Das Sakrileg: Im Mai 2000 wechselt Andreas Möller vom BVB zu Schalke. Die Geschichte eines der spektakulärsten Bundesligatransfers.
Möller nach Schalke – selbst in Zeiten ohne W‑LAN und Smartphones verbreitete sich die Nachricht rasend schnell. Die Fans lasen den pixeligen Satz im Videotext, sie hörten die Sätze in den Radionachrichten, doch glauben konnten sie das alles nicht. Der Protest brach sich noch nicht in den sozialen Medien Bahn, sondern übers Faxgerät.
Minütlich trudelten Vereinsaustritte auf der Schalker Geschäftsstelle ein, Dutzende versammelten sich zur spontanen Protestkundgebung am Trainingsgelände. Ein Schalker sagte in die Kameras der TV-Sender: „Es fühlt sich an, als wenn dir jemand die Seele rausreißt.“ Dortmunds Fans überklebten die Schilder der Möllerbrücke in der Stadt und tauften sie in „Olisehbrücke“ um, benannt nach dem Neuzugang Sunday Oliseh.
Auch die Schalker Spieler reagierten erzürnt, namentlich die Platzhirsche Olaf Thon und Marc Wilmots. Assauer hatte den Transfer ohne Rücksprache mit den beiden „Eurofightern“ realisiert. „Möller oder ich“, soll Wilmots gedroht haben. Öffentlich sagte er zwar, er hätte sich ein Zusammenspiel mit Möller vorstellen können, wechselte aber umgehend nach Bordeaux. Nach zwei Krisenjahren verlor Schalke nicht nur einen echten Publikumsliebling, sondern auch die Vorbereitungsspiele krachend, so etwa mit 0:3 gegen Nürnberg.
Möller indes wurde sowohl in Dortmund als auch am Schalker Trainingsplatz offen angefeindet. „Zerbricht Schalke?“, titelte der „Kicker“. „Auf Schalke brennt die Lunte“, schrieb die „Bild“. Doch für eine der kontroversesten Schlagzeilen sorgte das Fanzine „Schalke Unser“: „Brot statt Möller?“ In der Ausgabe druckte das für seine Satire bekannte Magazin eine Todesanzeige. „Das Schalke Unser betrauert den plötzlichen und unerwarteten Verlust eines lieb gewonnen Feindbildes“, daneben ein Foto von Möller im BVB-Trikot.
„Selbst Stammleser haben uns angepöbelt“
Assauer konnte darüber nicht lachen. Als er in der Sendung „Doppelpass“ auf das Cover angesprochen wurde, polterte er gegen die eigenen Fans. „Er hat das als persönlichen Angriff verstanden und uns als Chaoten beschimpft, die den Verein schädigen“, erzählt Roman Kolbe vom „Schalke Unser“. Der Verkauf des Magazins vor dem Stadion mutierte beim Saisonauftakt gar zum Spießrutenlauf. „Selbst Stammleser haben uns angepöbelt. Da hat man gesehen, welche Macht Assauer tatsächlich noch unter den Fans hatte.“
Die Stimmung im Stadion selbst war gespalten. Einige der Fans dichteten einen alten Rudi-Carrell-Klassiker um: „Wann spielen wir wieder ohne Möller? Ohne Möller, wie es früher einmal war.“ Die Nordkurve lüftete große Transparente wie „Zecke Möller, willkommen in der blau-weißen Hölle“ oder „Feind bleibt Feind – Möller raus“. Doch vereinzelt zeigte sich bereits, dass viele Anhänger den ehemals verhassten Spieler zumindest akzeptiert hatten. Auch sie zeigten Humor und Banner mit der Aufschrift: „Kampfsuse Möller“. Manche witzelten: „Bei uns lernt er dat Kämpfen.“
Tatsächlich entstanden nicht für möglich gehaltene Aufnahmen eines grätschenden Andy Möller. Bei seiner ersten Rückkehr ins Dortmunder Westfalenstadion agierte der feingliedrige Stratege, als hätte er einen zu großen Schluck aus der Pulle seines raubeinigen Mitspielers Tomasz Hajto genommen. Die Südtribüne wedelte ihrem ehemaligen Liebling Taschentücher entgegen, bei jeder Ballberührung pfiff das gesamte Stadion.
„Ohne Möller habt ihr keine Chance“
Doch Schalke erwischte einen der besten Tage seiner Derbygeschichte und siegte mit 4:0. Möller selbst traf zwar nicht, aber der Sieg markierte seine endgültige Ankunft auf Schalke. Mit geballten Fäusten und freiem Oberkörper feierte er vor dem Gästeblock, der wiederum die Dortmunder mit dem Gesang aufzog: „Ohne Möller habt ihr keine Chance.“
Möller und Schalke spielten die bis dato beste Bundesligasaison des Vereins und waren nah an der ersten Meisterschaft seit 1958. Er lief wie in jungen Jahren, wie beim BVB, mit den bekannten Trippelschritten, den unnachahmlichen Sprints, den Ball eng am Fuß, mit höchstem Tempo am Gegner vorbei, mit zentimetergenauen Pässen in den richtigen Momenten. So unbeholfen er beizeiten an den Mikros wirkte und die Fußballwelt mit geografischer Kreativität in Bezug auf Italien erheiterte, so spielintelligent und so sensibel für die Räume agierte er auf dem Rasen. Möller gehörte ohne Frage eine Dekade lang zu den besten Bundesligaspielern. Der Erfolg löschte auf Schalke den Furor über seine Person.
Doch auch Assauer und die Mannschaftskollegen spielten eine nicht unwichtige Rolle. In den Zeiten des größten Widerstandes stellten sie sich buchstäblich vor ihren Regisseur. Bei einem Testspiel in Kopenhagen beschimpften Schalker Fans Möller auf dem Parkplatz, die Führungsspieler um Oliver Reck stiegen aus dem Bus und stellten die Anhänger persönlich zur Rede. Es habe damals bei den unzähligen Mannschaftsabenden eine ausgelassene Atmosphäre wie in der D‑Jugend geherrscht, so Möller. „Es fehlte nur noch, dass ein Stiefel mit Spezi rumging, aus dem alle trinken.“
„Es hätte in die Hose gehen können“
Es gehört zur Ironie des Fußballs, dass das erste Jahr der ehemaligen Heulsuse mit einem Trauma endete, bei dem Tausende gestandene Männer in Tränen ausbrachen. Schalke entglitt bei der legendären „Vier-Minuten-Meisterschaft“ der Titel in letzter Sekunde. Assauer verlor den Glauben an den Fußballgott, Möller erlebte die bittersten Stunden seiner Karriere.
Doch die Saison war für beide ein Befreiungsschlag, Assauer war für die folgenden Jahre wieder unantastbar. Möller wurde zwar nicht geliebt, aber geachtet – und das war mehr, als die Fußballwelt erwartet hatte. „Es hätte in die Hose gehen können“, sagt Möller, „aber es wurde eine wunderbare Saison.“ Eine Woche nach der verpassten Meisterschaft gewann er mit seinem Team den DFB-Pokal. Assauer und er, der Macho und die Kampfsuse, feierten an diesem 26. Mai 2001 bis tief in die Nacht. Auf den Tag genau ein Jahr nach Möllers Verpflichtung und dem Eintritt in die Hölle.
Die Reportage stammt aus unserem 11FREUNDE Spezial „Erzrivalen“. Ihr könnt das Heft bei uns im Shop kaufen.