Mailand. 20.04.2010. In der 75. Minute ruft Trainer José Mourinho den Star des Abends vom Platz. Soeben hat der Argentinier Diego Milito die Mannschaft des FC Barcelona im Hinspiel des Champions League Halbfinals im Alleingang besiegt. 3:1. Das haben sich selbst die stolzesten Interisti nicht zu erträumen gewagt. Das Guiseppe-Meazza-Stadion erhebt sich. Milito badet in einem Meer aus Applaus. Gestandene Männer verdrücken einige Tränen. Ein Festtag für alle Tifosi.
An der Außenlinie steht ein junger Mann und guckt traurig. Er ist der Einzige im blau-schwarzen Trikot, für den es heute nichts zu Feiern geben wird. Inters Nummer 45 kennt das schon, denn für ihn verkommt mittlerweile jedes Spiel in seinem Heimatland zu einer Hetzjagd.
Größe: 1,89 Meter. Gewicht: 83 Kilo. Technik: perfekt. Schusskraft: gewaltig. Körper: Modell Türsteher. Alter: 19. Die kalten Fakten des Spielers Mario Balotelli lassen jeden Talentsucher der Welt mit den Ohren schlackern und hektisch in den Geldbörsen wühlen. Balotelli, den die Gazetto dello Sport einst „Super-Mario“ taufte, gilt als das größte Fußballtalent, das der italienische Fußball in den vergangenen zehn Jahren hervor gebracht hat. Sein Marktwert – 15 Millionen Euro – wirkt in einer Zeit, in der sich der Transfermarkt beständig aufheizt, nahezu lächerlich.
Super-Mario hat zwei Probleme
Doch Mario Balotelli, dieser Erlkönig eines Weltklassestürmers, schleppt zwei „Probleme“ mit sich herum. Erstens: Er ist ungestüm wie ein Wildpferd. Zweitens: Er ist schwarz. Verdammt schwarz. Und das ist in Italien traurigerweise immer noch eine unüberwindbare Hürde.
Als Balotelli an jenem Abend in Mailand das Feld betritt, kann man beobachten, wie von Sekunde zu Sekunde die Stimmung im Stadion kippt. Er beginnt furios, überlupft per Hacke einen Barca-Verteidiger, gleitet galant über den Platz und reiht sich nahtlos in den Festakt ein. Vielleicht darf Balotelli heute doch mitfeiern? Doch ein Fehlpass reicht, um die Fans aus dem Freudentaumel zu reißen. Sie pfeifen ihn aus und dem Wildpferd Balotelli gehen die Gäule durch. Er macht abfällige Gesten in Richtung Publikum. Futter für die Dummköpfe, die genau auf diese Reaktion gewartet haben. Die Hetzjagd ist nun wieder in vollem Gange. Es ist ein bisschen so wie im antiken Rom, wo angeschlagene Gladiatoren zur Belustigung des Volkes vorgeführt wurden. Er ist zum Abschuss freigegeben. Nach dem Spiel fallen Ultras Balotteli in der Tiefgarage des Stadions an. Inter-Präsident Massimo Moratti muss dazwischen gehen. Einen Tag später erklären sich die Fans im Internet: „Ciao Super-Mario. Wir haben dich ausgepfiffen, weil du in deiner typischen Arroganz über den Platz getrabt bist, während zehn unserer Spieler Blut gespuckt haben. Du existierst für uns nicht mehr.„
Ein trauriges Beispiel misslungener Integration
Wo das alles begann, dieser grenzenlose Hass gegen ihn, das kann wahrscheinlich nicht einmal Balotelli selbst beantworten. Und dennoch ist Italiens Umgang mit Balotelli ein trauriges Beispiel dafür, wie schwer sich das Land mit dem gesellschaftlichen Wandel tut. Rassimus ist Alltag in Italiens Stadien. Und Ministerpräsident Silvio Berlusconi muss sich in naher Zukunft keinerlei Hoffnung auf einen Integrationspreis machen. Im Gegenteil.
Im Jahr 1990 kommt Mario Balotellti als Kind ghanaischer Einwanderer in Palermo zur Welt. Mit drei Jahren wird er von einer Pflegefamilie aufgenommen, mit 14 erfolgt eine Einladung aus Barcas Talentschmiede La Masia. Doch er fällt durch das Raster, auch weil Barcelona keinen Streit mit dem italienischen Verband riskieren will. Der spekuliert nämlich ebenfalls auf Balotelli. Er soll ein neuer Heilsbringer des Calcio werden. 2006 wechselt er vom Drittligisten AC Lumezzane für knapp 350.000 Euro zu Inter Mailand. Sein Profidebüt gibt er im Dezember 2007. Es folgt ein Doppelpack gegen Regina und gegen Juventus Turin. Italien jubelte über seinen ersten schwarzen Superstar.
„Ich habe jahrelang auf den 12. August 2008 gewartet“, sagte Balotelli einst. Der Tag, an dem aus Mario Balotelli, dem ghanaischen Einwanderer, Mario Balotelli, der Italiener wird. Zumindest auf dem Papier. Sein 18. Geburtstag soll seine endgültige Ankunft in seinem Heimatland sein. „Ich fühle mich als Italiener. Sono italiano“, sagt Balotelli weiter.
Ein widerliches Spiel
Doch im überragenden Fußballer Balotelli schlummert auch der ungestüme Junge. Als er gegen AS Rom einen Elfmeter verwandelt, provoziert er gestenreich die gegnerischen Fans und streckt seinem Gegenspieler Christian Panucci mehrfach die Zunge entgegen. Die Szenen flimmern auf den heimischen Fernsehern der Italiener. Das reicht einigen Fangruppierungen, um aus Super-Mario das Bild des arroganten Migranten zu basteln.
Als er Wochen später bei Juventus Turin zum 1:1‑Ausgleich trifft, entlädt sich die geballte Antipathie eines ganzen Stadions in Affenlauten und rassistischen Gesängen. Fortan machen es sich die Fans der Inter-Gegner zur Hauptaufgabe, Balotelli mit Provokationen aus dem Konzept zu bringen. Und der Jungprofi steigt auf dieses widerliche Spiel ein, lässt sich zu abfälligen Gesten hinreißen. Sein Trainer José Mourinho wechselt ihn immer öfter aus. Als Schutz vor den Fans. Und vor sich selbst. Als er bei einem Spiel gegen Verona wieder einmal provoziert wird, platzt ihm vor laufender Kamera der Kragen: „Jedes Mal, wenn ich nach Verona komme, kotzen mich die Fans noch mehr an.“ In your face.
Er sucht Schutz und findet ihn nicht
Des Öfteren wird Inter, wird auch Balotelli für sein Verhalten gegenüber gegnerischen Fans mit Geldstrafen belegt. Die Rassisten auf den Rängen kommen auffällig oft ungestraft davon. Aus Sicht vieler Italiener ist Balotelli selbst Schuld an seiner Situation, selbst Nationaltorwart Gianluigi Buffon kritisiert ihn öffentlich. Schutz sucht er vergeblich. Er ist Freiwild. Mittlerweile traut er sich nach Toren kaum noch zu jubeln. Sein Kopf duckt sich fast entschuldigend weg, kein Torschrei. Immer wieder folgt die gleiche Geste: Sein Finger geht auf die italienische Flagge im Zentrum des Inter Trikots. Seht her, sono Italiano. Aber sie wollen ihn nicht.
Handgemenge am Rande der Party
Nach dem Abpfiff des Festaktes gegen Barca feuert Balotelli enttäuscht sein Trikot auf den Boden und verlässt fluchtartig das Feld. Im Hintergrund liegen sich Sneijder und Milito in der Armen. Der Abwehr-Rüpel Marco Materazzi folgt Balotelli in die Katakomben, will ihn zur Rede stellen. Es wird handgreiflich. So unschön, dass vorbeikommende Barca-Spieler sich Sorgen machen. Zlatan Ibrahoimovic sagt nachher: „ So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Materazzi hat ihn attackiert und ich war verwundert. Wenn Materazzi mich so attackiert hätte, hätte ich ihn sofort umgehauen.“
Übrigens Materazzi und Balotelli sind zwei von nur drei Italienern im Kader von Inter. Und Inter, das steht für Internazionale, trägt also quasi seine Weltoffenheit im Namen. Bei Balotelli haben sie versagt. Er wurde schutzlos dem Mob zum Fraß vorgeworfen. Am Ende sogar von seinen Mitspielern attackiert.
Jüngst wurde der 19-Jährige für seinen „öffentlichen Selbstmord“ auf unbestimmte Zeit suspendiert. Es heißt, er soll nach England abgegeben werden. Man könnte es ihm nicht verübeln, wenn er nur noch weg will aus Italien. Dem Land, dessen Teil er gerne wäre, aber das ihn einfach nicht akzeptiert.