Was der Fall Torunarigha vor allem zeigt: Viel zu lange haben wir in Deutschland beim Thema Rassismus mit dem Finger auf andere gezeigt.
Lange haben wir mit dem Finger in andere Richtungen gezeigt, weg von uns, nach Italien, nach England, nach Bulgarien. Schlimm seien die Zustände dort, unhaltbar gar, die UEFA müsse jetzt aber wirklich langsam mal durchgreifen. Was einerseits gar nicht falsch ist, die Zustände in italienischen oder bulgarischen Stadien sind in Bezug auf rassistische Entgleisungen ja wirklich schlimm und sollen an dieser Stelle ebenfalls nicht relativiert werden. Gleichzeitig wurde aber der Blick auf die eigenen Probleme getrübt. Obwohl nicht erst seit gestern klar ist, dass diese Probleme auch in Deutschland, im deutschen Fußball, vorhanden sind.
Da wäre der Fall Tönnies. Da wären die unerträglichen Ziegenficker-Aussagen von SPD-Politiker Bernd Holzhauer zu Mesut Özil und Ilkay Gündogan. Und da wäre der Fall Ngankam. Erst vor wenigen Wochen wurde Jessic Ngankam – 19 Jahre alt, Spieler von Herthas U23 – im Regionalligaspiel gegen Lok Leipzig von Gäste-Zuschauern beleidigt. Und, so erzählte es Ngankam zumindest nach dem Spiel, auch von einem Leipziger Spieler. Ngankams Trainer, Ex-Profi Zecke Neuendorf, sagte nach dem Spiel übrigens das: „Einer sagt mal du Doofie, einer sagt mal du Esel, einer sagt mal du Affe: Vielleicht war es gar nicht rassistisch gemeint, deswegen will ich es nicht zu hoch hängen!“ Der Subtext solcher Sätze: Der Ngankam soll sich mal nicht so haben! Weiter geht’s. Wir wollen doch nur Fußball spielen.
„Ihr müsst den Spieler schützen“
Wer diese Aussage hört, wundert sich nicht mehr ganz so doll, dass Schiedsrichter Harm Osmers gestern, im Spiel zwischen Schalke und Hertha, offenbar ähnlich verständnis- und planlos reagierte wie Neuendorf im Dezember. Und damit ist nicht mal die Gelb-Rote Karte gemeint, die Osmers Torunarigha gezeigt hatte, nachdem der – offensichtlich und verständlicherweise geladen – eine Getränkekiste wuchtig auf den Boden geworfen hatte (nachdem er zuvor einigermaßen brutal umgenietet worden und die halbe Schalker Bank jubelnd aufgesprungen war).
Damit ist das gemeint, was Torunarighas Trainer Jürgen Klinsmann nach dem Spiel erzählt hatte. Das Trainerteam habe das Schiedsrichtergespann noch während des Spiels über die rassistischen Beleidigungen in Kenntnis gesetzt. Und ausdrücklich gefordert: „Ihr müsst den Spieler schützen.“ Doch statt sich an den für diese Situationen vorgesehenen Leitfaden zu halten, die sogenannte „Three-Step Procedure“ (1. Spiel unterbrechen, Stadiondurchsage veranlassen, 2. Spieler in die Kabine schicken, mit Abbruch drohen, 3. Spiel abbrechen) tat Osmers lieber einfach nichts. Subtext siehe oben: Der Torunarigha soll sich mal nicht so haben! Der hat sich doch bestimmt verhört! War doch vielleicht gar nicht rassistisch gemeint!
Unter diesen Umständen muss man sagen: Erstaunlich, dass Torunarigha all den Frust einzig und allein an einer Plastikkiste ausließ.
Um auch nur annähernd eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich ein 22-jähriger Mensch fühlen muss, der in Deutschland geboren wurde, der nie in einem anderen Land gelebt hat, dessen Muttersprache Deutsch ist, der seit bald zehn Jahren für deutsche U‑Nationalmannschaften seine Knochen hinhält – obwohl sein eigener Vater noch in den 90ern von Rassisten mit Messern durch Chemnitz gejagt wurde – und der dann mit Affenlauten beleidigt wird, sollte man sich die Bilder anschauen, die gestern während des Spiels entstanden sind. Die, auf denen Torunarigha weint. Auf denen seine Mitspieler versuchen, ihn zu trösten. Denn wer diese Bilder sieht, dem wird schnell klar: Nicht nur Italien hat ein Problem. Nicht nur Bulgarien hat ein Problem. Wir haben ein Problem. Und es ist dringend.