In Wolfsburg gründen italienische Gastarbeiter 1962 den ersten Migrantenverein Deutschlands: U.S.I. Lupo-Martini. Beinahe hätten sie sogar dem großen VfL den Rang abgelaufen.
Dies ist ein Auszug aus unserem 11FREUNDE-Spezial „Amateure“. Alle Originale, Typen und Geschichten aus der Welt des Amateurfußballs findet ihr in diesem Heft, das am Kiosk eures Vertrauens oder direkt im 11FREUNDE-Shop erhältlich ist.
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Goldene Regel: Beginne niemals mit dem Wetter. Und auch nicht mit einer Taxifahrt. Aber egal, denn es nieselt, und der Taxifahrer in Wolfsburg hat seine Schicht gerade erst begonnen, als er zum Lupo Stadio fährt, dem Vereinsgelände des U.S.I. Lupo-Martini. „Italiener“, grummelt der Fahrer, „kleine Menschen, große Klappe.“ Ein paar Minuten später hält sein Wagen kurz hinter dem Tiergarten, nördliches Wolfsburg, ein „Ground Zero“ des deutschen Fußballs. Vor 55 Jahren gründeten italienische Werksarbeiter von Volkswagen hier einen Klub, der in seiner Art nicht mehr wegzudenken ist. Ein lebendiges Denkmal der Fußballgeschichte, der erste Migrantenverein in Deutschland.
Heute sind internationale Klubs in nahezu jeder deutschen Amateurliga zu finden. Sie heißen Türkgücü München, SC Bosna Hamburg oder HNK Croatia Köln. Ihre Geschichten erzählen vom Fußball, von Titeln und Aufstiegen, aber auch von Aufbruch und Heimweh. Schon an ihren Namen kann man diese Geschichten ablesen: Türkiyem, Name des wohl bekanntesten Migrantenvereins, heißt „meine Heimat Türkei“. Der Klub sollte zum Zuhause aller Türken in Berlin werden. So wie Lupo-Martini in Wolfsburg vielen Italienern zur neuen Familie wurde.
Im Vereinsheim von Lupo-Martini können sie über den Taxifahrer nur lachen. Hier riecht es nach Tomatensauce und alten Geschichten. Am Kopfende eines Tisches in der Mitte des Raums sitzt Rocco Lochiatto, 66 Jahre alt, kleingewachsen, Präsident und gute Seele des Klubs. „Kleine Menschen, große Klappe: Ja, das war so“, erinnert er sich an die ersten Jahre und legt ein Lächeln auf seine Lippen, „aber heute sagen sie es, weil sie ein bisschen neidisch sind.“
„Für meinen Vater war das … interessant, ne.“
Die Geschichte von Lupo-Martini ist eng verwoben mit der deutschen Wirtschaftswunderzeit. In Wolfsburg, bis 1945 die „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“, war nach dem Zweiten Weltkrieg nur durch das beherzte Eingreifen des britischen Majors Ivan Hirst nicht untergegangen. Statt der völligen Demontage des Autowerks erhielt Volkswagen schon kurz nach Kriegsende die ersten britischen Aufträge. Aufschwung, 21,5 Millionen VW-Käfer vom Fließband und ein Mangel an Arbeitskräften in den fünfziger Jahren. „Und genau da“, sagt Lochiatto, „kommen wir ins Spiel.“ Die zweite Adenauer-Regierung hatte das erste Abwerbeabkommen mit Italien unterzeichnet. Kurz darauf standen Vermittler auf den Straßen im Armen Süden Italiens und warben Gastarbeiter für die deutsche Wirtschaft an.
Mit Lochiatto am Tisch sitzt Francisco Coppi. Niemand verkörpert den Club Lupo-Martini so wie er, der das Traineramt in diesem Sommer nach 15 Jahren abtrat und nun als Sportlicher Leiter arbeitet. Aber würde er nicht gerade hier im Vereinsheim sitzen, nichts außer seinem Namen würde seine Wurzeln verraten. Perfektes Deutsch mit einem kleinen, im Niedersächsischen so beliebten „ne“ am Ende jedes Satzes. Coppi gehört, anders als Vereinspräsident Lochiatto, zur zweiten Generation von Italienern in Wolfsburg, er ist auch größer gewachsen. Seine Familie kam aus Siena in der Toskana nach Deutschland. „Für meinen Vater war das … interessant, ne.“ Ein seltsames Wort für die Bedingungen, die zu dieser Zeit neben dem Volkswagenwerk herrschen.
Der Konzern errichtet in der Nachkriegszeit auf einem Feld, ausgerechnet dort, wo heute die imposante Arena des VfL steht, Baracken für die Gastarbeiter. Coppis Vater teilt sich zwölf Quadratmeter mit drei weiteren Männern, Freunden, die in Etagenbetten schlafen. Dazu ein Tisch und vier Stühle. Eine Nasszelle am Ende des Ganges. Und auch wenn der Arbeitgeber das nazifizierte Wort „Lager“ unter aller Anstrengung und mit einer betrieblichen Anweisung vermeidet, es ist genau das: ein Lager. „Aber“, sagt Coppi, „es waren saubere Zimmer, eine gute Atmosphäre. Abends wurde gemeinsam gekocht.“
„Drei Dinge, die der Italiener gerne macht: In die Bar gehen, Kaffee trinken und Fußballspielen“
„Spaghettifresser“, das ist zu dieser Zeit noch das netteste Wort, das die Italiener hören, wenn sie aus dem Lager treten und durch die Stadt spazieren. Nicht an jeder Ecke herrscht Willkommenskultur. 1948 hat die Deutsche Rechtspartei in Wolfsburg noch über 60 Prozent in einer Wahl erhalten, die später aus formellen Gründen annulliert wird. Die Baracken werden zu einem gemütlich eingerichteten Provisorium, denn anfangs hat niemand damit gerechnet, dass die Gäste langfristig bleiben. Aushilfen in einer konjunkturell starken Zeit. Doch in Wolfsburg nähern sich die Kulturen an, in der Kantine wird bald herzzerreißend gute Pasta serviert, und der örtliche Supermarkt hält Salsiccia bereit. Die Gäste bleiben trotz Ölkrisen und Konjunkturtiefs – und haben auch mal andere Dinge als die Arbeit im Kopf. Die Zeit von Lupo-Martini Wolfsburg beginnt genau jetzt.
„Es gibt drei Dinge, die der Italiener gerne macht: In die Bar gehen, Kaffee trinken und Fußballspielen“, sagt Francisco Coppi. Zwischen den Baracken spielen sie in der Freizeit die ersten Turniere aus, die Sozialabteilung von VW erkennt daraufhin das Potential der Sportart und gründet 1962 mit Hilfe des Werkspriesters Don Parenti den ersten Fußballverein für die italienischen Gastarbeiter: den Sportclub Lupo. Die italienischen Wölfe stehen fortan auf dem Fußballplatz und jagen dem Ball hinterher.
„Erst einmal waren es nur Freundschaftsspiele“, erinnert sich Lochiatto. Vor der endgültigen Zulassung muss der Niedersächsische Fußball-Verband an seinem eigenen Regelwerk rütteln. Bisher ist nur ein Ausländer pro Mannschaft zugelassen, in einem Verein von Gastarbeitern schlicht unmöglich. Seit Lupo spielt, dürfen elf Ausländer in den Amateurklassen auf dem Platz stehen. Nach nur einem Jahr erhalten sie die Zulassung. „Bis dahin waren wir wie die chinesische U20“, sagt Lochiatto, „nur ohne Geld. Nur mit unseren Herzen.“
Denn die italienische Barackenauswahl ist fortan gefürchtet, startet gleich zwei Ligen über der untersten Klasse – weil allen klar ist, dass diese Mannschaft sonst nicht zu schlagen ist. Früh haben die Spieler die deutsche, körperbetonte Weise assimiliert und erwartet ihre Gäste nun auf dem Ascheplatz an der Berliner Brücke, umringt von bis zu 1000 begeisterten Landsleuten und den bedrohlich wirkenden, qualmenden Ziegelschornsteinen des VW-Werks in Sichtweite. Wer aufs Spielfeld möchte, muss sich durch die Masse kämpfen, und dort beginnt der Spaß dann erst. „Wahrscheinlich hätten wir mit noch größerem Abstand die Meisterschaft geholt, wenn wir nicht ständig Strafen wegen Schiedsrichterbeleidigungen bekommen hätten. In einem Jahr wurden uns 15 Punkte abgezogen – und wir sind trotzdem Meister geworden“, sagt Lochiatto.
„Kleine Leute mit einer großen Klappe“
Lupo ist bis dahin eine Erfolgsgeschichte. Doch das Verhältnis zu den Deutschen bleibt ambivalent. Sprüche unter der Gürtellinie sind an der Tagesordnung. Lupos Spieler fühlen sich von den Schiedsrichtern regelmäßig verschaukelt; weil der Wortschatz in der Emotion keine differenzierte Diskussion zulässt, wird es eben beleidigend. Die Gegner reagieren entsprechend und schieben den Ärger auf die Kulturen, die aufeinanderprallen. „Damals passte das schon: Kleine Leute mit einer großen Klappe waren wir“, sagt Lochiatto. Und trotzdem sind viele Vereine vom Besuch der Italiener abhängig.
Mit VW-Bussen werden hunderte zahlende Zuschauer zu den Sportplätzen der Region gebracht. Mancher Verein kann sich nach einem Spiel gegen Lupo Wolfsburg finanziell neu aufstellen. Als die ersten Deutschen die Seiten wechseln und bei Lupo kicken, werden sie angefeindet. Wer spielt schon mit den Kanaken, heißt es. Die Gewinner, antworten sie. 1981, als der Verein die Bezirksklasse erreicht und die Spieler längst aus dem Lager und in kleine Wohnungen gezogen sind, um Familien zu gründen, fusioniert Lupo mit U.S. Martini, dem zweiten italienischen Klub in Wolfsburg. Seitdem heißt es: Willkommen bei Unione Sportiva Italiana Lupo-Martini Wolfsburg. Trotz der Reibereien kommen die Gegner nach Abpfiff oft ins Centro Italiano, das Gemeindezentrum Wolfsburgs. Dort wird italienisch gegessen, italienisch getrunken, italienisch gefeiert. Und in einem Hinterzimmer, das so manche Geschichte miterlebt hat, entsteht das erste Klubhaus der U.S.I.
„Vergleichbar mit den Türken in Kreuzberg“
Lupo-Martini Wolfsburg – für Giuseppe Genetiempro, den stets engagierten Spartenleiter, der mit am Tisch sitzt und sich über alte Fotos beugt, ist das mehr als ein Verein. Als Kind ist das Wochenende für ihn ein einziges Fest. Wenn sein Vater den kleinen Peppino mit zum Sportplatz nimmt, die Luft nach Pizza und Pasta riecht und auf dem Platz die Auswahl der Italiener den nächsten Gegner vom Ascheplatz fegt. „Wenn ich sonntags nicht zum Spiel durfte, weil ich am nächsten Tag eine Klassenarbeit schrieb, saß ich heulend in meinem Zimmer“, erinnert sich Genetiempro, der noch heute Peppino gerufen wird.
Weil der Verein zu dieser Zeit noch keine Jugendabteilung betreibt, kann Genetiempro, der Torwart, erst kurz vor dem Übergang in die Herrenmannschaft wechseln. Dann steht er mit seinen hellen Locken zwischen den Pfosten. „Als ich das erste Mal in der Kabine saß und mein Trikot angezogen habe“, sagt Genetiempro, „das war ein grandioses Gefühl.“ Anfangs laufen seine Landsleute noch mit dem italienischen Wappen auf. Das Logo der U.S.I Lupo-Martini bedeutet den Spielern nicht weniger. „Als Italiener bist du irgendwann bei Lupo gelandet“, sagt Genetiempro. Und Lochiatto, der Vorsitzende, legt drauf: „Sie sind alle hier gelandet. Das war ein Muss.“
Deshalb kehrt eines Tages auch Francisco Coppi zurück. 1969 noch im Lager, dem „Italien-Dorf“, geboren, bezeichnet die „Wolfsburger Allgemeine Zeitung“ Coppi schon im Jugendalter als das „größte Fußballtalent der Region“. 1992 holt ihn der Zweitligist VfL Wolfsburg in die Mannschaft. Als Coppis Talent dort nicht weiter gefördert wird, er auf der Bank zu versauern droht, wechselt er zurück und spielt wieder mit dem Lupo-Martini-Logo auf der Brust. Der italienische Fußball kann es fast mit dem besten Verein der Stadt aufnehmen, weil die Gemeinde immer weiter wächst. Lochiatto sagt: „Es gab eine Zeit, da haben fast 15 000 Italiener hier gelebt. Vergleichbar mit den Türken in Kreuzberg.“
Es gibt einige Parallelen zwischen den Berliner Türken von Türkiyemspor und den Wolfsburger Italienern. In Berlin wurde etwa jahrelang der Atatürkpokal ausgespielt, ausgerichtet von den Konsulatsstellen in Deutschland. In regionalen Vorrunden qualifizierten sich die Teams, um den Meister unter den Deutsch-Türken auszuspielen. Er hatte für die Spieler einen höheren Stellenwert als die reguläre Meisterschaft. „Gab’s bei uns auch“, schmatzt Lochiatto. An einem Wochenende reisten alle Italiener mit Bussen aus den Kolonien des Landes nach Wolfsburg. Es sind die Hochfeste der Gastarbeiterkultur, einerseits. Für Kritiker verstärken sie aber auch den Eindruck, dass Fußball auch Abschottung bedeutet.
Lupo-Martini hat sich aber geöffnet. Heute spielt kaum noch ein Italiener in der Oberliga-Mannschaft. Über 6000 Landsleute leben zwar noch immer in der Stadt, aber „irgendwann musst du dir die Frage stellen: was wollen wir? Und für die Oberliga reichen nicht nur Italiener“, weiß Rocco Lochiatto. Oberliga, das ist heute kaum noch mit Amateuren zu bestreiten. Deutsche, Polen, Kroaten, Ghanaer – genau genommen interessiert das aber auch niemanden.
Immer noch Vorbild für Vereine in ganz Deutschland
Trainer ist Ex-Bundesligaprofi Detlev Dammeier, der längst keine Regularien mehr beachten muss, aus welchen Ländern seine Spieler stammen. Und der Ascheplatz ist einem modernen Kunstrasen gewichen. Der Verein, so vielfältig wie seine Stadt und ihre Einwohner. „Früher war jeder Italiener bei Lupo“, sagt Genetiempro, „heute ist das nicht mehr unbedingt der Fall.“ Aus dem „Italiana“ in U.S.I. ist längst ein „Internazionale“ geworden. „Früher“, das ist für Peppino Genetiempro die Zeit, in der das Trikot der eigenen Gemeinde noch die Welt für einen jungen Mann bedeuten konnte. Nach der Schicht noch auf den Platz? Das war an manchen Tagen der pure Schmerz, der durch die Muskeln schoss. Wer zum Rudel der Wölfe gehören wollte, musste was dafür tun.
Heute hat Lupo-Martini andere Sorgen. Als Absteiger versucht sich der Verein neu in der Oberliga zu etablieren. „Langsam wird es Zeit“, sagt Coppi, der den Verein unbedingt noch einmal in die Regionalliga Nord führen möchte. Beim Aufstieg vor zwei Jahren war das Postfach von Lupo-Martini, trotz der großen Klappe, bis zum Rand gefüllt. Migrantenvereine aus ganz Deutschland hatten den Pionieren aus Wolfsburg gratuliert.