Dynamo-Legende Ralf Minge feiert heute seinen 60. Geburtstag. Im großen Karriereinterview mit 11FREUNDE spricht er über Stasi-Spitzel in der Kabine, den angetrunkenen Jean Löring und sein Glück, oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Wie meinen Sie das?
Einer stand am nächsten Tag beim Training auf dem Rasen und machte Witze mit seinem Tarnnamen. Er rief: „Schröder hat den Ball, was macht Schröder, Schröder schießt….“ Der hatte gar nicht kapiert, was es für die Mannschaft bedeutet.
Gerade schien Ihnen die Welt noch offen zu stehen, jetzt erlebten Sie eine Katastrophe nach der anderen. Die Krone setzte der schwierigen Situation der neue Klubpräsident aus dem Westen auf: Ex-Boxpromoter Rolf-Jürgen Otto.
Er erfüllte das Klischee des Boxpromoters in jeder Hinsicht. Otto wohnte im Bellevue-Hotel in einer Suite und empfing meistens im Bademantel. Als ich 1993 interimsmäßig Cheftrainer wurde, musste ich jeden Tag bei ihm antanzen, er ließ mich auf dem Flur eine Stunde warten, stopfte sich beim Gespräch das Essen rein und aus dem Nebenzimmer meinte ich, Frauenstimmen zu hören. Als ich mal Widerworte gab, teilte er mir mit, er wisse, wo meine Kinder zur Schule gingen, ich solle sie sicherheitshalber abholen lassen. Verdiente Trainer wie Klaus Sammer und Horst Hrubesch behandelte er wie den letzten Dreck. Horst entließ er, ohne es ihm mitzuteilen. Der erfuhr es beim Spaziergang an der Elbe von einem Passanten.
Aus heutiger Sicht wirkt Rolf-Jürgen Otto wie das Sinnbild für alles, was im Ostfußball nach der Wende schief gelaufen ist.
Vor dem Mauerfall lebten wir in einer Mangelgesellschaft. Es war üblich, dass man sich gegenseitig hilft: Bier gegen Auspuffanlage, Salami gegen Eintrittskarte. Und dann kam einer, der nur auf seinen persönlichen Vorteil aus ist.
Dennoch sagten Sie Otto nicht ab, als er Sie im April 1993 fragte, ob Sie Klaus Sammer als Trainer beerben.
Ich fühlte mich dem Klub gegenüber verantwortlich.
Sie waren damals nicht nur der jüngste, sondern auch der günstigste Bundesligatrainer.
8000 Mark Solidaritätsbetrag im Monat.
Erst 1998 gingen Sie das erste Mal in den Westen und wurden Co-Trainer von Toni Schumacher bei Fortuna Köln.
Weil mein Sportlehrerdiplom im Westen nicht als Fußballlehrer anerkannt wurde, musste ich 1994 für –meine Verhältnisse – viel Geld meinen Trainerschein an der Sporthochschule in Köln nachholen. Aber wie das Schicksal so spielt: Ich kam in einen Kurs mit vielen Alt-Internationalen, wie zum Beispiel Charly Körbel, Toni Schumacher, Norbert Meier und viele andere. Somit hatte ich die Gelegenheit, viele Kontakte zu knüfen, die mir auf meinem weiteren Weg sehr hilfreich waren. Das war sicherlich auch ein Grund, dass Toni zu mir Kontakt aufnahm, als er Jahre später Cheftrainer bei Fortuna Köln wurde., Er rief bei meiner Frau im Geschäft an und fragte, ob ich sein Co-Trainer werden möchte. Binnen fünf Minuten war die Sache entschieden.
Und wieder trafen Sie auf einen Patriarchen der besonderen Art.
Jean Löring, was für ein Typ! Sehr speziell, mit leichtem Hang zum Größenwahn, damals wollte er ein neues Stadion für Fortuna bauen und den FC abhängen. Aber auch einer, der sehr fair und väterlich zu seinen Leuten war.
Woran merkten Sie das?
Folgende Anekdote ist für ihn aus meiner Sicht sinnbildlich: Nach einem Vierteljahr bekam ich plötzlich 4 000 Mark mehr überwiesen, als ursprünglich vereinbart. Ich dachte, es sei ein Fehler, ging mit meiner Abrechnung zu ihm ins Büro. Er rauchte Zigarre, pfiff durch die Zähne und im breitesten Rheinisch sagte er: „Nää, nää, Jung, ist rischtisch, ich seh schon, wer hier anpackt.“
Wo waren Sie, als Löring Toni Schumacher im Dezember 1999 in der Halbzeit des Heimspiels gegen den SV Waldhof mit den Worten entließ: „Du machst meinen Verein kaputt. Du hast hier nichts mehr zu sagen, du Wichser!“
Ich stand daneben. In meiner Erinnerung aber war es etwas anders.
Nämlich?
Löring kam in die Kabine, war schon etwas angetrunken und sauer über den 0:2‑Rückstand. Er schnauzte: „Toni, Sie waren ein großer Torwart, aber Sie sind ein schlechter Trainer. Sie sind entlassen!“ Dann gab er Anweisung, wer eingewechselt werde. Das ließ Toni natürlich nicht auf sich sitzen und im Beisein der Mannschaft kam es fast zu einem Handgemenge.
Auch Sie verließen nach diesem Ereignis den Klub.
Löring hielt große Stücke auf mich. Er wollte, dass ich übernehme, aber unter diesen Umständen hätte ich mich nicht wohlgefühlt. Außerdem kam es aus Loyalitätsgründen Toni Schumacher gegenüber für mich nicht in Frage. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ich auf dem Heimweg nach dem Spiel einen Anruf aus Leverkusen bekam. Bayer 04 bot mir an, Leiter des neu etablierten Förderkonzeptes in der Nachwuchsakademie zu werden. So hatte ich gleich eine neue reizvolle Herausforderung.
„Der Abstieg tat unheimlich weh“
2007 kehrten Sie als Geschäftsführer Sport zu Dynamo zurück, traten zwischenzeitlich zurück und beendeten im Juni 2020 nach weiteren sechs Jahren ihre Tätigkeit als Sportdirektor.
Wie gesagt, ich bin immer gut damit gefahren, klare Schnitte zu machen. Die letzten Jahre waren sehr schlauchend. Ich habe festgestellt, dass es im Aufsichtsrat nicht mehr das uneingeschränkte Vertrauen in meine Arbeit gibt. Unter diesen Voraussetzungen kann man einen Verein wie Dynamo Dresden nicht führen. Dennoch blicke ich stolz auf das zurück, was wir in den letzten Jahren gemeinsam geschaffen haben: Dynamo ist seit 2016 erstmals seit der Wende schuldenfrei, die Nachwuchs- und Profi-Abteilung ist eng verzahnt und die Zusammenarbeit mit den vielen verschiedenen Partnern und Institutionen in und um Dresden ist sehr vertrauensvoll. Wir haben zudem ein tolles, neues Trainingszentrum und Stand 30.06.2020 ein erarbeitetes Eigenkapital von voraussichtlich über zwölf Millionen auf dem Festgeld-Konto.
Aber Dynamo ist wieder drittklassig.
Der Abstieg, gerade mit diesen Begleitumständen, tut unglaublich weh, ich bin aber auch aufgrund der genannten Voraussetzungen fest davon überzeugt, dass schon in der kommenden Saison der Wiederaufstieg gelingen wird.