt er über die Stränge. Schatzschneider fehlt es schlichtweg an Ehrgeiz. Der Stürmer ist als Nachfolger von Horst Hrubesch vorgesehen, das Talent hat er allemal, doch die Persönlichkeit, als verlängerter Arm des Trainers zu fungieren, besitzt er nicht. Mit Wuttke unterhält Happel zunächst noch eine Klabberjass-Runde, ein bisschen erkennt er sich wieder in dem Schlitzohr, das sich nicht einfangen lässt. Erst schimpft er ihn noch fröhlich „Zauberer“, bald abschätzig „Wurschtl“, irgendwann nur noch „Oarsch“.