Die Liste der Standortnachteile von Grimsby ist lang: hässliche Stadt, farbloser Klub, latenter Fischgestank. Doch die Stadt hat auch einen großen Vorteil: völlig durchgeknallte Fans.
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Diane schaut besorgt. „Pass auf dich auf, wenn du in diese Straßen gehst“, sagt sie, eine herzliche Dame mittleren Alters, und zeigt schräg nach links, eine kleine Anhöhe hinauf. Diane kennt hier jede Ecke. Hier in Grimsby, dieser Stadt, deren Name allein Frösteln hervorruft. Deren zwei Silben klingen wie in Laut gegossene Traurigkeit. Grimsby, das ist die Stadt, die letztes Jahr bei Abstimmungen von verschiedenen Onlinemedien zum „worst place to live in the UK“ gewählt wurde. Also zum schlimmsten Ort, an dem man in Großbritannien leben kann. Und wer schon einmal eine Industriestadt im Norden Englands besucht hat, weiß, dass die Konkurrenz in diesem Wettbewerb hoch ist.
Grimsby war mal der Stolz der britischen Fischerei, nun stehen am Hafen so viele Gebäude leer, dass das Knarzen ihrer Türen bei Windstößen zu hören ist. In der Dunkelheit dient die Tesco-Leuchtschrift als Laternenersatz, rote Backsteinhäuser mit kleinen Vordächern reihen sich aneinander, hier ein Pfandleihhaus, da ein Studio zum Weglasern von Tattoos, davor hat jemand einen verbeulten Armeetruck geparkt. Nicht mal großen Fußball mag es hier geben, doch dafür, heißt es, die besten Auswärtsfans Englands. Selbst Dianes Jacke erzählt davon, sie trägt einen Button am Kragen mit der Aufschrift „Clap, clap, fish“. Ein Spruch, den man erst später versteht, auf der Reise mit Grimsby Town FC.
Let’s go fucking mental
An der Grimsby Road ist es am frühen Abend noch leise, doch der Lärm der abzweigenden Straßen dröhnt zwischen den Häusern herüber. Warum soll man aufpassen in diesen Straßen, Diane? Sind dort die harten Jungs unterwegs, die Mobster von Grimsby etwa? „Nein, nein, schlimmer“, entgegnete sie. „Heute ist Mad Friday. Die ganzen Büroangestellten und Lehrer machen einen drauf. Das nimmt kein gutes Ende.“ Diane wiegt den Schlüsselbund leicht in der Hand, dreht sich um und verabschiedet sich mit dieser trockenen Pointe in ihr Haus. Mad Friday – das ist der letzte Freitag vor den Weihnachtsfeiertagen. Der Tag, an dem sich nicht wenige Engländer, egal ob Büroangestellte oder Lehrer, zwischen all der Besinnlichkeit besinnungslos trinken. Bilder der Exzesse in Leeds, in Manchester, in Birmingham füllen anderntags ganze Zeitungsseiten. Und Grimsby lässt sich bei dieser Tradition nicht zweimal bitten.
In den Nebenstraßen tropfen Jungs mit glasigen Augen aus den Pubs. Vor den Eingängen entledigen sich manche Männer ihrer Hosen, Frauen ihrer hochhackigen Schuhe, die Frontscheiben der Autos werden mit Fish & Chips eingeseift. Drinnen tanzen selbst betagte Damen im Stile von Beyoncé und geben Pfundnoten mit dem Mund weiter. Gegen die wabernde, freudetrunkene Masse in Grimsby wirkt selbst der Kölner Karneval wie eine Partie Rommé im Kanonikerstift. Doch stellt man gegenüber Einwohnern fest, was dies hier für eine wilde Party sei, antworten diese nur mit einem Kopfschütteln. Das hier? Nein, nein. Morgen, mein Freund, da geht es los. Morgen spielt Grimsby Town FC. Auswärts. Vierte englische Liga. Wenn der Klub irgendwo in England antritt, dann drehen sie durch. Oder wie es hier heißt: Let’s go fucking mental!
Unterwegs im Namen von Grimsby
07.30 Uhr am Samstagmorgen, Matchday. Um halb eins tritt Grimsby in Doncaster an, vierte Liga, keine TV-Übertragung, kein Spiel für Eilmeldungen. Iain und Josh tuckern in ihrem Kleinwagen über die Autobahn M180. Die beiden sind unterwegs im Namen von Grimsby, schließlich sind sie die Innenverteidigung des Fanteams. Egal ob in Cardiff oder in Barnet – bevor sie in den Auswärtsblock gehen, um ihre Mannschaft anzufeuern, tragen sie selbst ein Spiel gegen die Fans des Heimteams aus.
Im Kofferraum wackeln die Bälle und die schwarzweißen Trikots, vorne ruckelt der halbleere Kaffeebecher von McDonald’s in der Halterung. Auf dem Beifahrersitz hängt Iain, 30 Jahre alt, ein plaudernder Mathelehrer, der sich vornehm für jedes Räuspern entschuldigt. Seine Eltern sind aus Irland nach Grimsby gezogen, da war er zwei Jahre alt. Josh, der Fahrer, ist 21 und Kfz-Mechaniker, ein langer Kerl, er spricht nicht mehr als verlangt. „Ich wohne nicht direkt in Grimsby, sondern etwas außerhalb, in Boston“, sagt er. Sein Kumpel Iain schaut aus dem Fenster und murmelt zwischen zwei Bissen in sein Fast-Food-Frühstück: „Irgendwie schon komisch, Josh.“ Pause. „Was?“, fragt Josh. Ian blickt seinen Freund nun an. „Ich meine, du stammst aus Boston und hast nicht mal einen zwölften Finger oder ein drittes Nasenloch oder so. Du musst dort ein ziemlich ungewöhnlicher Typ sein.“ Josh betätigt den Blinker.