Bojko Borissow war bis Februar 2013 Ministerpräsident von Bulgarien. Jetzt spielt er er Fußball in der zweiten Liga, mit 54 Jahren, und gilt damit als ältester Profi Europas. Für die Ausgabe 11FREUNDE #144 haben wir ihn getroffen. Eine Begegnung der dritten Art.
Die Szenerie ist ein bisschen gespenstisch. Ein verlassenes kleines Stadion in einem Industriegebiet am Rande von Sofia, keine zwei Kilometer vom Flughafen entfernt. Die grünen Schalensitze künden schüchtern von Aufbruch, doch der Rest könnte problemlos als Kulisse für einen Film über die Achtziger dienen. Like Perestroika never happened. Noch ist nicht viel los, lediglich ein paar Männer verteilen sich über den Eingangsbereich. Vielleicht der Platzwart, Vereinsoffizielle und ein paar örtliche Journalisten? Doch ein Detail passt nicht ins Bild: Alle Männer tragen einen Knopf im Ohr. Nach einer Weile schreitet einer das Gelände ab, in der Hand einen Plastikklotz mit Antenne, der aussieht wie eine Kreuzung aus Trafo und Wünschelrute. Das wird tatsächlich ein Sprengstoffdetektor sein.
Ehemaliger Ministerpräsident und ältester Profi Europas
Ende August gab es eine seltsame Meldung aus dem bulgarischen Fußball. Ein gewisser Bojko Borissow hatte beim Aufsteiger Witoscha Bistritsa sein erstes Zweitligaspiel absolviert. Normalerweise wäre das nichts, was ausländische Medien interessieren würde, doch in diesem Fall ergab sich der Nachrichtenwert aus dem Alter und dem Status des Fußballers. Bojko Borissow war zum Zeitpunkt seines Debüts 54 Jahre, zwei Monate und zwölf Tage alt und damit angeblich der älteste Profi Europas. Und er war bis Februar 2013 Ministerpräsident von Bulgarien.
Nach und nach trudeln die Spieler von Witoscha Bistritsa zum Nachmittagstraining ein. Drahtige junge Männer, die meisten von ihnen zwischen Anfang und Mitte 20. Eigentlich ist der Verein in einem Ort außerhalb der bulgarischen Hauptstadt beheimatet, doch seine Heimspiele trägt er meist im Stadion von Lokomotive Sofia aus. Trainiert wird mal hier und mal da und heute in der Nähe des Flughafens. Die meisten Spieler kommen mit Autos, die wenig gemein haben mit den Luxusfahrzeugen, die in Deutschland auch unter Zweitligaprofis die Regel sind. Als einer mit einem neuen Mercedes vorfährt, weckt das die Neugier der Kollegen, von denen einige rüberkommen und sich probeweise hinters Steuer setzen. Bald erscheinen weitere Autos und mehr Männer mittleren Alters mit Knopf im Ohr. Gleich muss er kommen.
Der Meister lässt bitten
Die Anfrage lief über seinen Referenten, einen Mann namens Nikola. Gerne könnten wir Bojko Borissow in seinem Büro in Sofia interviewen, hieß es. Fotos im Fußballtrikot? Schwierig. Wir seien aber ein Fußballmagazin. Ach so. Nach einigem Hin und Her kam die Nachricht, vielleicht sei ein Termin beim Training am Dienstag möglich. Borissow würde daran teilnehmen.
Nikola ist bereits da, Borissow lässt noch auf sich warten. Mittags hat er ein neues Sportzentrum im 150 Kilometer entfernten Plowdiw eröffnet und ist nun auf dem Weg. Die Männer mit den Knöpfen im Ohr dürfen wir nicht fotografieren, Gleiches gilt für den Wagen von Borissow, wenn er denn kommt. Während die ersten Fußballer von Witoscha Bistritsa bereits den Rasen betreten, nähert sich durch das benachbarte Parkstück ein kleiner Autokonvoi dem Stadioneingang. Borissow steigt aus und verschwindet mit seiner Entourage in der Umkleidekabine. Nach ein paar Minuten gibt Nikola Zeichen: Der Meister lässt bitten.
Bojko Borissow wurde am 13. Juni 1959 als Sohn eines Feuerwehrmanns und einer Grundschullehrerin im Kurort Bankja in der Nähe von Sofia geboren. Sein Großvater, der Bürgermeister von Bankja, war 1944 von kommunistischen Kämpfern getötet worden, was Borissow von Jugend an zu einem fanatischen Antikommunisten werden ließ. Seiner Biografie war das aber lange nicht anzusehen. In den Achtzigern war er Feuerwehrmann, Mitarbeiter des bulgarischen Innenministeriums und Dozent an der Polizeiakademie von Sofia. Nach der politischen Wende gründete er eine Sicherheitsfirma und machte nochmals Karriere im Innenministerium, das er aber wegen Konflikten mit der sozialistisch geführten Regierung wieder verließ. 2006 gründete er die Mitte-Rechts-Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) und wurde zum Bürgermeister von Sofia gewählt. Nachdem GERB aus den Parlamentswahlen 2009 als stärkste Fraktion hervorgegangen war, wurde Borissow Ministerpräsident von Bulgarien.
“Grüße an Horst Seehofer! Ein guter Freund von mir!„
Der Fußballer, der neulich im Alter von 54 Jahren sein erstes Spiel in der zweiten Liga gemacht hat, sitzt in der Umkleidekabine und ist fast umgezogen. Physisch unterscheidet er sich in eklatanter Weise von seinen Mitspielern. Er ist größer als die meisten und wiegt fast doppelt so viel wie manch anderer. Ein Bär von einem Mann, und das hat sicher nicht nur mit der Ernährung und dem Alter zu tun. Man kann von den Händen und Füßen eines Menschen ganz gut auf seine allgemeine Konstitution schließen. Wer die fleischigen Füße von Bojko Borissow sieht, der weiß, dass er Zeit seines Lebens eher der grobschlächtige Typ war. Während Borissow Stutzen und Schuhe anzieht, beantwortet er die ersten Fragen. Ja, er spiele täglich Fußball, es sei die beste Möglichkeit, den Kopf frei zu bekommen. Nein, er sei weit davon entfernt, sich mit echten Profis zu vergleichen. Im Übrigen ermögliche ihm der Fußball, Kontakt zum normalen Volk zu halten. Dass der erste Teil des Interviews in der engen Kabine unter seinen Kameraden stattfindet, macht es für ihn zum Heimspiel. Man kommt sich als Fragesteller automatisch wie ein Eindringling vor. Borissow gibt derweil noch immer den Staatsmann: „Ich sende Grüße an Horst Seehofer! Ein guter Freund von mir!“
Bojko Borissow war Ende 2012 der erste Regierungschef, den Barack Obama nach seiner Wiederwahl empfing. Innenpolitisch ging es zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits bergab. Der von ihm vollmundig propagierte Kampf gegen die Korruption in Bulgarien kam kaum voran, mehrere seiner Minister waren in Skandale verwickelt und das Volk schimpfte wegen der hohen Energiepreise. Als es Anfang 2013 zu Massenprotesten mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten kam, trat Borissow überraschend von seinem Amt zurück, nicht ohne in der Rücktrittserklärung noch einmal seine Qualitäten als Volkstribun zu beweisen: „Auf den Straßen, die ich bauen ließ, soll kein Blut fließen.“ Tatsächlich ist er in Bulgarien noch immer ziemlich populär als Mann der Tat und des direkten Wortes, und es wird allgemein angenommen, dass er bald einen neuen Anlauf auf das Amt des Regierungschefs starten wird.
Warum aber vertreibt sich der Mann die Zeit als Zweitligafußballer? Borissow lächelt: „Nur, um mich fit zu halten. Und wegen des Adrenalins bei den Pflichtspielen.“ Er steht jetzt am Spielfeldrand, während vor ihm das Training in vollem Gange ist. Auch hier verfügt er über einen interessanten Trick, um den Interviewpartner kleinzuhalten: Wenn er etwas mit Nachdruck sagen will, legt er einem seine große Pranke auf die Schulter und drückt einen merklich nach unten. Ob ihn die Gegenspieler schonen? „Ach was, die sind sogar aggressiver!“ Ist der Effekt seines Engagements kalkuliert? „Ich hätte nie gedacht, dass das eine Nachricht sein könnte. Ich hatte so viele Treffen mit Merkel, Obama und Sarkozy, ich brauche solch eine Werbung nicht.“ Aber leidet nicht die Autorität des Trainers angesichts des Alphatieres in seinem Kader? Borissow grinst: „Fragen wir ihn selbst!“ Er zitiert Yassine Missaoui herbei, doch was soll der arme Mann antworten? Letztlich zieht er sich leidlich elegant aus der Affäre und sagt: „Es ist nicht einfach, die Stars unter Kontrolle zu behalten. Aber bis jetzt schaffen wir das ganz gut.“
“Ors Rubes!„
Auch wenn man es ihm nicht ansieht, war Borissow immer ein talentierter und vor allem begeisterter Sportler. Er hat den schwarzen Gürtel in Karate und war jahrelang Coach des bulgarischen Nationalteams. Zusammen mit Ljuboslaw Penew, dem Trainer der Fußballnationalelf, tritt er außerdem als Tennisdoppel bei Wohltätigkeitsturnieren auf. Zeugenaussagen zufolge läuft sich Penew an der Grundlinie die Seele aus dem Leib, während Borissow am Netz steht und die Bälle verwertet. Aber immerhin. Ist er also vielleicht doch ein später Stern am bulgarischen Fußballhimmel?
Nach den Eindrücken der Trainingseinheit: eindeutig nein. Auch wenn Borissow gar nicht wirklich mit dem Team trainiert hat. Derweil die Kollegen den Ernstfall proben, übt der Politiker mit einem abgestellten Keeper Torschüsse und Kopfbälle. Während er mit seinem Quadratschädel die Bälle aufs Tor wuchtet, blickt er herüber und ruft: „Ors Rubes!“ Dann noch mal: „Ors Rubes!“ Und noch mal. Nach einer Weile wird klar, was oder besser wen er meint: Horst Hrubesch. Borissows Schusstechnik ist solide, doch die Körperspannung fehlt. Nein, der Mann ist nie und nimmer ein Zweitligaspieler. Vielleicht 20 Jahre jünger und ebenso viele Kilos leichter, aber so nicht. Es heißt, die Mitspieler nennen ihn „Xavi“, angeblich wegen seiner zentimetergenauen Pässe. Da muss ein Hauch Ironie dabei sein. Dennoch hat Borissow bei mehreren Saisonspielen als Sturmspitze auf dem Platz gestanden, einmal für stattliche 54 Minuten. Auch wenn die Mannschaft etwa die Qualität eines deutschen Regionalligisten hat, bedeutet der Einsatz eines übergewichtigen Mittfünfzigers eine eindeutige Schwächung, weshalb es ein Rätsel ist, wieso die „Tiger“ – so Witoschas Spitzname – ihn mitspielen lassen. Ein Rätsel, für das es bestimmt handfeste Gründe gibt. Und Borissow selbst, diese Mischung aus Boris Jelzin und Silvio Berlusconi? Wa- rum spielt er in einer Liga, in der er nicht mithalten kann? Vielleicht ist dieser Kick seine keusche Variante des „Bunga Bunga“, um sich der ewigen Jugend zu versichern.
Von den Fans zum “Fußballer des Jahres gewählt
Seinen größten Moment hat der Fußballer Borissow übrigens bereits 2011 erlebt. Da landete er in der von den Fans durchgeführten Vorauswahl zu Bulgariens „Fußballer des Jahres“ auf Platz eins, vor Dimitar Berbatow. Es spricht für Borissows Instinkt, dass er sich von der Shortlist streichen ließ, mit der Begründung, es sei keine Wahl für ihn, sondern gegen die Zustände im bulgarischen Fußball gewesen. Natürlich wusste er auch, dass er bei der anschließenden Journalistenwahl chancenlos gewesen wäre.
An jenem Dienstag geht Borissow nach einer halben Stunde Torschusstraining vom Platz, packt die Entourage ein und fährt zum nächsten Fußballplatz: Kicken mit dem Altherrenteam. Was bleibt, ist der Eindruck, Teil einer Inszenierung gewesen zu sein. Bojko Borissow ist kein großartiger Fußballer mehr, vermutlich nie einer gewesen. Aber in der Politik wird man noch mal von ihm hören, ganz sicher.