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Dies ist ein Auszug aus unserem 11FREUNDE-Spe­zial Ama­teure“. Alle Ori­gi­nale, Typen und Geschichten aus der Welt des Ama­teur­fuß­balls findet ihr in diesem Heft, das am Kiosk eures Ver­trauens oder direkt im 11FREUNDE-Shop erhält­lich ist.

Außerdem steigt morgen zum zweiten Mal der Tag der Ama­teure. Wie im ver­gan­genen Jahr soll sich in der Län­der­spiel­pause einen Tag lang alles um unsere Liebe zum Ama­teur­fuß­ball drehen. Ihr wollt mit eurem Verein dabei sein? Hier ent­lang.

Gol­dene Regel: Beginne nie­mals mit dem Wetter. Und auch nicht mit einer Taxi­fahrt. Aber egal, denn es nie­selt, und der Taxi­fahrer in Wolfs­burg hat seine Schicht gerade erst begonnen, als er zum Lupo Stadio fährt, dem Ver­eins­ge­lände des U.S.I. Lupo-Mar­tini. Ita­liener“, grum­melt der Fahrer, kleine Men­schen, große Klappe.“ Ein paar Minuten später hält sein Wagen kurz hinter dem Tier­garten, nörd­li­ches Wolfs­burg, ein Ground Zero“ des deut­schen Fuß­balls. Vor 55 Jahren grün­deten ita­lie­ni­sche Werks­ar­beiter von Volks­wagen hier einen Klub, der in seiner Art nicht mehr weg­zu­denken ist. Ein leben­diges Denkmal der Fuß­ball­ge­schichte, der erste Migran­ten­verein in Deutsch­land.

Heute sind inter­na­tio­nale Klubs in nahezu jeder deut­schen Ama­teur­liga zu finden. Sie heißen Türk­gücü Mün­chen, SC Bosna Ham­burg oder HNK Croatia Köln. Ihre Geschichten erzählen vom Fuß­ball, von Titeln und Auf­stiegen, aber auch von Auf­bruch und Heimweh. Schon an ihren Namen kann man diese Geschichten ablesen: Tür­kiyem, Name des wohl bekann­testen Migran­ten­ver­eins, heißt meine Heimat Türkei“. Der Klub sollte zum Zuhause aller Türken in Berlin werden. So wie Lupo-Mar­tini in Wolfs­burg vielen Ita­lie­nern zur neuen Familie wurde.

Im Ver­eins­heim von Lupo-Mar­tini können sie über den Taxi­fahrer nur lachen. Hier riecht es nach Toma­ten­sauce und alten Geschichten. Am Kopf­ende eines Tisches in der Mitte des Raums sitzt Rocco Loch­iatto, 66 Jahre alt, klein­ge­wachsen, Prä­si­dent und gute Seele des Klubs. Kleine Men­schen, große Klappe: Ja, das war so“, erin­nert er sich an die ersten Jahre und legt ein Lächeln auf seine Lippen, aber heute sagen sie es, weil sie ein biss­chen nei­disch sind.“

Für meinen Vater war das … inter­es­sant, ne.“ 

Die Geschichte von Lupo-Mar­tini ist eng ver­woben mit der deut­schen Wirt­schafts­wun­der­zeit. In Wolfs­burg, bis 1945 die Stadt des KdF-Wagens bei Fal­lers­leben“, war nach dem Zweiten Welt­krieg nur durch das beherzte Ein­greifen des bri­ti­schen Majors Ivan Hirst nicht unter­ge­gangen. Statt der völ­ligen Demon­tage des Auto­werks erhielt Volks­wagen schon kurz nach Kriegs­ende die ersten bri­ti­schen Auf­träge. Auf­schwung, 21,5 Mil­lionen VW-Käfer vom Fließ­band und ein Mangel an Arbeits­kräften in den fünf­ziger Jahren. Und genau da“, sagt Loch­iatto, kommen wir ins Spiel.“ Die zweite Ade­nauer-Regie­rung hatte das erste Abwer­be­ab­kommen mit Ita­lien unter­zeichnet. Kurz darauf standen Ver­mittler auf den Straßen im Armen Süden Ita­liens und warben Gast­ar­beiter für die deut­sche Wirt­schaft an.

Mit Loch­iatto am Tisch sitzt Fran­cisco Coppi. Nie­mand ver­kör­pert den Club Lupo-Mar­tini so wie er, der das Trai­neramt in diesem Sommer nach 15 Jahren abtrat und nun als Sport­li­cher Leiter arbeitet. Aber würde er nicht gerade hier im Ver­eins­heim sitzen, nichts außer seinem Namen würde seine Wur­zeln ver­raten. Per­fektes Deutsch mit einem kleinen, im Nie­der­säch­si­schen so beliebten ne“ am Ende jedes Satzes. Coppi gehört, anders als Ver­eins­prä­si­dent Loch­iatto, zur zweiten Gene­ra­tion von Ita­lie­nern in Wolfs­burg, er ist auch größer gewachsen. Seine Familie kam aus Siena in der Tos­kana nach Deutsch­land. Für meinen Vater war das … inter­es­sant, ne.“ Ein selt­sames Wort für die Bedin­gungen, die zu dieser Zeit neben dem Volks­wa­gen­werk herr­schen.

Der Kon­zern errichtet in der Nach­kriegs­zeit auf einem Feld, aus­ge­rechnet dort, wo heute die impo­sante Arena des VfL steht, Bara­cken für die Gast­ar­beiter. Coppis Vater teilt sich zwölf Qua­drat­meter mit drei wei­teren Män­nern, Freunden, die in Eta­gen­betten schlafen. Dazu ein Tisch und vier Stühle. Eine Nass­zelle am Ende des Ganges. Und auch wenn der Arbeit­geber das nazi­fi­zierte Wort Lager“ unter aller Anstren­gung und mit einer betrieb­li­chen Anwei­sung ver­meidet, es ist genau das: ein Lager. Aber“, sagt Coppi, es waren sau­bere Zimmer, eine gute Atmo­sphäre. Abends wurde gemeinsam gekocht.“

Drei Dinge, die der Ita­liener gerne macht: In die Bar gehen, Kaffee trinken und Fuß­ball­spielen“

Spa­ghet­ti­fresser“, das ist zu dieser Zeit noch das net­teste Wort, das die Ita­liener hören, wenn sie aus dem Lager treten und durch die Stadt spa­zieren. Nicht an jeder Ecke herrscht Will­kom­mens­kultur. 1948 hat die Deut­sche Rechts­partei in Wolfs­burg noch über 60 Pro­zent in einer Wahl erhalten, die später aus for­mellen Gründen annul­liert wird. Die Bara­cken werden zu einem gemüt­lich ein­ge­rich­teten Pro­vi­so­rium, denn anfangs hat nie­mand damit gerechnet, dass die Gäste lang­fristig bleiben. Aus­hilfen in einer kon­junk­tu­rell starken Zeit. Doch in Wolfs­burg nähern sich die Kul­turen an, in der Kan­tine wird bald herz­zer­rei­ßend gute Pasta ser­viert, und der ört­liche Super­markt hält Sal­siccia bereit. Die Gäste bleiben trotz Ölkrisen und Kon­junk­tur­tiefs – und haben auch mal andere Dinge als die Arbeit im Kopf. Die Zeit von Lupo-Mar­tini Wolfs­burg beginnt genau jetzt.

Es gibt drei Dinge, die der Ita­liener gerne macht: In die Bar gehen, Kaffee trinken und Fuß­ball­spielen“, sagt Fran­cisco Coppi. Zwi­schen den Bara­cken spielen sie in der Frei­zeit die ersten Tur­niere aus, die Sozi­al­ab­tei­lung von VW erkennt dar­aufhin das Poten­tial der Sportart und gründet 1962 mit Hilfe des Werk­spries­ters Don Parenti den ersten Fuß­ball­verein für die ita­lie­ni­schen Gast­ar­beiter: den Sport­club Lupo. Die ita­lie­ni­schen Wölfe stehen fortan auf dem Fuß­ball­platz und jagen dem Ball hin­terher. 

Erst einmal waren es nur Freund­schafts­spiele“, erin­nert sich Loch­iatto. Vor der end­gül­tigen Zulas­sung muss der Nie­der­säch­si­sche Fuß­ball-Ver­band an seinem eigenen Regel­werk rüt­teln. Bisher ist nur ein Aus­länder pro Mann­schaft zuge­lassen, in einem Verein von Gast­ar­bei­tern schlicht unmög­lich. Seit Lupo spielt, dürfen elf Aus­länder in den Ama­teur­klassen auf dem Platz stehen. Nach nur einem Jahr erhalten sie die Zulas­sung. Bis dahin waren wir wie die chi­ne­si­sche U20“, sagt Loch­iatto, nur ohne Geld. Nur mit unseren Herzen.“

Denn die ita­lie­ni­sche Bara­cken­aus­wahl ist fortan gefürchtet, startet gleich zwei Ligen über der untersten Klasse – weil allen klar ist, dass diese Mann­schaft sonst nicht zu schlagen ist. Früh haben die Spieler die deut­sche, kör­per­be­tonte Weise assi­mi­liert und erwartet ihre Gäste nun auf dem Asche­platz an der Ber­liner Brücke, umringt von bis zu 1000 begeis­terten Lands­leuten und den bedroh­lich wir­kenden, qual­menden Zie­gels­chorn­steinen des VW-Werks in Sicht­weite. Wer aufs Spiel­feld möchte, muss sich durch die Masse kämpfen, und dort beginnt der Spaß dann erst. Wahr­schein­lich hätten wir mit noch grö­ßerem Abstand die Meis­ter­schaft geholt, wenn wir nicht ständig Strafen wegen Schieds­rich­ter­be­lei­di­gungen bekommen hätten. In einem Jahr wurden uns 15 Punkte abge­zogen – und wir sind trotzdem Meister geworden“, sagt Loch­iatto.

Kleine Leute mit einer großen Klappe“

Lupo ist bis dahin eine Erfolgs­ge­schichte. Doch das Ver­hältnis zu den Deut­schen bleibt ambi­va­lent. Sprüche unter der Gür­tel­linie sind an der Tages­ord­nung. Lupos Spieler fühlen sich von den Schieds­rich­tern regel­mäßig ver­schau­kelt; weil der Wort­schatz in der Emo­tion keine dif­fe­ren­zierte Dis­kus­sion zulässt, wird es eben belei­di­gend. Die Gegner reagieren ent­spre­chend und schieben den Ärger auf die Kul­turen, die auf­ein­an­der­prallen. Damals passte das schon: Kleine Leute mit einer großen Klappe waren wir“, sagt Loch­iatto. Und trotzdem sind viele Ver­eine vom Besuch der Ita­liener abhängig.

Mit VW-Bussen werden hun­derte zah­lende Zuschauer zu den Sport­plätzen der Region gebracht. Man­cher Verein kann sich nach einem Spiel gegen Lupo Wolfs­burg finan­ziell neu auf­stellen. Als die ersten Deut­schen die Seiten wech­seln und bei Lupo kicken, werden sie ange­feindet. Wer spielt schon mit den Kanaken, heißt es. Die Gewinner, ant­worten sie. 1981, als der Verein die Bezirks­klasse erreicht und die Spieler längst aus dem Lager und in kleine Woh­nungen gezogen sind, um Fami­lien zu gründen, fusio­niert Lupo mit U.S. Mar­tini, dem zweiten ita­lie­ni­schen Klub in Wolfs­burg. Seitdem heißt es: Will­kommen bei Unione Spor­tiva Ita­liana Lupo-Mar­tini Wolfs­burg. Trotz der Rei­be­reien kommen die Gegner nach Abpfiff oft ins Centro Ita­liano, das Gemein­de­zen­trum Wolfs­burgs. Dort wird ita­lie­nisch gegessen, ita­lie­nisch getrunken, ita­lie­nisch gefeiert. Und in einem Hin­ter­zimmer, das so manche Geschichte mit­er­lebt hat, ent­steht das erste Klub­haus der U.S.I.

Ver­gleichbar mit den Türken in Kreuz­berg“

Lupo-Mar­tini Wolfs­burg – für Giu­seppe Gene­tiempro, den stets enga­gierten Spar­ten­leiter, der mit am Tisch sitzt und sich über alte Fotos beugt, ist das mehr als ein Verein. Als Kind ist das Wochen­ende für ihn ein ein­ziges Fest. Wenn sein Vater den kleinen Pep­pino mit zum Sport­platz nimmt, die Luft nach Pizza und Pasta riecht und auf dem Platz die Aus­wahl der Ita­liener den nächsten Gegner vom Asche­platz fegt. Wenn ich sonn­tags nicht zum Spiel durfte, weil ich am nächsten Tag eine Klas­sen­ar­beit schrieb, saß ich heu­lend in meinem Zimmer“, erin­nert sich Gene­tiempro, der noch heute Pep­pino gerufen wird.

Weil der Verein zu dieser Zeit noch keine Jugend­ab­tei­lung betreibt, kann Gene­tiempro, der Tor­wart, erst kurz vor dem Über­gang in die Her­ren­mann­schaft wech­seln. Dann steht er mit seinen hellen Locken zwi­schen den Pfosten. Als ich das erste Mal in der Kabine saß und mein Trikot ange­zogen habe“, sagt Gene­tiempro, das war ein gran­dioses Gefühl.“ Anfangs laufen seine Lands­leute noch mit dem ita­lie­ni­schen Wappen auf. Das Logo der U.S.I Lupo-Mar­tini bedeutet den Spie­lern nicht weniger. Als Ita­liener bist du irgend­wann bei Lupo gelandet“, sagt Gene­tiempro. Und Loch­iatto, der Vor­sit­zende, legt drauf: Sie sind alle hier gelandet. Das war ein Muss.“

Des­halb kehrt eines Tages auch Fran­cisco Coppi zurück. 1969 noch im Lager, dem Ita­lien-Dorf“, geboren, bezeichnet die Wolfs­burger All­ge­meine Zei­tung“ Coppi schon im Jugend­alter als das größte Fuß­ball­ta­lent der Region“. 1992 holt ihn der Zweit­li­gist VfL Wolfs­burg in die Mann­schaft. Als Coppis Talent dort nicht weiter geför­dert wird, er auf der Bank zu ver­sauern droht, wech­selt er zurück und spielt wieder mit dem Lupo-Mar­tini-Logo auf der Brust. Der ita­lie­ni­sche Fuß­ball kann es fast mit dem besten Verein der Stadt auf­nehmen, weil die Gemeinde immer weiter wächst. Loch­iatto sagt: Es gab eine Zeit, da haben fast 15 000 Ita­liener hier gelebt. Ver­gleichbar mit den Türken in Kreuz­berg.“

Es gibt einige Par­al­lelen zwi­schen den Ber­liner Türken von Tür­ki­y­em­spor und den Wolfs­burger Ita­lie­nern. In Berlin wurde etwa jah­re­lang der Ata­türk­pokal aus­ge­spielt, aus­ge­richtet von den Kon­su­lats­stellen in Deutsch­land. In regio­nalen Vor­runden qua­li­fi­zierten sich die Teams, um den Meister unter den Deutsch-Türken aus­zu­spielen. Er hatte für die Spieler einen höheren Stel­len­wert als die regu­läre Meis­ter­schaft. Gab’s bei uns auch“, schmatzt Loch­iatto. An einem Wochen­ende reisten alle Ita­liener mit Bussen aus den Kolo­nien des Landes nach Wolfs­burg. Es sind die Hoch­feste der Gast­ar­bei­ter­kultur, einer­seits. Für Kri­tiker ver­stärken sie aber auch den Ein­druck, dass Fuß­ball auch Abschot­tung bedeutet.

Lupo-Mar­tini hat sich aber geöffnet. Heute spielt kaum noch ein Ita­liener in der Ober­liga-Mann­schaft. Über 6000 Lands­leute leben zwar noch immer in der Stadt, aber irgend­wann musst du dir die Frage stellen: was wollen wir? Und für die Ober­liga rei­chen nicht nur Ita­liener“, weiß Rocco Loch­iatto. Ober­liga, das ist heute kaum noch mit Ama­teuren zu bestreiten. Deut­sche, Polen, Kroaten, Gha­naer – genau genommen inter­es­siert das aber auch nie­manden.

Immer noch Vor­bild für Ver­eine in ganz Deutsch­land

Trainer ist Ex-Bun­des­li­ga­profi Detlev Dam­meier, der längst keine Regu­la­rien mehr beachten muss, aus wel­chen Län­dern seine Spieler stammen. Und der Asche­platz ist einem modernen Kunst­rasen gewi­chen. Der Verein, so viel­fältig wie seine Stadt und ihre Ein­wohner. Früher war jeder Ita­liener bei Lupo“, sagt Gene­tiempro, heute ist das nicht mehr unbe­dingt der Fall.“ Aus dem Ita­liana“ in U.S.I. ist längst ein Inter­na­zio­nale“ geworden. Früher“, das ist für Pep­pino Gene­tiempro die Zeit, in der das Trikot der eigenen Gemeinde noch die Welt für einen jungen Mann bedeuten konnte. Nach der Schicht noch auf den Platz? Das war an man­chen Tagen der pure Schmerz, der durch die Mus­keln schoss. Wer zum Rudel der Wölfe gehören wollte, musste was dafür tun.

Heute hat Lupo-Mar­tini andere Sorgen. Als Absteiger ver­sucht sich der Verein neu in der Ober­liga zu eta­blieren. Langsam wird es Zeit“, sagt Coppi, der den Verein unbe­dingt noch einmal in die Regio­nal­liga Nord führen möchte. Beim Auf­stieg vor zwei Jahren war das Post­fach von Lupo-Mar­tini, trotz der großen Klappe, bis zum Rand gefüllt. Migran­ten­ver­eine aus ganz Deutsch­land hatten den Pio­nieren aus Wolfs­burg gra­tu­liert.