Jörg Heinrich erlebte nach dem Mauerfall bei Kickers Emden vier euphorische Jahre, die ihn für seine spätere Weltkarriere prägten. Erinnerungen eines „Ossis“ in Ostfriesland.
Jörg Heinrich, kurz vor der Wiedervereinigung wechselten Sie im Sommer 1990 aus brandenburgischen Provinz vom DDR-Ligisten Chemie Velten zu Kickers Emden nach Ostfriesland. Ein ungewöhnlicher Schritt für einen jungen, ambitionierten Fußballer. Wie kam’s?
Nach dem Mauerfall wurde uns Spielern in der zweiten Liga mitgeteilt, dass der Spielbetrieb in der gewohnten Form nur noch bis zum Sommer 1990 aufrechterhalten werden könne. Danach wurden die Betriebe von den Vereinen gelöst und die Finanzierung des Fußballs fiel weg. Kurz gesagt: Ich brauchte eine neue Perspektive.
Sie waren zwanzig und hochtalentiert. Gab es keine anderen Optionen?
Ich hätte 1990 die Möglichkeit gehabt, noch für seine Saison in der Oberliga für Stahl Eisenhüttenstadt zu spielen. Wie es danach für den Klub weitergehen würde, war aber ebenfalls unklar. Das Angebot, zu Kickers Emden zu wechseln, schien mir in der Situation nachhaltiger.
Aus der zweiten Liga der DDR zu einem Viertligisten in der äußersten nordwestlichen Peripherie der Bundesrepublik.
Der allerdings einen potenten Sponsor im Hintergrund hatte: Der Tankstellenunternehmer Dr. Riedl plante, Kickers voranzubringen. Er schickte deshalb Bernhard Janssen, den damaligen Trainer, in die neuen Länder, um nach jungen, hungrigen Spielern zu suchen. Riedls erklärtes Ziel war, mit Kickers mittelfristig bis in die zweite Liga vorzudringen. Und das klang für mich interessant.
Erinnern Sie sich noch an den ersten Kontakt mit den Emdern?
Der resultierte aus einem Zufall. Bernhard Janssen fuhr wie gesagt durch die neuen Länder und schaute sich Spiele an. Anfang Mai 1990 spielten wir mit Velten bei Dynamo Schwerin – bei denen übrigens ein gewisser Steffen Baumgart Stürmer war. Wir gewannen das Spiel mit 2:1 und kurz darauf tauchte Janssen bei einer Trainingseinheiten auf und sprach mich an.
Hat es gleich gefunkt?
Der Trainer hat sich brutal um uns bemüht. Er lud meine Teamkollegen Detlev Uecker, Jörg Müller und mich nach Emden ein, zeigte uns die Stadt und machte uns die ganze Sache unheimlich schmackhaft. Nach dem Wochenende am Dollart hockten wir drei uns zusammen und entschieden gemeinsam, dass wir das Abenteuer Ostfriesland eingehen.
Wären Sie auch ohne die Kollegen hingegangen?
Wahrscheinlich nicht. Wir waren gute Kumpels, hatten in Velten eine gute Zeit gehabt, so passte das einfach sehr gut.
Wie veränderte sich Ihr Leben nach dem Wechsel?
Mir war schon klar, dass es für meine Entwicklung als Fußballer auch ein Rückschritt sein konnte. Vorher hatte ich zwei Mal täglich trainiert, lebte faktisch wie ein Profi. Nun fing ich eine Ausbildung zum Bürokaufmann in der Zentrale von Riedls „Score“-Tankstellenfirma an, was jeden Tag acht Stunden Arbeit bedeutete.
Wie muss man sich Ihren Tagesablauf vorstellen?
Nach dem Job fuhr ich zum Training und wenn ich abends um zehn Uhr zuhause war, blieb gerade noch Zeit, die dreckigen Sachen in die Waschmaschine zu werfen. Anfangs habe ich sogar in der Frühschicht im VW-Werk vom Hafen aus Autos nach Asien verschifft. Diese Zeit war mit sehr viel Müdigkeit am frühen Morgen verbunden, denn gerade in den kalten Monaten kam ich bei den ostfriesischen Wetterbedingungen oft nur schwer aus dem Bett. Und trotzdem: Ich möchte keine Sekunde dieser Zeit missen, nicht nur weil sie wahnsinnig aufregend war und alles so neu und anders war, sondern weil sie mich nachhaltig als Mensch geprägt hat.
„Der Trainer kaufte mir im Supermarkt ein Fahrrad, mit dem ich fortan brav zur Arbeit und dann zum Training radelte”
Hatten Sie in der DDR in einem Zivilberuf gearbeitet?
Ich hatte eine Ausbildung als Schlosser abgeschlossen, aber danach hatte ich nie in dem Beruf gearbeitet. Als ich wegen des Fußballs nach Velten kam, erhielt ich eine Führung durch das Gummiwerk, damit ich – sinngemäß – zumindest wusste, wo meine Arbeitsstelle als Werktätiger lag. Ich glaube, die haben Reifen hergestellt, genau weiß ich es aber gar nicht, denn ich lebte ausschließlich für den Fußball.
Wie wurden Sie bei Kickers Emden entlohnt?
Reich bin ich da nicht geworden. (Lacht.) Einige Mitspieler bekamen ein Auto gestellt, mit mir ging Trainer Janssen kurz nach der Ankunft in den Supermarkt und ich durfte mir ein Fahrrad aussuchen, mit dem ich fortan brav jeden Tag erst zur Arbeit und anschließend zum Training radelte. Aber das war alles nicht so wichtig. Wissen Sie, ich kam nicht mit dem Ziel nach Emden, irgendwann Profi zu werden. Am Anfang gab mir Kickers eine berufliche Perspektive und parallel die Möglichkeit, unter guten Voraussetzungen Fußball zu spielen. Das mehr draus werden könnte, wurde mir erst mit der Zeit bewusst.
Nach dem Mauerfall träumen ostfriesische Amateurklubs vom großen Erfolg und locken etliche DDR-Fußballer mit der Aussicht auf ein neues Leben an die Nordsee.
Welche Rolle spielte Bernhard Janssen für Ihr Ankommen in Ostfriesland?
Der Trainer war ein väterlicher Freund, der mir auch neben dem Platz viel half, der jeden Behördengang mitmachte und mich bei der Wohnungssuche unterstützte. So etwas vergisst man nicht. Bis heute treffen Bernhard und ich uns hin und wieder – und immer gern.
Was war in Emden ganz anders als in der DDR?
Ich hatte das Gefühl, im goldenen Westen gelandet zu sein. Vor den Supermärkten musste ich nicht mehr anstehen, wir Fußballer wurden von den Ostfriesen sehr positiv aufgenommen und auch die sportlichen Bedingungen waren besser als bei vielen Vereinen im unterklassigen Fußball der DDR: Es hingen frische Netze in den Toren, der Rasen war gepflegt, das Stadion wurde ausgebaut und wir wurden mit Trikots und Trainingsanzügen ausgestattet – und mussten nicht, wie im Osten, zusehen, wie wir unser Zeug zusammenhalten.
Der Ostfriese gilt gemeinhin als eher maulfaul gegenüber Fremden. Wie haben Sie das empfunden?
Ganz anders. Nicht nur wir waren gespannt auf das Leben im Westen, auch die Ostfriesen waren neugierig auf uns Ossis. So viele hatte sie im Sommer 1990 offenbar noch nicht an der Nordsee erlebt. (Lacht.) Okay, wenn man ins Umland von Emden fuhr, war das Plattdeutsche sehr gebräuchlich. Da musste ich mich erst einmal reinfuchsen, weil es wie eine Fremdsprache klang. Ansonsten herrschte Anfang der Neunziger in Bezug auf Kickers eine große Aufbruchsstimmung in der Stadt. Und uns Fußballern schlug, wenn wir durch die Fußgängerzone bummelten, von vielen Seiten eine große Euphorie entgegen.