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Kein Spieler gibt den Fuß­ball auf“, sagte Socrates nach dem Ende seiner Kar­riere. Der Fuß­ball ist es, der sich von den Spie­lern abwendet.“

Es spricht so viel aus diesen Sätzen, dass es weh tut. So viel, was wir hier, im deut­schen Dezem­ber­regen, durch einen Ozean von Bra­si­lien getrennt, gar nicht ver­stehen können.

Ges­tern ist Socrates im Alter von 57 Jahren gestorben. Und man schämt sich ein biss­chen, weil man nicht so recht weiß, wor­über man eigent­lich trauert. Dar­über, dass einer tot ist, über dessen Panini-Bild­chen man sich 1986 beson­ders freute? Der so anders aussah als die anderen, mit seinem Voll­bart und dem weißen Stirn­band? So… rebel­lisch? Einer, der nie Welt­meister wurde und doch zu den Größten zählt?

Voll­endet unvoll­endet – wie geht das über­haupt? Warum lieben seine Lands­leute diesen Socrates wie kaum einen Fuß­baller sonst?

Wer mit Ergeb­nis­fuß­ball, Tur­nier­mann­schaften und der Null, die stehen muss, auf­ge­wachsen ist, dem muss das ein ewiges Rätsel bleiben. Trotzdem sind die Autoren der Nach­rufe auch hier­zu­lande so fas­zi­niert von Socrates‘ Schei­tern, dass man glauben könnte, sie sehnten sich nach einer Nie­der­lage. Das nächste Aus­scheiden einer deut­schen Natio­nal­mann­schaft bei einem großen Tur­nier wird natur­gemäß das Gegen­teil beweisen. 

Trauert man also dar­über, dass der Letzte von uns gegangen ist, der einem noch hätte erklären können, dass es im Fuß­ball nicht nur aufs Ergebnis ankommt? Oh, Socrates.

Der Fuß­ball war für Socrates ein Wesen an sich

Kein Spieler gibt den Fuß­ball auf“, sagte er also. Der Fuß­ball ist es, der sich von den Spie­lern abwendet.“ Es spricht aus diesen Sätzen, dass der Fuß­ball seinen eigenen Willen hat. Dass er imstande ist, jemandem die Gunst zu erwiesen und sie ihm wieder zu ent­ziehen. Dass er gar keine Sache ist, die erst von den Men­schen zum Leben erweckt wird, son­dern ein Wesen an sich. Eine Geliebte, stör­risch und eigen. Und dass dieser Socrates – lang, schreck­lich lang ist es schon her – mit ihr tanzen durfte.

Ja, er tanzte wirk­lich mit ihr. Ein Tri­um­phator des Augen­blicks, ein Sieger, solang die Musik spielte. Zu einer Zeit, als bei uns die Kraft­meier den Fuß­ball ein­fach nur aus der Dorf­disco ins Taxi nach Hause zerrten. 

Der letzte Walzer klang 1989 aus, der Fuß­ball wandte sich von Socrates ab, nach 456 Spielen und 229 Toren. Zweimal hatte er ver­sucht, mit Bra­si­lien Welt­meister zu werden, zweimal war er daran geschei­tert.

Geschei­tert? Einer wie Socrates, der immer wusste, dass er es mit einer Diva zu tun hat, die ihre bra­vou­rö­sesten Ver­ehrer als erste zu Boden stößt, hat das zum Glück nicht so emp­funden. Er stand immer wieder auf, klopfte sich den Staub vom gelie­henen Anzug und bat sie ein wei­teres Mal zum Tanz, lächelnd.

Was bedeuten schon Titel? Gar nichts!“, sagte er mit solch über­wäl­ti­gendem Stolz, dass man ver­sucht war, seine ver­kackte Ehren­ur­kunde von den Bun­des­ju­gend­spielen samt der unechten Unter­schrift von Richard von Weiz­sä­cker zu ver­brennen.

Und dann traute man sich doch wieder nicht. Stirn­band, na gut – aber wo sollte man so schnell einen Voll­bart her­be­kommen? Und wie erst sollte man den anderen erklären, dass es nicht nur aufs Ergebnis ankommt? Das Wort von der brot­losen Kunst“ wurde ja so oft bemüht, dass man selbst glaubte, Kunst an sich sei brotlos. Fuß­ball müsse Arbeit sein und auch so aus­sehen.

Wer genau ist da über­haupt von uns gegangen? Wie groß ist der Ver­lust?

Unend­lich weit weg blieb das Land, in dem Socrates lebte und nun starb. Wer genau ist da über­haupt von uns gegangen? Wie groß ist der Ver­lust? Betrifft er uns über­haupt, die wir Socrates bloß wie eine impor­tierte Kitsch-Madonna ver­ehren, ohne jemals wirk­lich an ihn geglaubt zu haben?

Man hat eine wirre Ahnung, die zusam­men­stürzt aus Hun­derten von Folk­lore-Repor­tagen aus Bra­si­lien, das darin immer nur das Land am Zuckerhut“ genannt wird, und eine Sehn­sucht, weinen zu können, aber man weiß nicht genau, wor­über. Etwa dar­über, dass man selbst kein Bra­si­lianer ist und nie­mals sein wird? 

Und dann lässt man es lieber ganz, das Weinen, weil durch die dubiose Gefühls­ku­lisse hin­durch plötz­lich die halb­nackten Kar­ne­vals­mäd­chen aus den Folk­lore-Repor­tagen tän­zeln.

Belassen wir es dabei: Es ist eine tief­trau­rige Nach­richt, dass Socrates, dieser Hüne, an einem ver­seuchten Mit­tag­essen gestorben ist, das seiner vom Alkohol zer­rüt­teten Leber den Rest gab.

Viel­leicht fing er eines Tages das Saufen an, weil er das Tanzen so ver­misste. Aber kein Mensch gibt sein Leben auf. Es ist das Leben, das sich vom Men­schen abwendet. Ruhe sanft, Socrates.