Vor 30 Jahren erreichte der DDR-Zweitligist PSV Schwerin sensationell das Pokalfinale. Wir sprachen mit Trainer Manfred Radtke über seine Wunderelf von 1990, Erotik-Werbung und Callis Scheckheft.
Manfred Radtke, heute jährt sich zum 30. Mal das offiziell letzte Pokalfinale der DDR. Denken Sie manchmal noch dran?
Manchmal? Sehr oft! Das gesamte Jahr 1990 war so unglaublich und aufregend. Wir, der Zweitligist aus Schwerin, erreichten das FDGB-Finale! Später spielten wir sogar noch im Europapokal! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Dann beginnen wir doch auf der Paulshöhe. War das Stadion des PSV Schwerin ein Grund für die erfolgreiche Saison?
Wir haben die Paulshöhe manchmal „Anfield“ genannt, weil es so eng war. Die Zuschauer saßen nur einen Meter hinter der Außenlinie. 8000 Fans im Stadion konnten die gegnerischen Spieler ganz schön einschüchtern. Wenn die bei einer Ecke anliefen, hielten unsere Fans sie an der Hose fest. (Lacht.) Trotzdem: Im Pokal waren wir ab dem Viertelfinale immer der Underdog. Gegen Magdeburg, gegen Lok Leipzig, gegen Dynamo Dresden.
Der Pokal hatte also auch in der DDR seine eigenen Gesetze.
Ich glaube, die Verantwortlichen hatten immer was dagegen, dass Schwerin in der DDR-Oberliga spielt. Wir waren der ewige Zweitligist. Mein großer Traum war deswegen das Pokalfinale. Schon ein Jahr zuvor waren wir weit gekommen, erst im Viertelfinale schieden wir aus, 0:3 gegen Erfurt. Damals sagten die Spieler alle: „Trainer, nächstes Jahr holen wir den Pott!“ Aber dann fiel die Mauer – und ab da hatte ich ständig Angst.
Wovor?
Dass der Verein plötzlich abgewickelt wird. Dass kein Geld mehr da ist. Dass meine Mannschaft auseinanderfällt. Dass ich zum Training komme und sehe: Oh, haben alle die Biege in den Westen gemacht. Ich musste ständig eine Bestandsaufnahme machen: Wer ist überhaupt noch da?
Also sind tatsächlich Spieler direkt nach dem Mauerfall in den Westen gegangen?
Unser Verteidiger Stefan Pickut war noch vor Weihnachten in Regensburg. Die Hollnagel-Brüder Rolf und Frank sind zum VfB Lübeck gewechselt. Auch Jens Bochert ging in jener Saison 1989/90 rüber. Nach dem Viertelfinale stand HSV-Trainer Gerd-Volker Schock vor mir. „Ist der Bochert bundesligatauglich?“, wollte er wissen. „Klar“, sagte ich, „ein Topmann!“
Sie haben nicht versucht, die Spieler zu halten?
Ach, nein. Ich freute mich doch für sie. Jens hatte gerade erst Magdeburg mit zwei Toren fast im Alleingang aus dem Pokal geschossen. Er fragte noch schüchtern: „Trainer, soll ich das machen?“ Ich sagte direkt: „Mach es, so eine Chance bekommst du nie wieder!“ Es war eine unwirkliche Zeit. Vieles um uns herum brach auseinander, wir wussten nicht, wie es persönlich und mit dem Verein weitergeht. Die Aussicht aufs Finale hielt die meisten Spieler aber doch bei uns. Ich bin mir sicher: Wenn der sportliche Erfolg nicht gewesen wäre, hätten wir die Saison nicht zu Ende spielen können.
Im Halbfinale gegen Lok Leipzig kam es zu Ausschreitungen auf den Tribünen. War das normal auf der Paulshöhe?
Ganz ehrlich: Wir waren überfordert mit der Situation. Bei dem Spiel gegen Lok drehten viele Fans durch, aber nicht nur aus Leipzig und Schwerin, es waren auch viele Anhänger aus Lübeck, Rostock und Hamburg da. Eine explosive Mischung. Ich sag mal so salopp: Vorher bist du in den Bunker gekommen, wenn du Randale angezettelt hast. Jetzt dachten die Fans vermutlich, sie können mal richtig durchdrehen. Die neue große Freiheit.
Das Pokalfinale am 2. Juni 1990 gegen Dynamo Dresden fand im Berliner Jahnsportpark statt. Auf den Werbebanden sah man die Logos alter Ostmarken wie Robotron oder Praktica, aber auch die Firma Coca Cola war vertreten. Was war noch neu für Sie?
Wir liefen in diesem Spiel zum ersten Mal mit einem Brustsponsor auf, wir machten Werbung für die „Neue Revue“, eine Erotikillustrierte aus dem Westen. War uns aber total egal, wir brauchten Geld. 20.000 Westmark gab es dafür.
Am 2. Juni 1990 fand im Jahnsportpark das letzte FDGB-Finale statt. Ein Jahr darauf hieß der Wettbewerb offiziell NOFV-Pokal (Gewinner: Hansa Rostock)
Es verirrten sich aber nur 5700 Zuschauer im Jahnsportpark. Warum war das Interesse an diesem letzten offiziellen Pokalfinale so gering?
Die Ostdeutschen hatten im Sommer 1990 andere Sorgen. Außerdem schien die Sache für die meisten eh klar: Dynamo Dresden schießt Schwerin aus dem Stadion. Ich habe daher ordentlich getrommelt und auch ein bisschen provoziert. „Wir holen uns den Pokal!“, sagte ich. Und wir haben auch gut mitgehalten, die Dresdener wurden richtig nervös. In der fünften Minute sind wir in Führung gegangen, Matthias Stammann spielte drei, vier Gegner aus, André Kort schoss ein. Danach wackelte Dynamo. In der 50. Minute ist bei denen sogar noch Hans-Uwe Pilz vom Platz geflogen.
Von da an musste Ihre Mannschaft das Spiel machen. War sie damit überfordert?
Vielleicht. Kurz vor Schluss traf Ulf Kirsten zum 2:1, aber wir hatten noch Chancen auf dem Ausgleich, leider blieben sie ungenutzt. Trotzdem war allen klar, wer der eigentliche Sieger an diesem Tag war: der PSV Schwerin. Deswegen habe ich nach dem Abpfiff demonstrativ die Arme hochgerissen. In der Kabine floss der Sekt in Strömen. Wir waren der erste Zweitligist in der DDR-Fußballgeschichte, der in den Europapokal einzog. (Dynamo Dresden spielte als Meister im Landesmeister-Cup, d. Red.)
Im Europapokal der Pokalsieger wartete in der ersten Runde Austria Wien. Waren Sie glücklich mit dem Los?
Natürlich wäre ein Verein aus Italien oder England toll gewesen, aber ich wollte ja gewinnen, wir brauchten den sportlichen Erfolg, wir brauchten die Einnahmen. Wissen Sie, die Gegend hier ist sehr strukturschwach, wir leben vom Tourismus und der Landwirtschaft, mehr ist nicht.
Austria Wien erschien Ihnen also als leichtes Los?
Leichter jedenfalls als Juventus Turin oder Manchester United. Ich holte mir vorher von einem Bekannten, der bei Rapid Wien arbeitete, Informationen ein. Danach wusste ich alles über die Spieler von Austria: Größe, Gewicht, Schuh- und Konfektionsgröße, Familienverhältnisse. Schließlich bin ich mit meiner Frau im Wartburg nach Österreich gefahren und habe mir das Spiel Austria gegen Pölten angesehen. Wir waren super vorbereitet.
Das Hinspiel ging trotzdem 0:2 verloren. War es ein Nachteil, dass Sie im fremden Rostocker Ostseestadion spielen mussten?
Das war eine Auflage des Verbands, es waren auch nur 800 Zuschauer da. Aber ich blieb optimistisch, denn ich wusste, dass für die Austria nicht nur das Rückspiel, sondern auch das Derby gegen Rapid anstand. Ich hatte gehofft, dass sie unser Spiel auf die leichte Schulter nehmen.
Haben sie?
Wir waren zumindest die bessere Mannschaft, aber das Spiel im Franz-Horr-Stadion endete 0:0., wir waren raus. Die Austria-Fans haben die eigene Mannschaft trotzdem ausgepfiffen und uns mit Standing Ovations verabschiedet. Herbert Prohaska (damals Trainer bei Austria, d. Red.) sagte später mal, dass wir nah dran waren an der nächsten Sensation. Wir hätten nur dieses erste verdammte Tor machen müssen. Kurios war die Reise im Rückblick aber allemal.
Inwiefern?
Das Spiel in Wien fand am Tag der deutschen Einheit statt: am 3. Oktober 1990. Wir sind also einen Tag zuvor als Sozialisten hingereist und kehrten als Kapitalsten heim. (Lacht.)
Einige Ihrer Spieler haben nach der Wende Karriere im Westen gemacht. Auf welche Spieler sind Sie besonders stolz?
Unser Torhüter Andreas Reinke ist zweimal Deutscher Meister geworden. Steffen Baumgart, der im Pokalfinale gerade mal 18 war, spielte mit Hansa in der Bundesliga und trainiert heute den SC Paderborn. Matthias Stammann wurde direkt nach dem Pokalspiel von Reiner Calmund verpflichtet. Daran erinnere ich mich noch gut. Calmund war eigentlich wegen Kirsten und anderen Dynamo-Spielern vor Ort. Aber Stammann gefiel ihm so gut, dass er gleich sein Scheckbuch aufmachte. Matthias erzählte mir auf dem Heimweg nach Schwerin, was Calmund ihm angeboten hatte. Das hat mich so gefreut. Ich fühlte mich ja fast wie ein Vater für die Jungs.
Hatten Sie auch Angebote?
Von Fortuna Köln und dem VfB Lübeck. Aber ganz ehrlich: Ich hatte auch Angst, soziale Angst. Mich schreckte das Beispiel Joachim Streich ab, der kurz nach der Wende Trainer bei Eintracht Braunschweig geworden war – und nach wenigen Monaten schon wieder entlassen wurde. So etwas kannte ich aus der DDR nicht.
Nicht alle Ihre Spieler fassten so gut Fuß wie Stammann, Reinke und Baumgart. Haben Sie auch die Schicksale von Dirk Gottschalk und Sven Buchsteiner verfolgt?
Dirk Gottschalk ist nach der Wende abgestürzt. Drogen, Alkohol, falsche Freunde. Er geriet in Messerstechereien. Und Sven Buchsteiner, der nach der Fußballzeit als Polizist arbeitete, nahm sich 2010 das Leben. Zu ihm hatte ich lange Jahre noch Kontakt, er schickte mir oft Fotos von seinen Kindern und seiner Frau. Ein sehr sensibler und familiärer Mensch. Ein weicher und guter Junge. Noch bis Ende 30 hat er gespielt, er war auch bei der Neugründung der SG Dynamo Schwerin dabei. Ich kenne nur Gerüchte, was damals auf der Polizeiwache passiert ist, aber wenn ich daran denke, treibt es mir heute noch Tränen in die Augen.