Seit über einem Jahr wird Fußball vor leeren Rängen gespielt. In dieser Zeit ist das Spiel in der Bundesliga weniger intensiv geworden. Gibt es einen Zusammenhang?
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #232. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Vor dem ersten Tor setzte Leon Goretzka den erfahrenen Sergio Busquets so unter Druck, dass dieser einen unüberlegten Pass zu Frankie de Jong spielte. Der Holländer nahm Thomas Müller erst wahr, als es zu spät war. Müller kam an den Ball, spielte ihn nach Außen und bekam ihn wenige Momente später wieder. Nach nicht einmal drei Minuten gingen die Bayern gegen den FC Barcelona in Führung, am Ende hieß es 8:2. Doch von Beginn an war der Schlüssel zu diesem immer noch etwas unwirklich erscheinenden Triumph im Viertelfinale der Champions League das Münchner Pressing, das den Gegner kaum mal einen Moment Luft holen ließ.
Der Sieg der Bayern passte ins Bild. „Die Bundesliga ist in den letzten Jahren zur Pressing- und Gegenpressing-Liga geworden“, sagt George Syrianos, seit vier Jahren Head of Analytics beim VfB Stuttgart. Nirgendwo sonst arbeiten die Teams so eifrig gegen den Ball, und nirgendwo gehen sie so schnell nach Ballverlust ins Gegenpressing. Durchschnittlich 20 Mal im Spiel erobern die Bundesligisten innerhalb von sechs Sekunden den Ball wieder zurück, 6,8 Mal davon tun sie das sogar im Angriffsdrittel in der gegnerischen Hälfte. Noch vor ein paar Jahren trauten sich eine solche Vorwärtsverteidigung nur wenige Teams zu, aber wenn Syrianos heute für Stuttgarts Trainer Pellegrino Matarazzo Informationen zum nächsten Gegner aufbereitet, findet er nur noch eine Handvoll Erstligisten, die aufs Angriffspressing weitgehend verzichten.
Umso erstaunlicher ist, dass es in dieser Saison einen messbaren Druckabfall gibt. Der statistische Wert, der darüber Auskunft gibt, stammt vom englischen Datenanbieter Statsbomb und heißt Pressures. Das kann man mit „Drucksituationen“ übersetzen, denn genau darum geht es. Ermittelt wird dabei, wie im oft im Laufe eines Spiels ein ballführender Spieler von einem Gegner bedrängt wird. Die Bedrängung besteht darin, dass er ihm auf mindestens 3,5 Meter nahekommt.
Wir als Zuschauer kennen diese Situation, nehmen sie aber kaum noch bewusst wahr, weil sie gut 300 Mal pro Partie vorkommt: Ein Spieler bekommt den Ball, und sofort kommt ein Gegner angesaust, um ihn zu stellen, am ungestörten Pass zu hindern oder vielleicht sogar den Ball abzunehmen. Viele Trainer nennen das „Gegnerdruck“, doch der hat im Vergleich zu letzten Saison deutlich abgenommen. Produzierte jede Mannschaft in der Spielzeit 2019/20 im Schnitt noch 167 Drucksituation pro Spiel, sind es in dieser Saison (bis einschließlich 18. Spieltag) nur noch 144, also 23 weniger oder minus 14 Prozent. Da immer zwei Teams auf dem Platz stehen, fehlt alle zwei Minuten eine Drucksituation.
Wenn man das Ergebnis aufschlüsselt, gibt für die einzelnen Bundesligisten deutliche Unterschiede. Einige besonders krasse Abweichungen lassen sich zum Teil taktisch zu erklären. Union Berlin etwa gilt nach wie vor als einer der unangenehmsten Gegner der Liga, obwohl die Mannschaft auf ein Viertel weniger Drucksituationen kommt. Sie hat aber ihren Stil geändert. „Letztes Jahr waren wir gefühlt bei jedem Angriff im Pressing“, sagt Kapitän Christopher Trimmel. Da wurde der Ball hoch auf Mittelstürmer Sebastian Andersson geschlagen, der ging ins Kopfballduell, und Union machte Druck auf den zweiten Ball. In dieser Saison hingegen, nach dem Wechsel von Andersson zum 1. FC Köln, kombiniert sich die Mannschaft häufiger nach vorne. Auch RB Leipzig, defensiv die stärkste Mannschaft der Liga, hat die häufigen Drucksituationen deutlich reduziert. Trainer Julian Nagelsmann setzt gezielt auf mehr Ballbesitz und Spielkontrolle, sein Team ist länger am Ball und braucht ihn deshalb nicht so oft zurückzuerobern. Doch solche taktischen Erklärungen sind eher die Ausnahmen, während bei 14 von 16 Mannschaften, die auch in der letzten Saison in der Bundesliga spielten, der Wert zurückgegangen ist. Nur Hoffenheim und Freiburg legten gegen den Trend ein wenig zu.
Wenn die Bundesliga aber gerade keinen kollektiven Stilwechsel erlebt, muss etwas anderes im Gange sein. Zumal es die Entwicklung nicht nur in Deutschland gibt, denn die vier anderen europäischen Spitzenligen verzeichnen ähnliche Rückgänge der Pressures. Nur in Spaniens höchster Spielklasse fällt er nicht ganz so hoch aus. Das mag auch daran liegen, dass die Klubs in La Liga dem allgegenwärtigen Trend zum Pressing am wenigsten folgen.
_