Dynamo-Legende Ralf Minge feiert heute Geburtstag. Im großen Karriereinterview spricht er über Stasi-Spitzel in der Kabine, den angetrunkenen Jean Löring und sein Glück, oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Hat man je versucht, Sie in die Bundesliga abzuwerben?
1982 bekam ich einen als Fanpost getarnten Brief, der in Ostberlin eingeworfen wurde.. Darin wurde exakt geschildert, wie ich mich beim Europacupspiel in Kopenhagen verhalten müsse, um in den Westen zu gelangen. Ich war mir bis 20 Jahre nach der Wende aber nicht sicher, wie ernstgemeint dieses Angebot wirklich war. Dann nämlich hat mich bei einem Sichtungsturnier in Bad Blankenburg ein gewisser Adolf Remy angesprochen, der sich als Absender des Briefes zu erkennen gab. In dem langen Gespräch erzählte Remy mir, dass er im Auftrag des HSV gehandelt habe.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt?
Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Zum einen hätte ich nicht ohne meine Familie und Freunde leben können. Zum anderen wusste ich, was so ein Schritt für selbige in diesem System bedeutet hätte. Darüber hinaus fühlte es sich für mich wie ein Hauptgewinn an, Spieler dieser Dynamo-Elf zu sein. Mehr konnte ich mir damals nicht vorstellen. Meine Sorglosigkeit erkennen Sie auch daran, dass ich den Brief erst nach der Rückkunft aus Dänemark bei den Funktionären einreichte. Im Übrigen liegt selbiger heute in Kopie zuhause in meiner Stasiakte.
Und wie reagierten die?
Es gab ein Riesentheater und ich musste zum Rapport bei der Stasi antreten. Die konnten den Absender aber nicht eruieren.
Viele DDR-Spieler träumten damals von der Bundesliga.
Wissen Sie, mir ging es nie um das große Geld. Mir gefiel die ideelle Anerkennung, die wir in der Stadt als Fußballer bekamen. Etwa, wenn mir eine Verkäuferin in der Kaufhalle unbemerkt eine Tüte mit Bananen in den Wagen legte oder mich nach dem Spiel gegen Bukarest vor der Wohnungstür zwei Flaschen Bier – für jedes Tor eine – und eine Girlande von den Nachbarn empfingen. Diese emotional-menschliche Komponente, die das Leben in der Mangelwirtschaft ausmachte, war mir viel mehr wert als Geld.
Im Uefa-Cup-Halbfinale 1989 unterlagen Sie dem VfB Stuttgart. Nach der Niederlage im „Wunder von der Grotenburg“ 1986 gegen Bayer Uerdingen die zweite wichtige Dynamo-Niederlage in einem deutsch-deutschen Duell.
In entscheidenden Momenten fehlte uns oft das nötige Selbstvertrauen, um dagegen zu halten. Da kam uns auch die politische Komponente in die Quere. Die strenge sozialistische Erziehung. Schauen Sie sich nur unsere Körpersprache an, nachdem wir gegen Uerdingen das 5:3 fangen. Es war noch alles möglich, aber als Mannschaft waren wir implodiert. Die Köpfe und Schultern – alles hing runter. Da war keiner in der Lage, sich aufzubäumen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.
Auch in Ihrem letzten von 36 Länderspielen im März 1989 scheiterten Sie durch eine Niederlage gegen die Türkei knapp an der Teilnahme zur WM 1990.
Wir waren immer in Freundschaftsspielen am besten oder wenn es nichts zu verlieren gab. Wenn es drauf ankam, fehlte es uns trotz der eigentlich hohen individuellen Qualität an besagtem Selbstvertrauen, eigene Entscheidungen zu treffen.
Fehlte Ihnen auch persönlich der Mut?
Ich gebe zu, dass ich in meinem vertrauten Umfeld in Dresden meist bessere Leistungen abrufen konnte als in der Nationalelf.
Ralf Minge, wo waren Sie, als die Mauer fiel?
Zuhause in Dresden auf dem Sofa, ich hatte damals gerade zwei Knieoperationen hinter mir.
Kaum war die Grenze offen, hatten Ihre Mitspieler wie Matthias Sammer oder Ulf Kirsten bereits lukrative Verträge in Leverkusen unterschrieben.
Keiner von uns konnte sich diese Dynamik vorstellen. Von Ulf, mit dem ich eng befreundet bin, hörte ich, dass Leverkusen anklopfte. Andreas Trautmann, der mein Schwager war, erzählte, dass Fortuna Köln ihm, Hans Uwe Pilz und Atze Döschner ein Angebot machte. Das ging alles im Schweinsgalopp.
Sie hingegen beendeten 1991 mit gerade mal 30 Jahren ihre aktive Laufbahn.
Es ging nicht mehr. Ich spielte schon seit Jahren oft unter Schmerzmitteln, litt unter einem angeborenen Rückenleiden. Drei Operationen an Knie und Sprunggelenk gaben mir schließlich den Rest.
Ungnade der frühen Geburt. Viele Ihrer Ex-Kollegen machten nach der Wende richtig Kasse.
Das hat mich nie gekratzt. Ich hatte aus meinem Talent das Optimale rausgeholt. Zum Abschluss hatte ich Dynamo als Kapitän in die Bundesliga geführt. Ich lebte mit meiner Familie in einer Drei-Raum-Wohnung, nach der Wende hatte ich 60 000 Westmark durch den Umtausch auf der Bank. Ein guter Zeitpunkt für einen klaren Schnitt.
Bereits 1990 machte der Klub einen Deal mit dem Hamburger Händler Dieter Burmester, der Dynamo zwanzig Audi 80 stellte und dafür auf dem Vereinsgelände seine Autos verkaufen durfte.
Wir kannten bis dato nur Ladas, Trabis und Wartburgs. Der Audi roch ganz anders. Ich werde nie vergessen, wie wir die Karren in der Nähe von Hamburg abholten: Wie die Kinder beim Kartfahren rasten wir im Convoy zurück nach Dresden. Wir waren die Motorisierung gar nicht gewohnt, was da alles hätte passieren können.
Dynamo nahm durch den Verkauf der Top-Spieler Millionen ein, die schnell versickerten. Und Sie heuerten nach der aktiven Laufbahn als Geschäftsführer-Azubi an.
Wir hatten vom Kapitalismus keine Ahnung. Natürlich ahnte ich, dass etwas falsch läuft, aber ich wusste auch nicht, wie es anders gehen soll. Bereits im letzten Oberligajahr machten wir gravierende Fehler.
Der Klub verpflichtete abgehalfterte Bundesligaspieler wie Peter Lux und Sergio Allievi.
Gute Jungs, aber völlig überteuert. Lux verkaufte uns in der Kabine Seidenhemden für 40 Mark, die er drüben für zehn gekauft hatte. Unser Präsident rief manchmal im Überschwang vor besonderen Spielen: „Wir verdreifachen die Prämie.“ Und wir zahlten auf Jahre Lehrgeld für die Arroganz, uns in dieser Phase nicht professionelle Hilfe von außen geholt zu haben.
Im Januar 1992 wurden Sie Co-Trainer des Westlers Helmut Schulte.
Schöne Zeiten, aber auch eine Umstellung. Wir waren gewohnt, dass jeden Tag der „Spieler vom Dienst“ dem Trainer meldete, die Mannschaft sei – in Reih und Glied an der Grundlinie – zum Training angetreten. Als Schulte das mitbekam, dachte er, er sei im falschen Film und schaffte den militärischen Drill ab.
Schulte und Sie wurden nur einen Monat später damit konfrontiert, dass eine Zeitung einige Dresdner Profis und Staffmitglieder als Stasi-Agenten enttarnte.
Es kam knüppeldick. Wir spielten gegen den Abstieg, hatten kein Geld mehr und das auch noch. Helmut und mir war klar: Für die Situation gibt es keine Lösung, wir müssen aber trotzdem eine finden.
Und?
Wir beriefen eine Sitzung ein, um reinen Tisch zu machen und fragten, wer noch als IM gearbeitet hatte. Und im Raum schossen die Finger hoch.
Wie geht man als Trainer damit um? Das Vertrauensverhältnis im Team ist damit doch zerstört.
Jeder Betroffene hatte seine Art des Umgangs. Viele versuchten, es abzuschwächen. Andere erklärten, sie seien erpresst worden oder hätten bewusst nur Nebensächlichkeiten berichtet. Natürlich war es furchtbar zu erfahren, wer alles mitgemacht hatte. Aber noch schlimmer war, dass es einige in der Sitzung nicht anzeigten und es später dann doch rauskam. Einigen war damals offenbar gar nicht bewusst, was das bedeutete.