Im Winter in der Regionalliga, im Sommer fast bei der EM: Patrick Helmes schaffte das Comeback des Jahres. Nun fällt er mit einem Kreuzbandriss aus. Die Geschichte einer emotionalen Achterbahnfahrt.
Die Verwandlung dauert keine vier Sekunden. Patrick Helmes trabt locker, die langen Haare von einem Gummiband festgehalten, das Lausbübische steht ihm immer ins Gesicht geschrieben – wie bei einem, der in der Kneipe stets noch einen anzüglichen Witz auspackt. Dann kommt der Pass aus dem Mittelfeld – eins.
Helmes schnellt mit dem Oberkörper nach vorne, schiebt den Körper zwischen Ball und Gegenspieler – zwei. Er wisse immer schon vor dem Pass, wo er hinschießt, sagt er. Er begutachtet vorher das Tor, fixiert den Keeper und malt sich aus, in welcher Ecke der Ball einschlägt. Ausholen – drei. Immer direkt abschließen, nie warten, hat sein Vater ihm eingetrichtert. Du bekommst vor dem Tor keine Zeit. Der Oberschenkelmuskel spannt sich, das Bein zuckt nach vorne, der Ball ploppt, als ließe man Unterdruck frei, Halbspannstoß wie so oft, der Ball flattert, das Netz zischt, bevor man bei vier angekommen ist. Ein Tor wie aus der Vollautomatik. Vom Traber zum Torschützen in knapp vier Sekunden.
In den ersten Tagen der Vorbereitung auf die Saison 2012/13 war er wieder da: der Helmes-Abschluss.
Einsamer Jogger
Toreschießen, das sei für ihn wie Zähneputzen, hat Helmes einmal dem „Tagesspiegel“ gesagt. In den letzten zehn Saisonspielen 2011/12 traf er zehn Mal, in 146 Spielen in erster und zweiter Liga 76 Mal. Seine Schusstechnik ist herausragend, die Kombination aus Genauigkeit und Härte sucht ihresgleichen. Und Helmes vertraut ihr, er nimmt auch die Bälle, vor denen andere zurückschrecken. Die, die entweder in den Winkel oder auf die Tribüne gehen. Im vergangenen Winter trainierte Helmes bei den Amateuren in der vierten Liga, joggte einsam den Mittellandkanal entlang, in seinem einzigen Spiel flog er vom Platz – wegen Nachtretens. Er landete auf der Tribüne.
Im Mai stand er dann kurz davor, zur Europameisterschaft zu fahren. Die „Bild“ vermeldete: „Helmes ballert sich zu Jogi! Fast sicher: Löw wird Helmes für den vorläufigen EM-Kader nominieren.“ Der Bundestrainer entschied sich zwar für Cacau, schickte aber hinterher, wie sehr ihn die Entwicklung von Helmes erfreue. Vom Jogger zum Torjäger in einem halben Jahr.
Sprüche wie Torschüsse
„Ganz ehrlich“, hebt Helmes an und sticht mit der Gabel in die Luft, während die Wangenknochen arbeiten. Er reißt die Augen auf. „Die Versetzung zu den Amateuren war das Beste, was mir passieren konnte.“ Dann: „Alles kann sehr schnell gehen.“ „Die Familie ist wichtiger als Fußball.“ „Die Diskussion um den Bundestrainer kann ich nicht verstehen.“ Wenn Patrick Helmes gut drauf ist, pfeffert er seinem Gegenüber die Sprüche um die Ohren wie seine Torschüsse. Er sitzt wie so häufig zum Essen in der City-Galerie in Wolfsburg. City-Galerie mag nach Szenelokal klingen, ist aber nichts anderes als ein großes Einkaufszentrum. Erdgeschoss, asiatischer Imbiss, „Mr. Phung“.
Der Laden ist vielleicht 25 Quadratmeter groß, gerammelt voll. „Mr. Phung … ja, P‑h-u-n‑g“, buchstabiert Helmes in sein Handy. Er spricht mit dem „Kurti“, der vorbeikommen soll. Seinen anderen Freund nennt er „Dicker“, er winkt rüber zur Promenade, durch die Rauchschwaden der Küche hat er einen Bekannten gesehen. Kurti bekommt erst einmal Trikots. Schon früher hat Helmes alle Bekannten versorgt, das Jersey von seinem ersten Länderspiel bekam sein Fliesenleger. Er hat ein neues Haus, müsse erst einmal einkaufen, weil nichts, absolut nichts im Kühlschrank sei. Er ist Vater geworden. Er spielt Fußball. Er sitzt mit dem Dicken und Kurti hier. Helmes lacht viel.
Musiker ohne Gehör
Vor einem Jahr, sagt er, habe er den Spaß verloren. „Die Lockerheit war weg, als ich auf der Bank saß.“ Er zupft sich am Hemdkragen. Die Sprüche, der Flachs, davon reden alte Teamkameraden als Erstes, wenn es um Helmes geht. Es sei wichtig für ihn als Fußballer. Helmes ohne Lockerheit – das wäre so, als würde ein Musiker sein Gehör verlieren. Doch der Grat ist schmal. „Früher hat er im Trainingsspiel schon mal rumgealbert. Da sind seine Trainer ausgerastet“, erzählt sein Vater, Uwe Helmes. Von April 2011 an traf Helmes in Wolfsburg auf einen Trainer, der nicht gerade dafür bekannt ist, mit der Spritzblume und dem Furzkissen unter dem Arm über den Trainingsplatz zu laufen: Felix Magath.
Der Wolfsburger Trainer spricht auf Pressekonferenzen langsam, meist sitzt er fast regungslos da. Er bewegt sich nur, um den Teebeutel ins Glas zu tunken. So auch am 17. November 2011. „Es ist ihm nicht gelungen, seine Spielweise umzustellen. Und deswegen sehe ich auch nicht die Chance, dass ihm das jetzt in der Drucksituation gelingen wird.“ So begründete Magath seine Entscheidung, Helmes „für die Amateurmannschaft freizustellen“. Bereits zuvor hatte er ihn wegen schlechter Laufleistung zu einer Geldstrafe von 10 000 Euro verdonnert. „Helmes hat nie gelernt, defensiv mitzuhelfen“, sagte Magath im 11 FREUNDE-Interview. Der Stürmer saß da mit seinem Kumpel in seinem Wolfsburger Zuhause, einem Hotelzimmer. Mitgebracht hatte er nur das für ihn Nötigste. Klamotten, Fernseher, X‑Box. Helmes stöhnte: „Ich war Nationalspieler, jetzt bin ich weg vom Fenster.“
„Die Jungs von Unten“
Nach 13 Länder- und 84 Bundesligaspielen meldete er sich zum Dienst in der vierten Liga. Es waren zweieinhalb Monate zwischen „unten“, wie er sagt, bei den Amateuren und „oben“ bei den Profis. Monate, in denen Helmes wieder das Geräusch hörte, nach dem er süchtig ist. Der Ball ploppte, das Netz zischte. Er fand Freunde im Amateurteam, wagte sich mit den jungen Leuten raus aus seinem Hotelzimmer, lernte die Stadt kennen. „Ich konnte wieder bei null anfangen“, sagt Helmes. Seine Motivation sei gewesen, den „Jungs von unten zu zeigen, dass ich Profi bin“. Und das Wichtigste: „Plötzlich war der Spaß am Kicken wieder da.“ Er wollte bei Eintracht Frankfurt angreifen, dem aufstrebenden Zweitligisten. Doch der Wechsel platzte am letzten Tag der Transferperiode, weil sich die Vereine nicht auf eine Ablösesumme einigen konnten. Einen Tag später, am 1. Februar, durfte Helmes immerhin wieder bei den Profis mittrainieren. Woche für Woche kam er mehr in Tritt, gewöhnte sich an das Tempo von „oben“. Und am 25. Februar teilte Magath ihm in der Besprechung vor dem Spiel gegen Hoffenheim mit, dass er wieder in der Startelf stehen werde – vier Monate nach seinem letzten Bundesligaspiel.
Nicht nachdenken
70 Minuten sind im Spiel vorbei, Wolfsburg quält sich und liegt 0:1 zurück. Da bekommt das Team einen Elfmeter zugesprochen. Und es ist Patrick Helmes, der zum Punkt geht. So, als wäre er nie weg gewesen. Seine Erklärung: „Ich denke nicht groß nach. Ich nehm mir den Ball und schieß ihn rein.“ In den folgenden Wochen trifft er per Kopf, mit links, mit rechts – zehn Tore in zehn Spielen. Felix Magath sagt: „Es gibt nicht die Absicht, Patrick abzugeben. Er hat einen Vertrag bis 2014.“ In der Wirtschaft sagen sie: „Wenn du nicht wenigstens einmal Bankrott gemacht hast, bist du kein richtiger Geschäftsmann.“
Die Geschichte ging weiter. Helmes hing sich in der Vorbereitung rein. „Patrick war auf einem sehr guten Weg“, sagte Trainer Felix Magath und dachte gar laut darüber nach, Helmes zum Kapitän zu ernennen. Dann riss sich der Stürmer am vergangenen Wochenende das Kreuzband – in einem Testspiel, ohne Fremdeinwirkung. Bereits 2009 hatte er sich beim sommerlichen Kick mit den Freunden diese für Proffußballer so niederschmetternde Verletzung zugezogen. „Ich mache vorne keinen Platz“, hatte er noch im Juli im Interview gesagt. Nun haben die neuen Angreifer einen Vorteil, Helmes wird ein halbes Jahr ausfallen. Er muss wieder bei null anfangen.
Lesen Sie die ganze Geschichte im Bundesliga-Sonderheft: Warum Helmes seinen ehemaligen Trainer Christoph Daum an Gerd Müller erinnert, wie sich das Verhältnis zu Magath änderte und warum Helmes mit 17 beinahe von seinem Vater aus dem Haus geworfen wurde.