Wolfsburger? Nur Schichtarbeiter mit Freikarte! Bayern? Klassische Erfolgsfans! Hoffenheimer? Tennispublikum! Über den Zwang, Fans in Schubladen zu stecken.
Im Sommer 1984 saß eine Gruppe Jugendlicher in einem Zug der DDR-Reichsbahn von Leipzig nach Berlin. In der Gepäckablage fanden sie eine etwas zerfledderte Ausgabe des „Kicker“-Sonderheftes. Und zum Zeitvertreib fingen die Jugendlichen an, die Bundesligaklubs unter sich aufzuteilen. Jeder bekam einen, der FC Bayern, der HSV und der 1. FC Köln waren natürlich sofort weg. Am Ende war nur noch B‑Ware wie der VfL Bochum und der MSV Duisburg übrig. Ein Junge aus Cottbus bekam unter dem Gelächter der Umsitzenden Arminia Bielefeld zugeteilt. Natürlich nur eine Spielerei, bereits bei der Ankunft in Berlin hatten die meisten Jugendlichen ihren westdeutschen Lieblingsverein schon wieder abgelegt. Der Cottbuser hingegen fährt bis heute alle zwei Wochen zu jedem Heimspiel der Arminia auf die Bielefelder Alm.
Eine Geschichte, die zweierlei zeigt. Erstens, dass die Liebe häufig merkwürdige Wege geht. Und zweitens, dass zumindest die räumliche Nähe zum Lieblingsklub kein allzu sinniges Kriterium ist, um den Grad der Leidenschaft anderer Anhänger einschätzen zu können. Was eine tröstliche Nachricht für viele Bayern-Fans ist, die aus der Diaspora in Bückeburg, Eschweiler oder Bremerhaven den Rekordmeister anfeuern. All diesen republikweit verstreuten Anhängern hing ja früher der üble Geruch des stark erfolgsabhängigen Gelegenheitsfans an. Schließlich kannte jeder aus Schulzeiten einen dieser Schnösel, die schon in der 11. Klasse mit einem Bottega-Veneta-Kofferimitat herumliefen, als Kassenwart bei der Jungen Union firmierten und auf dem Pausenhof den dicken Max machten, wenn die Bayern mal wieder Meister geworden waren. Aber so viele Arschgeigen mit fabrikneuen Bayern-Schals es auch gibt, die noch kein einziges Bayern-Heimspiel vor Ort gesehen haben und trotzdem jede Firmenfeier mit angelesenem „Sportbild“-Wissen über Ancelottis taktische Fehler versauen, so zahlreich sind eben auch die, die fußballerisch nicht nur so lax herumtindern, sondern es tatsächlich ernst meinen, mit sich und dem FC Bayern und die auch im Falle einer tiefen und langwierigen Bayern-Krise (3. Platz in der Bundesliga) treu zum Klub stehen würden.
Unzulässiges Kriterium: die Platzierung der Anhänger im Stadion
Nun stellt sich natürlich die Frage, warum wir überhaupt den Drang verspüren, andere Anhänger in wahre, echte, falsche Fans einteilen zu wollen? Warum sprechen wir beispielsweise ständig Anhängern des FC Bayern („Klassische Erfolgsfans“), Wolfsburg („Schichtarbeiter mit Freikarte“) und der TSG Hoffenheim („Tennispublikum“) ab, das Fandasein in der nötigen emotionalen Tiefe erleben zu können. Nun, auf den ersten Blick ist das sicher eine klassische Reflexhandlung. Schließlich lesen wir ständig in sämtlichen Gazetten, dass Funktionäre und Spieler ebenfalls zu gerne Fans in echt und falsch einteilen.
Einziges Kriterium scheint dabei das dauerhafte Wohlverhalten auf den Rängen zu sein. Wer vor dem Spiel für einen halben Monatslohn im Fanshop einkauft, während des Spiels brav auf seinem Hintern sitzenbleibt und den „Fanclub Nationalmannschaft powered by schurkiger Getränkekonzern“ für eine aktive Fanszene hält, der bekommt von Bierhoff, Hummels, Löw & Co das Echtheitszertifikat verliehen. Das ist natürlich so grober Unfug, dass wir unwillkürlich sofort nach anderen Kriterien für Leidenschaft und Hingabe suchen. Doch auf eben dieser Suche landen wir rasch in argumentativen Sackgassen. Ein reichlich unzulässiges Kriterium ist etwa die Platzierung der Anhänger im Stadion.
Auf den Stehplatztraversen ist ja die Ansicht weitverbreitet, dass sich auf den Sitzschalen der Haupttribüne ausschließlich Gelegenheitsfans drängeln. Menschliche Wetterfähnchen, die bei der Vereinshymne brav das frisch erworbene Fähnchen schwenken, aber beim ersten Fehlpass anfangen, wüst über das eklatante Missverhältnis zwischen Eintrittspreis und Spielqualität zu mosern. Die mag es geben, ganz generell ist aber die Besetzung einer durchschnittlichen Haupttribüne eine überaus heterogene Szenerie. Verbitterte Meckerrentner, jähzornige Familienväter mit Sohn an der Hand, örtliche Elektrohändler mit Kleinsponsoren-Ticket und alteingesessene Freundeskreise sitzen da fröhlich durcheinander, ein bunter Mix aus Gelegenheitsbesuchern, langjährigen Anhängern und jenen Psychopathen, die bei der kleinsten Fehlentscheidung aufspringen und von ihren Kumpeln daran gehindert werden müssen, schnurstracks zum Zaun zu marschieren und den Linienrichter mit wüst herausgespuckten Verbalinjurien einzuschüchtern.
Auf den Sitzplätzen wiederum werden die Stehtribünen misstrauisch beäugt. Wenn auf den billigen Plätzen mal wieder eine Bengalfackel lodert, kernern Familienväter entrüstet („Die können bis zu drei Milliarden Grad heiß werden“) und halten dem Nachwuchs panisch die Ohren zu, wenn der Stammbaum des gegnerischen Keepers ins horizontale Milieu gesungen wird.
Ein ebenso lausiges Kriterium ist die Bereitschaft zur lautstarken Unterstützung der eigenen Mannschaft. Wer nicht neunzig Minuten lang mitsingt und den Schal schwenkt, selbst wenn die Mannschaft unten auf dem Rasen einen grausigen Stiefel zusammenkickt, gilt schnell als gefühlskalter und pflichtvergessener Eisblock. Doch der Eindruck täuscht nicht selten. Im Berliner Olympiastadion sah ich neulich einen schnauzbärtigen Mittvierziger, der neunzig Minuten nahezu bewegungslos auf seinem Sitz saß und nicht einmal bei Toren eine nennenswerte Regung zeigte. Ich wäre nicht überrascht gewesen, hätten Madame Tussauds Helfer den guten Mann irgendwann zurück in die Ausstellung gebracht. Als dann aber der Schlusspfiff den knappen Heimsieg der Hertha besiegelte, sprang der Herr auf und jubelte derart ekstatisch, als habe gerade Genscher auf dem Balkon zum Mikrofon gegriffen.
Zulässiges Kriterium: eine Portion Wahnsinn
Nicht einmal die häufige Präsenz bei Auswärtsspielen ist ein wirklich aussagekräftiges Indiz. Natürlich ist es lobenswert, wenn Anhänger jeden auswärtigen Kick mitnehmen, zumal wenn es an einem stark verregneten Sonntag im Herbst nach Rostock oder Dresden geht, wo dann eine deprimierende 0:3‑Klatsche droht und hinterher auf dem Parkplatz der Wagen nicht anspringt. Aber das ist eben nur etwas für Leute mit viel Tagesfreizeit oder Studenten in einem geisteswissenschaftlichen Magisterstudiengang. Und ein wenig unheimlich kommen die Leute schon daher, die sogar einen kurzfristig anberaumten Testkick in einem gottverlassenen niedersächsischen Marktflecken, bei dem hauptsächlich Jugendkicker zum Einsatz kommen, zum Anlass nehmen, auf der Arbeit einen schweren Blutsturz vorzutäuschen und sich dann ins Auto zu werfen, um nach stundenlanger Überlandfahrt rechtzeitig zum Anpfiff da zu sein.
Trotzdem kommen wir so der Sache schon näher, denn am Ende unterscheidet sich der knallharte Die-hard-Anhänger vom fahrigen Gelegenheitszuschauer durch jenen fußballspezifischen Wahnsinn, der ihn zahllose merkwürdige Dinge tun lässt. Zum Beispiel, sich im Urlaub in englischen Seebädern im Vollsuff kurzentschlossen örtlichen Tätowierern anzuvertrauen, die dann in schweißtreibender Arbeit das Vereinswappen in Übergröße auf den Rücken sticheln, was wegen der mangelnden Sprachkenntnisse oft zu unschönen Schreibfehlern („VfL Bohcum“) führt. Oder den Bus zum Auswärtsspiel zu verpassen und kurzerhand ein Taxi zu ordern, das dann für einen halben Monatslohn gerade noch rechtzeitig vor den Stadiontoren hält. Oder die eigene Hochzeit unter einem fadenscheinigen Vorwand so zu terminieren, dass sie an einem Länderspiel-Wochenende stattfindet und kein Ligaspiel verpasst wird („Mitte Oktober scheint sicher noch die Sonne, Schatz“). Oder seine Kinder vereinsspezifisch zu benennen wie ein geistesumnachteter Kumpel, der seine Tochter nicht nur mit dem Zweitnamen „Arminia“ ausstattete, sondern auch noch kongenial mit Nachnamen „Meister“ hieß.
Bis zum nächsten Spieltag
Ach, am Ende hat die Liebe viele Gesichter. Das gilt fürs Privatleben wie für den Fußball. Und manchmal ist dieses Gesicht auch sehr alt und sehr verbittert. Früher auf der Alm gab es auf der Haupttribüne nämlich einen Rentner, der sich bei anbahnenden Niederlagen etwa fünf Minuten vor dem Abpfiff ächzend erhob und dann gestützt auf seinen Gehstock die Treppe zum Ausgang hochmarschierte. Er tat das betont langsam, damit auch jeder im Stadion sehen konnte, dass er nun wirklich genug hatte. Auf dem Treppenabsatz drehte er sich noch einmal um und machte eine wegwerfende Handbewegung, in der sich alles bündelte, aller Frust über das schlechte Wetter, die niedrige Rente und über die Tatsache, trotz besseren Wissens schon wieder hergekommen zu sein. Er verließ nun das Stadion, um nie wiederzukehren. Ein heiliger Schwur, den er dann auch gehalten hat, jedenfalls bis zum nächsten Spieltag. Ein echter Fan eben.