Nun, da die Geisterspiele wahrscheinlich kommen, wird überlegt, wie man sie erträglich gestalten kann. Fan-Attrappen auf den Rängen, Stimmung vom Band? Das wäre jedenfalls nichts Neues.
Düsseldorf, du hast es gut! Fast könnte man glauben, beim Bau von Fortunas Arena hätten die Planer die Ära der Geisterspiele schon vorausgeahnt. Diese Kicks sind ja auch deswegen so nervig, weil selbst die Übertragungen von Spitzenspielen wirken, als kämen sie von irgendeiner Bezirkssportanlage im Sauerland. In Düsseldorf hat man dagegen vorgesorgt und nach einem ausgeklügelten System farbige Sitze eingebaut, die den Eindruck erwecken sollen, die Tribünen wären gut gefüllt.
In den meisten anderen Stadien muss man sich dagegen etwas einfallen lassen. Gladbachs Anhänger sorgten europaweit für Schlagzeilen, weil sie lebensgroße Pappfiguren auf den Rängen aufgestellt haben. Sogar die BBC berichtete über die Aktion der Fohlenfans („Cut-out and keep supporting your team“), dabei ging ein großer englischer Klub schon vor geraumer Zeit einen Schritt weiter.
Die Rede ist vom FC Arsenal, der vor fast drei Jahrzehnten im Zuge der Versitzplatzung in England die berühmte Stehtribüne des alten Highbury-Stadions abreißen ließ, die North Bank. Weil der Klub nicht wollte, dass seine Stürmer während der Arbeiten auf eine Baustelle spielen mussten, wurde die gesamte Nordseite des Stadions im August 1992 durch eine riesige Vinyl-Plane verdeckt, auf die man Fans malte. Die Aktion sorgte als Arsenal Mural für einige Aufregung, und zwar nicht so sehr wegen der Sache an sich … sondern weil alle aufgemalten Fans weiß waren.
Kaum hatte der Klub dieses Missgeschick repariert, wurden Stimmen laut, die fragten, warum so wenige Frauen auf dem Bild wären. So pinselte Arsenal noch 1000 weibliche Fans auf die Plane, darunter auch vier Nonnen. (Angeblich traf Arsenals Lee Dixon eine von ihnen mit einem verunglückten Schuss ins Gesicht, was für neuen Ärger sorgte.) Wo man schon mal dabei war, fügte man dem Bild auch einige Sikhs hinzu, um Arsenals Anhang indischer Abstammung zu würdigen. Allerdings gingen die Maler nun zu realistisch vor, da sie jedem dieser fiktiven Fans einen Kirpan zugestanden, das zeremonielle Messer der Sikhs. Das wiederum gefiel der Polizei nicht, und so musste das Gemälde schon wieder geändert werden. Übrigens waren auch die Profis ganz offenkundig nicht zufrieden. Im ersten Spiel vor den falschen Fans gaben sie eine 2:0‑Führung gegen Norwich aus der Hand und verloren 2:4. (Alle sechs Tore fielen übrigens vor den echten Anhängern.)
Dies war nicht das einzige Potemkinsche Dorf der Fußballgeschichte. Der Autor meint sich zu erinnern, dass man in Essen etwas Ähnliches tat, als 1994 die Westtribüne im Georg-Melches-Stadion abgerissen wurde. Und erst vor ein paar Jahren, im Mai 2013, reagierte der italienische Zweitligist US Triestina auf seine geringen Zuschauerzahlen, indem er eine ganze Tribüne sperrte und sie mit großen Planen abhängte, auf denen Tifosi zu sehen waren. Das hatte zwar den Effekt, dass man vor dem Fernseher unwillkürlich nach dem Controller griff, um die Spieler vor dieser Konsolen-Kulisse zu steuern, aber in Triest fand man das besser als leere Schalensitze. Sportdirektor Marco Cernaz sagte damals: „Wir hätten natürlich lieber ein Stadion voll echter Fans, und wir haben alles getan, um die Leute anzulocken, aber die Realität ist, dass wir es nicht schaffen. Auf diese Art haben wir wenigstens ein bisschen Atmosphäre, ein wenig Theater.“ Und eine unerwartete Einnahmequelle, denn prompt meldeten sich (echte) Werbepartner, die ihr Logo gerne auf der (falschen) Tribüne sehen wollten.
Doch die Optik ist natürlich nicht alles. Noch schlimmer als leere Ränge ist für alle Beteiligten offenbar die Ruhe. Als Borussia Dortmund im Achtelfinale der Champions League bei Paris St. Germain antrat, wunderte sich Sky-Reporter Kai Dittmann zu Beginn über die Akustik. Man hörte nämlich nicht – wie sonst bei Geisterspielen üblich – die Rufe der Spieler und die Schussgeräusche (oder die Schmerzenschreie von Neymar). Nein, deutlich vernehmbar waren Fangesänge. Zwischendurch mutmaßte der Kommentator sogar, sie kämen von Anhängern, die sich vor dem Stadion versammelt hatten. Doch dann war plötzlich Stille, und es stellte sich heraus, dass ein Mitarbeiter der UEFA der Stadionregie befohlen hatte, mit dem Einspielen von Zuschauergeräuschen aufzuhören.
Dabei könnte Krach vom Band durchaus hilfreich sein. In England, wo Schimpfwörter im Fernsehen und Radio streng verboten sind, überlegt man schon, wie zu reagieren ist, wenn die Profis bei Geisterspielen ihrem Ärger hörbar Luft machen. Ein Vertreter von BT Sport sagte dem Journalisten Steve Scott: „Wir haben unseren F‑Knopf.“ Was nichts anderes bedeutet, als dass die Spiele mit einer kurzen Verzögerung in den Äther gehen würden, damit jedes tief empfundene „Fuck“ dank schneller Stummschaltung empfindlichen Ohren erspart bliebe. Also ähnlich wie man das in den USA mit dem Super Bowl handhabt, der seit dem „Nipplegate“ um Janet Jackson 2004 leicht zeitversetzt gezeigt wird. Womit wir schon bei der Liga wären, die für geschummelte Atmosphäre berüchtigt ist. So gilt es im American Football als offenes Geheimnis, dass die NFL-Klubs der Stimmung in den Stadien gerne nachhelfen. Als die Atlanta Falcons vor fünf Jahren dabei erwischt wurden, bekamen sie eine heftige Geldstrafe aufgebrummt und verloren sogar einen so genannten Draft-Pick.
Vielleicht hat die UEFA selbst vor gar nicht langer Zeit zumindest mit dem Gedanken gespielt, Konservenbambule einzusetzen. Als die Reporterin Amy Lawrence einige Stunden vor dem Europa-League-Finale 2019 das Stadion in Baku betrat, schallten jedenfalls laute Fangesänge vom Band durch das noch leere Rund – möglicherweise als Test für den Super-GAU, nämlich die völlige Abwesenheit von Stimmung. Man wird sich erinnern: Die zwei Londoner Klubs Arsenal und Chelsea mussten damals für ihr Endspiel mehr als 4.500 Kilometer weit reisen und kickten dann vor Rängen, die nur zu zwei Dritteln von eher schweigsamen Schaulustigen gefüllt waren. Wer weiß, vielleicht hätten sich die Gäste aus England sogar heimisch gefühlt, wenn man die Geräuschkulisse elektronisch aufgepeppt hätte? Schon vor vier Jahren wurde West Ham von den eigenen Fans vorgeworfen, genau das seit dem Umzug ins ungeliebten Olympiastadion zu tun. Und auch Tottenham musste sich bereits mit solchen Gerüchten herumschlagen, erst in der Ersatzheimat Wembley und nun im neuen eigenen Stadion.
Ganz offensiv und alles andere als heimlich ging offenbar der FC Middlesbrough im Frühjahr 2006 mit digitaler Anfeuerung um. Boro-Fan Christopher Sato schrieb dem „Guardian“, dass der Klub vor dem UEFA-Cup-Spiel gegen Steaua Bukarest seine Fans zu einer Aufnahmesession bat. Zwar erschien nur etwa ein Dutzend Anhänger, trotzdem ließ der Verein deren Rufe auf Band bannen. Als Boro dann gegen die Rumänen schnell 0:2 in Rückstand geriet und es im Stadion sehr still wurde, schrieb Sato, „hörte man plötzlich über die Anlage, wie zwölf mürrische Typen ‚Come on, Boro‘ riefen. Die Leute haben gelacht und geschimpft.“ Der Klub unternahm kurz darauf noch einen zweiten Versuch, doch die echten Fans pfiffen die falschen nieder.
Natürlich hatte die Sache eine Pointe. Middlesbrough, das im Gesamtstand schon 0:3 zurücklag, drehte die Partie noch. Kurz vor dem Ende schoss die Elf das 4:2 und kam in die nächste Runde. Es war eine der größten Nächte der Vereinsgeschichte. Auch wenn nicht alles mit echten Dingen zugegangen war.