Ernst Happel liebte den Fußball und das Leben. Ein Hasardeur, der mit einem revolutionären Offensivstil zahllose Titel gewann. Heute wäre die Trainerikone 95 Jahre alt geworden.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #168. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Es sind die kleinen Schwächen, die Legenden in der Rückschau erst überlebensgroß erscheinen lassen. Ernst Happel war bei Spielern nie bekannt dafür, dass er mehr als das Nötigste vor dem Spiel zu ihnen sprach. An diesem Tag jedoch hatte der Alte offenkundig einen Hänger. „Jakobs, du passt auf den …na, auf den … na den, na, wie heißt er …?“
Im Raum hielten alle den Atem an. Jedem war klar, dass der Coach niemand anderen als Klaus Allofs meinen konnte, den aktuell Führenden in der Torschützenliste, auf den Ditmar Jakobs im Spiel gegen den 1. FC Köln sein Augenmerk legen sollte. Doch kein Profi des Hamburger SV traute sich den Mund aufzumachen, bis Co-Trainer Aleksandar Ristic seinen Chef erlöste: „… na, deeen Aaaaloffs“. Die Spieler atmeten auf und Happel endete mit dem obligatorischen „Gehen’s raus und spielen’s seriös“, das der HSV-Kader damals noch als Befehl verstand. Die Partie in Müngersdorf entschieden die Hanseaten mit 4:1 für sich.
Im Karteikasten der Trainerfloskeln steht heutzutage ein Satz ganz vorne an: „Wir schauen nicht auf den Gegner, wir schauen nur auf uns.“ Doch angesichts der Hilflosigkeit, mit der selbst ambitionierte Bundesligisten versuchen, sich dem FC Bayern zur Wehr zu setzen, sind diese Worte freilich oft nur vorgetäuschtes Selbstbewusstsein, an das kaum ein Profi wirklich glaubt. Nun wäre es leicht, Happels Aussetzer auf das schlechte Namensgedächtnis des damals 58-Jährigen zurückzuführen.
„Ob ich gewinne, liegt ja an mir“
Doch die Anekdote aus der Kabine illustriert anschaulich, wie bedingungslos der Österreicher auf seine ureigene Idee von Fußball vertraute. Happel interessierte einfach nicht, wie gegnerische Spieler hießen. Wie am Pokertisch blickte er auch beim Fußball nur ins eigene Blatt und entwickelte eine Vorstellung, wie er das Spiel für sich entscheiden konnte. Und hatte er sich auf einen Weg festgelegt, ging er diesen mit aller Konsequenz zu Ende. Ohne Angst, ohne Zweifel. „Ob ich gewinne, liegt ja an mir“, sagte Happel einst über seine Leidenschaft fürs Kartenspiel, „und mache ich einen Fehler, ärgert’s mich.“ Diese Mentalität übertrug sich auf seine Teams, die fortan bemüht waren, jeden Fehler zu vermeiden. Nicht zuletzt, um den schweigenden Kettenraucher dort auf der Bank nicht zu enttäuschen.
Ernst Happel war ein Freigeist. Wenn Weggefährten über die besonderen Eigenschaften der Trainerikone sprechen, fällt wiederholt der Begriff „Unabhängigkeit“. Klaus Dermutz, Autor der Biografie „Genie und Grantler“, sagte Happel 1986: „Ich will von niemandem abhängig sein, ich will mein eigener Herr sein, mein eigener Mensch, das ist für mich ein Grundprinzip. Wenn ich abhängig wär’, hab ich kein Leben mehr.“ Keine Laune war ihm zu verrückt, um ihr nicht nachzugeben. Kein Zwang zu stark, um sich diesem zu unterwerfen. Kein Star war groß genug, um von ihm nicht abgesägt zu werden. Ein Millionenangebot des SSC Neapel schlug er aus, weil er keine Lust auf die Extrawürste hatte, die Maradona dort gebraten bekam. Happel hat immer getan, was er für richtig hielt.
„Der Ernstl war ein Ich-Mensch“
Einer, der ein Lied davon singen kann, ist Alfred Körner, einer der beiden noch lebenden WM-Teilnehmer Österreichs von 1954. Schon in den Dreißigern kickte der heute 89-Jährige mit Happel in der Jugend von Rapid Wien. „Der Ernstl war ein Ich-Mensch“, sagt Körner, „der hat Dinge gemacht, die keiner erwartete. Damals hat auch keiner gedacht, dass er je ein Trainer wird.“ Körner sitzt an einem Ecktisch im „Café Grün-Weiß“. Es riecht nach Zigaretten, Melange und G’spritztem. Seit 50 Jahren organisiert der Fußballrentner den Stammtisch der Altinternationalen, der sich jeden Freitag hier im Hinterzimmer der Fankneipe an der Hütteldorfer Straße trifft. Unter vergilbten Wimpeln, Schals und Mannschaftsfotos sitzt ein Dutzend alter Herren und schwelgt in Erinnerungen. Die Gardinenkneipe passt zur Patina, die die große Wiener Fußballtradition in den vergangenen Jahrzehnten angesetzt hat.
Hier im 15. Bezirk ist Happel bei seiner böhmischen Oma aufgewachsen. Der uneheliche Sohn einer Kneipiersfrau, der seinen leiblichen Vater nie kennenlernt. Der Stammtisch ist eine Reminiszenz an die gediegenen Kaffeehausrunden, die die Stars des legendären „Wunderteams“ in den Dreißigern unterhielten, als Österreich auf Weltniveau kickte und beim großen Braunen und Linzer Torte Siege ausdiskutiert wurden. Als Happel noch lebte, schaute er bei Wien-Besuchen gern vorbei. Viel gesprochen hat er nie. Auch in der eigenen Mischpoke ist der „Wödmasta“ eher Einzelgänger geblieben.
Körner und er haben dieselbe Initiation durchlaufen. Mitten im Zweiten Weltkrieg werden die Jungtalente, beide gerade 16, für die „Kampfmannschaft“ von Rapid rekrutiert. Das Glück ist nur von kurzer Dauer. Mit der Volljährigkeit ruft das Militär. Körner kommt nach England, Happel nach Borissow in Weißrussland, wo die Nazis in dieser Zeit auch Todeslager unterhalten. „Wir haben soviel Krieg gesehen, so viel Verderben, das reicht für drei Leben“, sagt „Körner II“, der gemeinsam mit Bruder Robert in den Fünfzigern die Sturmachse von Rapid und in der Nationalelf bildete.
Nach Kriegsende bringt allein der Fußball die Lebensfreude zurück. Rapid ist ein Spitzenteam im europäischen Fußball. Fesche Buam, die alles noch vor sich haben und den Horror vergessen wollen. Happel interpretiert die neu gewonnene Freiheit ganz anders als sein Spezi Körner. Die Stelle bei der Niederösterreichischen Landesregierung, die beide parallel zum Fußball antreten, gibt Happel schon kurz darauf wieder auf. Er hat genug davon, sich herumkommandieren zu lassen. Körner jedoch, Sohn eines Finanzbeamten, macht den Job im Amt bis zur Pensionierung. „Schauen’s mich an, so an krummen Rücken hat der Ernstl nie g’habt“, scherzt er, „der hat nie an Diener machen müssen so wie i: Guten Morgen, Herr Ministerialrat!“
Im Gegenteil. Der technisch versierte Ausputzer im Abwehrzentrum von Rapid ist in der Lage, Spiele ganz allein zu entscheiden. Aber er neigt auch zu Übersprunghandlungen. Wenn ihm danach ist, nimmt er den Ball mit dem Hinterteil an oder schießt Elfmeter mit der Ferse. Immer wieder stellt er seinen besten Freund, Keeper Walter Zeman, auf die Probe, indem er mitten im Spiel aufs eigene Tor ballert. Die Freiheit nimmt er sich einfach. Und wenn Zeman am Abend die Champagnerkorken knallen lässt, sitzt Happel oft daneben. „Ich bin ein schwerer Junge gewesen für einen Trainer“, gibt Happel Jahrzehnte später zu, „ein unangenehmer Patron.“
Bei der WM 1954 trifft Österreich im Halbfinale auf die DFB-Elf. Für die Buchmacher ist die Austria der klare Favorit. Doch die Deutschen gewinnen sensationell mit 6:1. Medien kolportieren, Happel und Zeman hätten sich bestechen lassen. Später stellt sich heraus, dass der Torwart ein Alkoholproblem hatte und betrunken ins Spiel gegangen ist. Und auch Happel hat sich am Tag vor dem Semifinale nicht so verhalten, wie es von einem Nationalspieler zu erwarten wäre. Die Verdächtigungen pariert der Grantler mit einer charakteristischen Mischung aus Verwunderung und Gleichgültigkeit.
Dieses Verhalten wird er später auch an den Tag legen, wenn er sich von seinen Spielern im Stich gelassen fühlt. Er nimmt ein Angebot des Racing Club de Paris an, tritt zwischenzeitlich aus der Nationalelf zurück. Er trägt jetzt einen schmalen Schnauz, sieht aus wie der junge Clark Gable und genießt das Nachtleben in der französischen Metropole. Happel verkehrt in Künstlerkreisen, nach Feierabend sieht man ihn nur noch in Nadelstreifen, Boulevardblätter dichten ihm Tête-à-Têtes an. Selbst Filmdiva Gina Lollobrigida soll seinem Schmäh erlegen sein. Er frönt einem exklusiven Lifestyle, den er – in eingeschränkter Form – bis zu seinem Tod beibehalten wird. Das ganze Leben ist ein Spiel. Tagsüber rollt das Leder, nach Einbruch der Dunkelheit die Roulettekugel.
Happel liebt die Nacht. Er speist mit Leuten aus der Halbwelt, den „nicht ganz Echten“. Nicht etwa, weil er mit ihnen Geschäfte macht, sondern weil ihn das Milieu fasziniert. Jahre später, zu seiner Zeit in Rotterdam, wird er schwer alkoholisiert am Steuer von der Polizei aufgegriffen und kommt einige Tage in Haft. Mitinsassen aber sind so entzückt von seinem Schmäh, dass sie seine Arbeiten mit übernehmen, damit Happel sich der Zeitungslektüre widmen kann. Selbst in seiner Hamburger Zeit hält Manager Günter Netzer den Coach bei Laune, indem er Trainingslagerhotels in unmittelbarer Umgebung von Casinos bucht.
Seine Urlaube verbringt Happel nach ein- und demselben Strickmuster: Die erste Hälfte widmet er den alten Wiener Spezln im Café Ritter im 16. Bezirk, wo der Veltliner fließt und ab mittags die Karten auf die Tische knallen. Für die restlichen Tage reist er nach Velden, wo er tagsüber am Wörthersee spaziert und abends frisch geduscht mit Einstecktuch im Casino Platz nimmt. Doch so sehr ihn das Glückspiel in seinen Bann zieht, so diszipliniert verfährt er bei der Berechnung des Risikos. „Ich kann stoppen. Ob ich jetzt verlier’ oder gewinn’. Ich werd’ mein Hab und Gut nie verlieren“, erklärt er seine Strategie.
Mit kalkuliertem Risiko operiert er auch auf dem Rasen. Dass er als Libero über ein herausragendes Stellungsspiel und spektakuläre Technik verfügt, ist unbestritten. Um seine Lauffaulheit zu kompensieren, entwickelt er eine neue Form der Abseitsfalle. Ein Pfiff reicht aus, um die Verteidigung zwei Schritte nach vorne treten zu lassen. Diese Innovation wird den Trainer Happel in der Welt berühmt machen. Als seine Spielerkarriere zu Ende geht, ist längst klar, dass er dem Fußball erhalten bleibt. „Wir hatten unsere Arbeitsstellen“, erklärt Alfred Körner, „der Ernstl aber hatte nur den Fußball. Frauen, gut, Frauen hat er vielleicht die eine oder andere g’habt, aber wirklich geliebt hat er die nicht. Geliebt hat er nur den Fußball.“
Happel wird zunächst Sektionsleiter bei Rapid und treibt die Professionalisierung des Klubs voran. Doch die Funktionsträger der Grün-Weißen sind mit den Plänen des forschen Jungmanagers nicht d’accord. Also sagt der sture „Wödmasta“ den Seinen nach zwei Jahren erneut „Arrivederci“. Er ahnt nicht, dass es der Aufbruch zu einer langjährigen Odyssee ist, die ihn quer durch Europa führt und die größten Erfolg beschert, die ein Klubtrainer erringen kann.
„Darum brauche ich keine Peitsche!“
Seinen ersten Trainerposten übernimmt er bei ADO Den Haag. Der Legende nach tritt er dort zur ersten Einheit im blütenweißen Dress und mit Slippern an, stellt eine Dose aufs Kreuzeck des Tores, nimmt am Sechzehner Anlauf, schießt das Blech auf Anhieb herunter und befiehlt: „Nachmachen!“ Inwieweit die Geschichte stimmt, lässt sich nicht mehr prüfen. Sicher aber ist, dass Happel in dem Moment, in dem er zum Übungsleiter aufsteigt, zur absoluten Respektsperson mutiert.
Der Wiener verlangt seinen Kickern absolute Disziplin ab. Pünktlichkeit geht ihm über alles. Kommt ein Spieler Sekunden zu spät zur Abfahrt, sieht er nur noch die Staubwolke des Busses. Beim Training gibt er den rauchenden Grandseigneur, dem ein gutes Auge und wenige Worte reichen, um das Team zu Höchstleistungen zu pushen. „Ich bin eine Respektsperson“, weiß er, „darum brauche ich keine Peitsche!“
Happel will konditionsstarke Athleten, die in der Lage sind, dem Gegner über die gesamte Spielzeit einen Stil aufzuzwingen. Wenn heute davon die Rede ist, dass eine Mannschaft „hoch steht“, dass „offensiv verteidigt“ wird und Roger Schmidt, der ehemalige Trainer von Bayer Leverkusen, einst forderte, seine Elf solle „jagen“, ist dies das Vermächtnis von Ernst Happel.
Bei Feyenoord Rotterdam lässt er ab 1968 einen Fußball spielen, der seiner Zeit um Jahre voraus ist. Das ganze Team ist in Bewegung, alle Akteure sind an Vor- und Rückwärtsbewegung beteiligt, so dass überall die Räume aufgehen. Die Abwehr steht kurz vor der Mittellinie, mancher Gegner kriegt regelrecht Platzangst, so eng wird es in der eigenen Hälfte. Und ständig schnappt die Abseitsfalle zu.
Für diesen Stil braucht er Leute, die sich bedingungslos seinen Ideen unterwerfen. Hierarchien innerhalb der Mannschaft sind ihm herzlich egal, solange die Spieler tun, was er von ihnen verlangt. Diese Erfahrung muss auch Franz Hasil machen, den Happel 1969 nach Rotterdam holt. Die physisch starken Holländer unterziehen den schmächtigen Operettenkicker aus Wien einer Spezialbehandlung. Abwehrchef Rinus Israel bricht Hasil beim Tackling im Training das Nasenbein. Als der sich beim Coach über die rüde Gangart beschwert, lässt Happel den Landsmann auflaufen: „Zauberer, i kann dir net helfen, des kannst nur allein. Lauf halt beim nächsten Mal schneller.“ Kein Jahr später gewinnt Feyenoord den Landesmeistercup und den Weltpokal. Hasil wird zum besten Legionär gewählt, der je in der Ehrendivision gespielt hat. Ein Verdienst von Ernst Happel? „Ja“, sagt Franz Hasil, „es war gut, dass er mir damals nicht entgegen gekommen ist. Er gab mir das Gefühl von Verbundenheit, aber ich musste mich ohne seine Hilfe durchsetzen.“
Happel eilt von Erfolg zu Erfolg. ADO Den Haag hat er zum Pokalsieger gemacht. Rotterdam verlässt er 1973 mit den Worten: „Mit zu viel Siegen geht die Disziplin zurück. Wir werden zu sehr Freunde.“ Den FC Sevilla führt er aus der zweiten Liga in einem Jahr fast auf einen UEFA-Cup-Rang. Aus dem belgischen Mittelklasseklub FC Brügge macht er ein Spitzenteam, das zwei Mal in Folge ins Europacupfinale vordringt. Der Wiener ist längst ein Weltbürger, der die landestypischen Einflüsse seiner Stationen absorbiert und mit seiner Spielphilosophie verschmelzen lässt. Kein Wunder, dass sich der niederländische Verband kurz vor der WM 1978 entschließt, ihn zum Bondscoach zu ernennen. Es fehlt nur ein Hauch, damit der „Wödmasta“ seinem Spitznamen gerecht wird. Die Elftal unterliegt Gastgeber Argentinien erst in der Verlängerung des Endspiels.
Happel ist über das Ergebnis und die Umgangsformen der Ausrichter so erzürnt, dass er die Pressekonferenz schwänzt und mitteilt, er habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Im Vorgriff auf Nachfragen ergänzt er: „Gerne reiche ich den Veranstaltern ein schriftliches Attest meiner Ärzte ein.“ Und als die niederländische Königin ihn tags drauf beim Empfang der Mannschaft im Palast warten lässt, nimmt er Prinz Willem Alexander beiseite und flüstert: „Wann kommt denn die Oma? Ich hab’ wenig Zeit, ich muss nach Velden ins Casino.“
Ab 1981 beschert er auch dem HSV die größte Ära seiner Geschichte. Der Kader, der von Branko Zebec mit teils ausuferndem Konditionstraining auf Vordermann gebracht worden ist, wundert sich über die kurzen, intensiven Einheiten, die Happel anordnet. Bei jeder Übung ist plötzlich der Ball mit im Spiel. Nach einer Stunde schickt der Alte das Team zum Duschen. Felix Magath glaubt, dass ein Geheimnis von Happels Erfolg auch in den knappen Ansprachen lag: „Meistens hat er gar nicht gesprochen. Und wenn, dann nur in einem Kauderwelsch, das so schwer zu verstehen war, dass wir uns sehr konzentrieren mussten, um alles mitzukriegen.“ Nach gut zwanzig Jahren im Ausland, hat der Coach sich einen kruden Slang aus wienerischen, niederländischen, flämischen und englischen Elementen angeeignet.
Hrubesch wird sein verlängerter Arm, sein „Cowboy“
Wenn Happel von „Kondizi“ spricht, davon, dass man „auf Hin und Her“ spielen wolle und Magath für den „Cornerball“ zuständig sei, muss sich jeder HSV-Spieler seinen eigenen Reim darauf machen. Die Abwehrreihe schiebt er einfach mal um 15 Meter nach vorne. Außenstürmer Bernd Wehmeyer, eine Pferdelunge, lobt er über Nacht zum linken Verteidiger aus. Im Spiel wird Horst Hrubesch sein verlängerter Arm, sein „Cowboy“, der bei Ballbesitz des Gegners plötzlich wie ein wilder Stier auf die Abwehr zuprescht und damit die Jagd eröffnet, an der sich minutenlang die gesamte Mannschaft beteiligt. Der HSV spielt Forechecking in Perfektion. Pressing. „Er ließ die Mannschaft so offensiv agieren, dass es den Spielern manchmal fast zu viel wurde“, erklärt Günter Netzer, „die waren es schlichtweg nicht gewohnt, so viele Torchancen zuzulassen.“ Ernst Happel bedeutet ein 6:5‑Sieg mehr als ein schnödes 1:0. Er sagt: „Ich lebe mit dem Risiko, ich liebe Risiko. Das ist mein Naturell!“
Dinge, die nur mittelbar mit dem Spiel zu haben, sind ihm lästig. Als er für seine Wohnung Einrichtung braucht, geht er in eine Buchhandlung am Neuen Wall, deutet auf ein Regal mit Schulbüchern und sagt: „I hätt gern an halben Meter von die Gelben und an halben von die Roten.“ Pressetermine sind ihm ein Graus. Auf Fragen antwortet er mit Einwortsätzen, vielfach nur mit Schweigen. Günter Netzer hält öfter mal den Atem an, weil ihn die beklemmende Stille fertigmacht. Nach dem letzten Spiel vor der Winterpause gibt Happel die kürzeste Pressekonferenz der Geschichte. Auf die Frage nach seiner Analyse antwortet er: „Ich wünsche allen Anwesenden gesegnete Feiertage. Auf Wiedersehen.“
Als nach dem Sieg im Europacup 1983 Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke, die damals begehrtesten Offensivspieler Deutschlands zum HSV wechseln, offenbart der Coach jedoch ein Defizit in seiner Teamführung. Seine Art zu kommunizieren dringt zu den allürenhaften Jungstars nicht durch. „Er wollte mündige Spieler, keine, denen er nachlaufen musste, um sie zu motivieren“, sagt Günter Netzer, „das war ihm offenbar zu dumm.“ Wuttke ist ein Begnadeter, aber ständig schlägt er über die Stränge. Schatzschneider fehlt es schlichtweg an Ehrgeiz. Der Stürmer ist als Nachfolger von Horst Hrubesch vorgesehen, das Talent hat er allemal, doch die Persönlichkeit, als verlängerter Arm des Trainers zu fungieren, besitzt er nicht. Mit Wuttke unterhält Happel zunächst noch eine Klabberjass-Runde, ein bisschen erkennt er sich wieder in dem Schlitzohr, das sich nicht einfangen lässt. Erst schimpft er ihn noch fröhlich „Zauberer“, bald abschätzig „Wurschtl“, irgendwann nur noch „Oarsch“.
Im Büro von Dietmar Beiersdorfer im Volksparkstadion hängt ein riesiges Foto, auf dem die Europacupsieger von 1983 in Zivil über den Rasen schlendern. Hieronymus trägt ein Hawaiihemd, Hrubesch eine Stoffhose mit Discogürtel, Felix Magath linst schelmisch durch die Gläser einer Hornbrille. Ein Bild, das das Selbstbewusstsein dieser Elf, das Glück dieser Zeit, auf magische Weise einfängt. Beiersdorfer schaut auf ein Foto von Happel, auf dem der Alte ein T‑Shirt mit der Aufschrift „No Problem!“ trägt. Der Vorstandschef des HSV kam 1986 zum Probetraining nach Hamburg. Beim Betrachten des Bildes erwacht in ihm das schwärmerische Jungtalent: „Er hatte ein unglaubliches Charisma. Er strahlte diese totale Unabhängigkeit aus, die uns Spielern signalisierte: Es kann kommen, was will. Euch kann nix passieren.“
Beiersdorfer bezieht 1986 ein Apartment im Dachgeschoss eines Hauses im Lütjenmoor 44 in Norderstedt, wo Happel im Erdgeschoss wohnt. Obwohl sie Nachbarn sind, gibt es kaum privaten Kontakt. Erst als Beiersdorfer einen neuen Vertrag unterschreiben soll und mit den Konditionen unzufrieden ist, klingelt er beim Trainer und fragt um Rat. Der Fernseher läuft, der Grantler liegt auf dem Sofa, auf dem Tisch Zettel mit taktischen Aufzeichnungen. Als Beiersdorfer sein Anliegen geschildert hat, schweigt Happel lange, dann sagt er: „Ich kann dir nicht sagen, was du machen sollst. Ich kann dir nur raten: Wenn du von etwas überzeugt bist, musst du deinen Weg gehen!“ Beiersdorfer nimmt es sich zu Herzen – und bekommt die geforderte Gehaltsanpassung. Ist Ernst Happel der größte Trainer in der Geschichte des HSV? „Ich sehe keinen, der an ihn heranreichen könnte“, sagt Didi Beiersdorfer.
Damals ist Ernst Happel bereits an Krebs erkrankt. Die Krankheit, die er lange als Virus abgetan hat, zehrt an ihm. Vom Rauchen kann er dennoch nicht lassen. Unter 30 Belga-Zigaretten am Tag macht er es nicht. „Der Arzt kann mir das nicht verbieten. Mein Glück ist, dass ich immer unter jungen Leuten bin“, beschwichtigt er, „und in der frischen Luft. Würde ich sitzen in einem Kontor – wie der Netzer – und würde so viel rauchen, ginge ich kaputt.“ Doch er geht kaputt. Das Eingeständnis erfolgt wie so oft bei ihm: lautlos. Er kehrt in seine Heimat zurück und übernimmt den FC Tirol.
„Genießen, das ist ein Wort!“
Ganz Österreich feiert die Heimkehr des Trainerfürsten, der sich nach 26 Jahren in der Beletage des Fußballs in die Niederungen der österreichischen Liga zurückzieht, um der darbenden Alpenrepublik Starthilfe zu geben. Er stählt die Spieler wie eh und je, streicht Urlaub, lässt auch im Hochsommer mit langen Hosen trainieren. Als Peter Pacult fragt, warum das nötig sei, grunzt Happel: „Weil’s so is!“ Obwohl er mit dem Klub zwei Mal Meister wird – es sind der 17. und 18. Titel in seiner Trainerlaufbahn – weiß er doch, dass seine Zeit als international erfolgreicher Coach vorbei ist.
Im März 1990 unterliegt sein Team bei Real Madrid mit 1:9 – die höchste Niederlage seiner Karriere. Eine Woche lang schweigt er sich über die Schmach aus. Erst dann kommt es zu einem zweistündigen Donnerwetter. Sechs Spieler werden auf die Tribüne verbannt. Torwart Klaus Lindenberger kann sich einen neuen Verein suchen. Die Freiheit, die Happel stets auf seine Spieler ausgestrahlt hat, hat auch eine dunkle Seite. Einem Reporter gesteht er, wie Niederlagen an ihm nagen: „Genießen, das ist ein Wort! Sehr schwer für einen Trainer, der auf der Bank sitzt.“
Als er nach einer 0:6‑Schlappe der österreichischen Nationalelf 1991 gegen Schweden gefragt wird, ob er dem ÖFB nicht helfen wolle, grantelt er: „Ich bin Patriot, aber kein Idiot.“ Da weiß er längst, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Als kurz darauf Walter Zeman stirbt, sagt er zu Freunden: „Ich bin der Nächste.“ Was interessiert ihn also sein Geschwätz von gestern? Happel ist schwer krank, und doch so frei wie eh und je. Wie in einem sentimentalen Film wird der beste Trainer, den Österreich je hervorgebracht hat, im Schlussakt Teamchef. Die Spieler sind stolz, von ihm berufen zu werden. Ein letztes Mal gelingt es dem Zauberer, ein Team neu aufzustellen und angeschlagenes Selbstbewusstsein zu kurieren.
Drei Wochen vor seinem Tod im November 1992 erlebt er einen 5:2‑Sieg seiner Elf gegen Israel auf der Bank des Wiener Praterstadions, das bald seinen Namen tragen wird. Er kann nicht lassen vom Fußball, der größten Liebe seines so reichhaltigen Lebens. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich eine Woche nicht zum Fußball gehe“, hat Ernst Happel gesagt. „Wenn das eine oder andere Spiel abgesagt wird, weiß ich gar nicht, was ich mit dem Tag beginnen soll. Das ist alles in Fleisch und Blut.“,
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Die Reportage „Zauberer“ erschien in 11FREUNDE #168. Ihr könnt sie weiterhin in unserem Shop oder im App-Store kaufen.