Hitlergrüße im Block, SS-Banner an den Zäunen, Affenlaute auf den Tribünen. In Russlands Fußballkurven dominieren Neonazis und Hooligans. Oder?
Robert Ustian, 34, ist Fan von ZSKA Moskau und einer der wenigen russischen Fußballanhänger, der sich offen gegen Rechtsextremismus ausspricht. 2014 gründete er die Initiative „CSKA Fans Against Racism“.
Robert Ustian, in der BBC-Dokumentation „Russia’s Hooligan Army“ haben Hooligans für die WM ein „Festival der Gewalt“ angekündigt. Müssen wir uns Sorgen machen?
Die Doku war sehr einseitig, denn die BBC hatte offensichtlich nur das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten. Es gibt keine Gegenstimmen im Film, nur Gewalt, nur Maskierte, nur das Extrem. Seit der Ausstrahlung (Februar 2017, d. Red.) glauben viele Westeuropäer, dass russische Hooligans in Büschen warten, um die friedlichen Fans aus Spanien, Frankreich oder Deutschland zu überfallen. Was für ein Quatsch! Ich glaube, dass wir die sicherste WM aller Zeiten erleben werden.
Was macht Sie so sicher?
Wladimir Putin möchte der Welt zeigen, dass er ein solches Turnier erfolgreich ausrichten kann. Dazu gehören Bilder von friedlichen und feiernden Fans – und keine Schlägerbanden.
Aber interessiert es die Hooligans, was Putin möchte?
Die harten Jungs wissen, dass sie während der WM zwei Optionen haben: Datscha oder Sibirien. Sie haben klare Ansagen von oben bekommen, dass sie sich während der WM in ihren Ferienhäusern entspannen sollen, andernfalls landen sie im Arbeitslager. Und die Hooligans wissen, dass Putin diese Drohung wahr machen wird. Ich will ehrlich sein, einige meiner Freunde sind Hooligans, und auch sie sagen: Was in Marseille passiert ist (bei der EM 2016 jagten 200 russische Hooligans über 2000 englische Fans durch die Stadt, d. Red.), kann nur in Marseille passieren.
Die harte Kreml-Hand räumt auf?
Hoffnung macht mir vor allem die russische Gesellschaft. Sie müssen wissen, dass viele Russen ein Minderwertigkeitsgefühl haben. Sie glauben, die Mehrheit der Weltbevölkerung sei der Meinung, Russland sollte keine WM austragen. Sie wollen den Kritikern nun beweisen, dass sie es verdient haben. Dass sie Nigerianer oder Panamaer freundlich empfangen können. Dass sie nicht so sind, wie sie im Westen dargestellt werden.
Wofür kritisieren Sie die westlichen Medien?
Für Pauschalisierung. Für Vereinfachung. Für Formeln wie: Russland ist Putin! Oder: Alle Fans sind Neonazis! Wann ist denn zuletzt etwas Positives über Russland geschrieben worden? Vieles hier ist wesentlich komplexer, als es im Westen dargestellt wird. Aber damit wir uns richtig verstehen: Ich übe auch Kritik am russischen Mediensystem, das im Grunde nicht existent ist. Es ist eine Maschine, die für eine Person arbeitet und den Leuten erzählt, dass alle Menschen im Westen uns was Böses wollen. Was ja auch ziemlich großer Unsinn ist.
Berichten die westlichen Medien also zu Unrecht über Hooligans und Neonazis in den russischen Fußballstadien?
Wir haben im russischen Fußball Probleme mit Rassismus. Aber man darf nicht den Fehler machen, die hiesigen Verhältnisse mit Deutschland zu vergleichen. Wir sind dort, wo etwa die Bundesliga vor 30 Jahren war. Hier gibt es noch keine Fanprojekte. Hier forschen keine Fan-Soziologien, hier suchen keine Pädagogen in den Kurven den Dialog mit jungen wilden Fans. Es gibt die Vereine und die Funktionäre – und die sind mit dem Thema oft überfordert.
2015 wurde Emanuel Frimpong von Spartak-Fans mit Affenrufen beleidigt. In der Saison zählte das Netzwert FARE (Footballfans Against Racism in Europe) über 100 rechtsextreme Vorfälle auf den Tribünen. Der heutige Anti-Diskriminierungs-Beauftragte Alexei Smertin sagte damals aber: „Es gibt keinen Rassismus in Russland.“ Warum?
Das meine ich. Die Funktionäre haben Angst, dass Vorfälle international thematisiert werden. Also ignorieren sie die Skandale – oder reden sie klein. Das ist natürlich der falsche Weg.
Sie haben vor vier Jahren die Initiative „CSKA Fans against racism“ gegründet. Gab es einen besonderen Vorfall?
ZSKA hatte auswärts in Rom gespielt, und ein paar unserer Fans waren durch Prügeleien, Affenlaute und Nazi-Banner aufgefallen. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so wütend war ich. 15 Typen hatten wieder einmal einen ganzen Verein in Verruf gebracht. So ging das seit Jahren. Und mir wollte das einfach nicht in den Kopf. Unser Verein wurde von der Roten Armee gegründet, unsere Großeltern wurden durch die Nazis getötet. Und dann siehst du in der Kurve Banner mit Symbolen der Waffen-SS. Am Tag nach dem Vorfall in Rom schrieb ich einen Artikel, in dem ich all das ansprach.
Wie waren die Reaktionen?
Überwältigend. Die Leser sprachen mir Mut zu. Sie bedankten sich – offen oder anonym. Die ganze Sache hatte etwas von einem Outing, denn viele Fans schienen regelrecht erleichtert. Sie hatten bis dahin wohl gedacht, sie stünden alleine da inmitten einer Armee von Rassisten. Eine 85-jährige Frau schickte mir ein Bild, auf dem sie mit einem Pappschild zu sehen war. Darauf stand der Satz „CSKA Fans Against Racism“. Es wurde der Slogan unserer Initiative.
Die Neonazis schrieben Ihnen nicht?
Natürlich erhielt ich auch Drohungen. „Wir verbrennen dich!“, „Wir machen dich alle!“, so was halt. Ich konnte nicht erwarten, dass eine Gruppe, die 20 Jahre die Kurve dominiert hatte, einfach aus dem Stadion verschwindet. Ein Bekannter aus dem Sicherheitsdienst riet mir daher, keine Dauerkarte zu kaufen, damit meine persönlichen Daten nicht in Umlauf kommen. Aber ich will darüber gar nicht so viel sprechen. Ich mache hier keine Heldenarbeit. Ich mache das, was richtig ist.
Wie sieht Ihre Arbeit mit „CSKA Fans Against Racism“ aus?
Am Anfang habe ich mich gefragt, wie sich der Rassismus bei uns überhaupt zeigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass viele Menschen, nicht mal wissen, wo Rassismus anfängt.
Anfang des Jahres bezeichnete Spartak Moskau eigene schwarze Spieler als „Schokolade“.
Andere Fans wiederum haben keine Ahnung, welche Symbole sie präsentieren. Ein Beispiel: Das Keltenkreuz, das in der rechtsextremen Szene weit verbreitet ist, sieht man auch in russischen Fußballstadien. Ich unterhielt mich mit einigen Fans über die Bedeutung. Einige dachten tatsächlich, es sei ein gewöhnliches Fadenkreuz. Ähnlich ist es mit dem SS-Totenkopf, den viele nur als Seeräuber-Wappen sehen. Ich will diese Fans nicht verharmlosen, aber mir wurde klar: Es gibt viel Unwissenheit – und eine Menge Aufklärungsbedarf.
Wie gehen Sie vor?
Wir sind etwa zwölf Leute, aber unser Netzwerk wächst. Am Anfang waren die sozialen Medien immens wichtig. Wir haben unsere Botschaft über Twitter, VK und Facebook verbreitet. Bald konnten wir auch Spieler für Video-Statements gewinnen. Wenn etwa eine Vereinslegende wie Igor Akinfeev (über 400 Spiele für ZSKA, d. Red.) sagt, dass Rassismus falsch ist, kommt das bei den Jugendlichen an. Heute ist es mir besonders wichtig, die Botschaft aus der Online-Welt in die reale Welt zu tragen. Mit unseren Leuten haben wir eine Art Monitoring-System aufgebaut. Wir melden dem Verein rechtsextreme Vorfälle und stehen mit Vereinsmitarbeitern in Kontakt. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, die Fans zu dämonisieren.
Warum nicht?
Sie machen große Choreos, sie denken sich tolle Schlachtrufe aus. Aber viele dieser Anhänger sind auch jung und naiv. Sie denken, dass man als Fußballfan in Russland ein Neonazi sein muss. Wir wollen ihnen zeigen: Nein, das musst du nicht! Wir müssen ihnen erklären, dass sie auch mit positiven Verhaltensweisen große Aufmerksamkeit erzeugen können. Wenn ihre Choreos etwa beim Videoportal Copa90 gezeigt werden, ist das eine tolle Anerkennung für ihre Arbeit. Da müssen aber alle mitmachen: Verein, Verband, Medien und die Fans selbst. Wissen Sie, der Begriff „Fan“ ist in Russland negativ konnotiert. Fanats, so denken die Menschen, sind Typen, die alles kaputt machen. Wir müssen dahin kommen, dass der Begriff wieder positiv besetzt ist. Wie in England oder in Deutschland, Fußball kann einem Menschen so viel Kraft geben. Ich habe das in meiner Jugend selbst erlebt.
Inwiefern?
Ich muss dafür ein bisschen ausholen, zurückgehen in die frühen Neunziger. Damals besaß ich einen Holzstock und ein Stofftuch, auf das ich das ZSKA-Wappen hatte. Im Stadion war ich allerdings nie, denn ich wuchs auf in Abchasien, einer Region im Süden des Kaukasus. Damals hatten wir nicht viel zum Leben, mein Vater konnte nach einem Autounfall nicht mehr arbeiten, meine Mutter ernährte die ganze Familie. Jeden morgen um vier Uhr fuhren wir aus unserem Heimatort Gagra ins 70 Kilometer entfernte Sotschi und verkauften dort Gemüse aus unserem Garten. In Sotschi gab es auch einen Fußball-Fanshop. Der Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Ein Jahr lange sparte ich das Taschengeld, und eines Tages ging ich in den Laden und sagte: „Ich möchte einen ZSKA-Schal kaufen, bitte.“ Ich habe ihn heute noch.
Wann haben Sie Ihr erstes ZSKA-Spiel gesehen?
Saison 1995/96, ZSKA spielte auswärts bei Schemtschuschina Sotschi. Im Stadion schaute ich fast nur in die ZSKA-Fankurve, ich war so beeindruckt von den Fahnen und den bengalischen Feuern. Ich dachte: Es muss toll sein, mit deinem Verein überall hinzufahren. Dieses riesige Russland zu entdecken. Die ganze Welt zu bereisen. Nach dem Spiel wartete ich stundenlang vor dem Mannschaftsbus, um ein Autogramm von Sergei Semak (Semak machte 282 Spiele für ZSKA, d. Red.) zu ergattern.
In den neunziger Jahren herrschte Bürgerkrieg in Abchasien. Verschwand ZSKA in der Zeit aus Ihrem Blickfeld?
Im Gegenteil. Viele Nachbarn sind damals gestorben, wir lebten ein gutes Jahr als Flüchtlinge. Ich erinnere mich noch, wie wir durch die Häuserschluchten flohen, während Flugzeuge Bomben abwarfen – und ich die ganze Zeit an ZSKA dachte. Später schloss ich meine Schule ab und ging zum Studieren auf eine amerikanische Universität in die Türkei. Danach hätte ich in den USA weiterstudieren können, aber ich wollte unbedingt nach Moskau. Ich wollte endlich ZSKA nahe sein.
„CSKA Fans Against Racism“ existiert nun seit fast vier Jahren. Was haben Sie bislang erreicht?
Rassismus ist in russischen Kurven immer noch existent, und es ist noch ein weiter Weg, bis wir Verhältnisse wie in Deutschland haben. Das merke ich an dem Feedback, denn selbst Befürworter unserer Initiative können ein enges Weltbild haben. Einer schrieb mal: „Toll, dass ihr euch gegen Rassismus stark macht. Aber warum unterstützt ihr Schwule und Lesben? Das geht mir ein bisschen zu weit!“ Aber vieles ist besser geworden. Wir konnten den Klub überzeugen, dass er positive News generieren kann, wenn er unser Projekt unterstützt. Wenn er eine Initiative wie FARE als Partner begreift. Wenn er mit den Fans einen Dialog sucht.
Wie sieht es bei anderen Vereinen aus?
Vor allem Zenit und Spartak haben große Probleme mit Rassismus. Spartak musste in der vergangenen Saison fünf Spiele ohne Zuschauer austragen. Immerhin weiß ich, dass Fans eines anderen großen russischen Vereins ebenfalls eine antirassistische Initiative gründen wollen. Ich hoffe, sie bekommen Unterstützung.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich war in den vergangenen Monaten und Jahren auf vielen Konferenzen und Workshops in Russland, aber auch in Westeuropa. Ich habe Fanexperten und Fanforscher getroffen, neulich erst war ich in Berlin bei Hertha BSC und Union. So einen regen Austausch wünsche ich mir auch für Russland. Ein Fanprojekt wäre toll. Es sollte dann aber nicht „CSKA Fans Against Racism“ heißen, sondern für etwas stehen. „Red Blue Family“ fände ich gut. Oder noch besser: „CSKA for all“.