Vor 30 Jahren erreichte der DDR-Zweitligist PSV Schwerin sensationell das Pokalfinale. Wir sprachen mit Trainer Manfred Radtke über seine Wunderelf von 1990, Erotik-Werbung und Callis Scheckheft.
Im Europapokal der Pokalsieger wartete in der ersten Runde Austria Wien. Waren Sie glücklich mit dem Los?
Natürlich wäre ein Verein aus Italien oder England toll gewesen, aber ich wollte ja gewinnen, wir brauchten den sportlichen Erfolg, wir brauchten die Einnahmen. Wissen Sie, die Gegend hier ist sehr strukturschwach, wir leben vom Tourismus und der Landwirtschaft, mehr ist nicht.
Austria Wien erschien Ihnen also als leichtes Los?
Leichter jedenfalls als Juventus Turin oder Manchester United. Ich holte mir vorher von einem Bekannten, der bei Rapid Wien arbeitete, Informationen ein. Danach wusste ich alles über die Spieler von Austria: Größe, Gewicht, Schuh- und Konfektionsgröße, Familienverhältnisse. Schließlich bin ich mit meiner Frau im Wartburg nach Österreich gefahren und habe mir das Spiel Austria gegen Pölten angesehen. Wir waren super vorbereitet.
Das Hinspiel ging trotzdem 0:2 verloren. War es ein Nachteil, dass Sie im fremden Rostocker Ostseestadion spielen mussten?
Das war eine Auflage des Verbands, es waren auch nur 800 Zuschauer da. Aber ich blieb optimistisch, denn ich wusste, dass für die Austria nicht nur das Rückspiel, sondern auch das Derby gegen Rapid anstand. Ich hatte gehofft, dass sie unser Spiel auf die leichte Schulter nehmen.
Haben sie?
Wir waren zumindest die bessere Mannschaft, aber das Spiel im Franz-Horr-Stadion endete 0:0., wir waren raus. Die Austria-Fans haben die eigene Mannschaft trotzdem ausgepfiffen und uns mit Standing Ovations verabschiedet. Herbert Prohaska (damals Trainer bei Austria, d. Red.) sagte später mal, dass wir nah dran waren an der nächsten Sensation. Wir hätten nur dieses erste verdammte Tor machen müssen. Kurios war die Reise im Rückblick aber allemal.
Inwiefern?
Das Spiel in Wien fand am Tag der deutschen Einheit statt: am 3. Oktober 1990. Wir sind also einen Tag zuvor als Sozialisten hingereist und kehrten als Kapitalsten heim. (Lacht.)
Einige Ihrer Spieler haben nach der Wende Karriere im Westen gemacht. Auf welche Spieler sind Sie besonders stolz?
Unser Torhüter Andreas Reinke ist zweimal Deutscher Meister geworden. Steffen Baumgart, der im Pokalfinale gerade mal 18 war, spielte mit Hansa in der Bundesliga und trainiert heute den SC Paderborn. Matthias Stammann wurde direkt nach dem Pokalspiel von Reiner Calmund verpflichtet. Daran erinnere ich mich noch gut. Calmund war eigentlich wegen Kirsten und anderen Dynamo-Spielern vor Ort. Aber Stammann gefiel ihm so gut, dass er gleich sein Scheckbuch aufmachte. Matthias erzählte mir auf dem Heimweg nach Schwerin, was Calmund ihm angeboten hatte. Das hat mich so gefreut. Ich fühlte mich ja fast wie ein Vater für die Jungs.
Hatten Sie auch Angebote?
Von Fortuna Köln und dem VfB Lübeck. Aber ganz ehrlich: Ich hatte auch Angst, soziale Angst. Mich schreckte das Beispiel Joachim Streich ab, der kurz nach der Wende Trainer bei Eintracht Braunschweig geworden war – und nach wenigen Monaten schon wieder entlassen wurde. So etwas kannte ich aus der DDR nicht.
Nicht alle Ihre Spieler fassten so gut Fuß wie Stammann, Reinke und Baumgart. Haben Sie auch die Schicksale von Dirk Gottschalk und Sven Buchsteiner verfolgt?
Dirk Gottschalk ist nach der Wende abgestürzt. Drogen, Alkohol, falsche Freunde. Er geriet in Messerstechereien. Und Sven Buchsteiner, der nach der Fußballzeit als Polizist arbeitete, nahm sich 2010 das Leben. Zu ihm hatte ich lange Jahre noch Kontakt, er schickte mir oft Fotos von seinen Kindern und seiner Frau. Ein sehr sensibler und familiärer Mensch. Ein weicher und guter Junge. Noch bis Ende 30 hat er gespielt, er war auch bei der Neugründung der SG Dynamo Schwerin dabei. Ich kenne nur Gerüchte, was damals auf der Polizeiwache passiert ist, aber wenn ich daran denke, treibt es mir heute noch Tränen in die Augen.