Das Sakrileg: Im Mai 2000 wechselt Andreas Möller vom BVB zu Schalke. Die Geschichte eines der spektakulärsten Bundesligatransfers.
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Heute: Als Andreas Möller von Dortmund zu Schalke wechselte.
Franz Josef Strauß zur SPD. Westernhagen spielt in der Band von Grönemeyer. Willi Lemke und Uli Hoeneß schließen Blutsbrüderschaft.
Derartige Meldungen waren nur eines: schlichtweg unvorstellbar. Ähnlich wie folgende: Andreas Möller wechselt zum FC Schalke. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie tatsächlich stimmte. Und damit an einem sonnigen Freitag im Mai 2000 den Ruhrpott in Aufruhr versetzte.
Heulsuse, Weichei oder: Heintje
Die Rivalität zwischen Schalkern und Dortmundern gehört zur Folklore des Kohlenpotts. Ende der neunziger Jahre manifestierte sich in Gelsenkirchen die Abneigung gegenüber dem ungeliebten Nachbarn vor allem an Andreas Möller. Die Fans sahen in ihm die Personifikation des Söldners, der ewige Treue verspricht und gleichzeitig bei anderen Vereinen unterschreibt. Der Elfmeter durch Schwalben erschwindelt und Gegner beim Schiedsrichter anschwärzt. Sie nannten ihn Heulsuse, Weichei oder ganz erbarmungslos: Heintje.
In Dortmund wurde Möller zu dieser Zeit verehrt. Er war einer der entscheidenden Spieler in der Blütezeit des BVB Mitte der Neunziger, gewann zwei Meisterschaften und die Champions League. Nach einem Traumtor im Derby rannte Möller über den halben Platz, um sich vor der Schalker Kurve aufzubauen, die ihn 90 Minuten lang verunglimpft hatte. Noch im Sommer 2000 schlug das Dortmunder Vereinsmagazin Möller als „Borussen der Saison“ vor. Begründung: „Die Spielkultur bei Borussia Dortmund trägt seinen Namen.“
Doch Möller war zu diesem Zeitpunkt schon 32 Jahre alt, sein Vertrag lief aus. Die Verantwortlichen beim BVB zögerten mit einer Verlängerung, scheuten die hohen Kosten für den mitunter launischen Spielmacher. Knapp 40 Kilometer entfernt saß ein Manager in seinem Büro, der nach zwei krisenhaften Jahren erstmals in der Kritik stand: Rudi Assauer, damals Schalkes Alleinherrscher. Sein Image als „Macho aus dem Kohlenpott“ pflegte er ähnlich gewissenhaft wie sein Äußeres.
„Ich dachte: Verdammte Hacke, Möller!
Er wird bis in alle Zeiten der einzige Bundesligafunktionär bleiben, der sich mit Zigarre und der „Bild“ vor dem Schritt in der Sauna ablichten ließ. Wer solche Bilder machen lässt, hat auch sonst ein entspanntes Verhältnis zu Tabubrüchen. Seine Idee, ausgerechnet die Hassfigur vom Erzfeind zu holen, erklärte Rudi Assauer in typischen Rudi-Assauer-Worten: „Ich dachte: Verdammte Hacke, Möller! Vertrag läuft aus, ablösefrei, wupp. Das ging ratzfatz.“
Womit er nicht einmal übertrieben hatte, denn auch in der Erinnerung von Andreas Möller verlief der Wechsel in schnellstem Tempo und unter strengster Geheimhaltung. „Er rief zuerst bei meinem Berater an. Ich habe das Ganze für einen Scherz gehalten. Doch Assauer war unglaublich hartnäckig, er meinte es ernst.“ Sie vereinbarten umgehend ein Treffen in der Wohnung von Schalkes Vorstandsmitglied Peter Peters. Möller befasste sich erstmals mit dem für viele undenkbaren Transfer. Zwar lagen ihm lukrative Angebote aus der Türkei vor, doch „Schalke, das war schließlich auch die Möglichkeit, endlich mein Weichei-Image abzustreifen“.
Rudi Assauer sah von seinem Büro aus „sein Baby“, die Schalker Arena. Sie sollte im folgenden Sommer eingeweiht werden, und er wollte unbedingt internationalen Fußball im neuen Zuhause. Möller war sportlich gesehen der ideale Mann im Mittelfeld hinter den beiden kongenialen Stürmern Emile Mpenza und Ebbe Sand. Assauer war von dieser Idee so angetan, dass er sie resolut umsetzen wollte, gegen alle Widerstände. Er riskierte damit die Spaltung innerhalb des Vereins und nicht zuletzt sein eigenes Standing.
„Die Journalisten glaubten, ich wäre eine Fata Morgana“
Am folgenden Tag klingelte Assauer wieder bei Möller durch und überzeugte ihn endgültig. „Ich sagte zu, aber fast niemand durfte etwas mitbekommen. Nicht einmal meinen Eltern habe ich etwas erzählt.“ Immerhin erfuhren die Dortmunder Offiziellen von den Gesprächen mit Schalke. Präsident Gerd Niebaum redete lange auf Möller ein, unterbreitete ihm einen neuen Zweijahresvertrag. Doch in Gelsenkirchen sah Assauer nach dem Telefonat mit Möller nunmehr keinen Anlass für Geheimhaltung.
In seinen Augen galten schon immer der Handschlag oder die mündliche Zusage mehr als jedes Schriftstück. Also berief er flugs eine Pressekonferenz ein und bestellte Möller nach Schalke. Der erinnert sich: „Ich saß da, ohne einen Vertrag unterschrieben zu haben. Die Journalisten glaubten, ich wäre eine Fata Morgana.“
Möller nach Schalke – selbst in Zeiten ohne W‑LAN und Smartphones verbreitete sich die Nachricht rasend schnell. Die Fans lasen den pixeligen Satz im Videotext, sie hörten die Sätze in den Radionachrichten, doch glauben konnten sie das alles nicht. Der Protest brach sich noch nicht in den sozialen Medien Bahn, sondern übers Faxgerät.
Minütlich trudelten Vereinsaustritte auf der Schalker Geschäftsstelle ein, Dutzende versammelten sich zur spontanen Protestkundgebung am Trainingsgelände. Ein Schalker sagte in die Kameras der TV-Sender: „Es fühlt sich an, als wenn dir jemand die Seele rausreißt.“ Dortmunds Fans überklebten die Schilder der Möllerbrücke in der Stadt und tauften sie in „Olisehbrücke“ um, benannt nach dem Neuzugang Sunday Oliseh.
Auch die Schalker Spieler reagierten erzürnt, namentlich die Platzhirsche Olaf Thon und Marc Wilmots. Assauer hatte den Transfer ohne Rücksprache mit den beiden „Eurofightern“ realisiert. „Möller oder ich“, soll Wilmots gedroht haben. Öffentlich sagte er zwar, er hätte sich ein Zusammenspiel mit Möller vorstellen können, wechselte aber umgehend nach Bordeaux. Nach zwei Krisenjahren verlor Schalke nicht nur einen echten Publikumsliebling, sondern auch die Vorbereitungsspiele krachend, so etwa mit 0:3 gegen Nürnberg.
Möller indes wurde sowohl in Dortmund als auch am Schalker Trainingsplatz offen angefeindet. „Zerbricht Schalke?“, titelte der „Kicker“. „Auf Schalke brennt die Lunte“, schrieb die „Bild“. Doch für eine der kontroversesten Schlagzeilen sorgte das Fanzine „Schalke Unser“: „Brot statt Möller?“ In der Ausgabe druckte das für seine Satire bekannte Magazin eine Todesanzeige. „Das Schalke Unser betrauert den plötzlichen und unerwarteten Verlust eines lieb gewonnen Feindbildes“, daneben ein Foto von Möller im BVB-Trikot.
„Selbst Stammleser haben uns angepöbelt“
Assauer konnte darüber nicht lachen. Als er in der Sendung „Doppelpass“ auf das Cover angesprochen wurde, polterte er gegen die eigenen Fans. „Er hat das als persönlichen Angriff verstanden und uns als Chaoten beschimpft, die den Verein schädigen“, erzählt Roman Kolbe vom „Schalke Unser“. Der Verkauf des Magazins vor dem Stadion mutierte beim Saisonauftakt gar zum Spießrutenlauf. „Selbst Stammleser haben uns angepöbelt. Da hat man gesehen, welche Macht Assauer tatsächlich noch unter den Fans hatte.“
Die Stimmung im Stadion selbst war gespalten. Einige der Fans dichteten einen alten Rudi-Carrell-Klassiker um: „Wann spielen wir wieder ohne Möller? Ohne Möller, wie es früher einmal war.“ Die Nordkurve lüftete große Transparente wie „Zecke Möller, willkommen in der blau-weißen Hölle“ oder „Feind bleibt Feind – Möller raus“. Doch vereinzelt zeigte sich bereits, dass viele Anhänger den ehemals verhassten Spieler zumindest akzeptiert hatten. Auch sie zeigten Humor und Banner mit der Aufschrift: „Kampfsuse Möller“. Manche witzelten: „Bei uns lernt er dat Kämpfen.“
Tatsächlich entstanden nicht für möglich gehaltene Aufnahmen eines grätschenden Andy Möller. Bei seiner ersten Rückkehr ins Dortmunder Westfalenstadion agierte der feingliedrige Stratege, als hätte er einen zu großen Schluck aus der Pulle seines raubeinigen Mitspielers Tomasz Hajto genommen. Die Südtribüne wedelte ihrem ehemaligen Liebling Taschentücher entgegen, bei jeder Ballberührung pfiff das gesamte Stadion.
„Ohne Möller habt ihr keine Chance“
Doch Schalke erwischte einen der besten Tage seiner Derbygeschichte und siegte mit 4:0. Möller selbst traf zwar nicht, aber der Sieg markierte seine endgültige Ankunft auf Schalke. Mit geballten Fäusten und freiem Oberkörper feierte er vor dem Gästeblock, der wiederum die Dortmunder mit dem Gesang aufzog: „Ohne Möller habt ihr keine Chance.“
Möller und Schalke spielten die bis dato beste Bundesligasaison des Vereins und waren nah an der ersten Meisterschaft seit 1958. Er lief wie in jungen Jahren, wie beim BVB, mit den bekannten Trippelschritten, den unnachahmlichen Sprints, den Ball eng am Fuß, mit höchstem Tempo am Gegner vorbei, mit zentimetergenauen Pässen in den richtigen Momenten. So unbeholfen er beizeiten an den Mikros wirkte und die Fußballwelt mit geografischer Kreativität in Bezug auf Italien erheiterte, so spielintelligent und so sensibel für die Räume agierte er auf dem Rasen. Möller gehörte ohne Frage eine Dekade lang zu den besten Bundesligaspielern. Der Erfolg löschte auf Schalke den Furor über seine Person.
Doch auch Assauer und die Mannschaftskollegen spielten eine nicht unwichtige Rolle. In den Zeiten des größten Widerstandes stellten sie sich buchstäblich vor ihren Regisseur. Bei einem Testspiel in Kopenhagen beschimpften Schalker Fans Möller auf dem Parkplatz, die Führungsspieler um Oliver Reck stiegen aus dem Bus und stellten die Anhänger persönlich zur Rede. Es habe damals bei den unzähligen Mannschaftsabenden eine ausgelassene Atmosphäre wie in der D‑Jugend geherrscht, so Möller. „Es fehlte nur noch, dass ein Stiefel mit Spezi rumging, aus dem alle trinken.“
„Es hätte in die Hose gehen können“
Es gehört zur Ironie des Fußballs, dass das erste Jahr der ehemaligen Heulsuse mit einem Trauma endete, bei dem Tausende gestandene Männer in Tränen ausbrachen. Schalke entglitt bei der legendären „Vier-Minuten-Meisterschaft“ der Titel in letzter Sekunde. Assauer verlor den Glauben an den Fußballgott, Möller erlebte die bittersten Stunden seiner Karriere.
Doch die Saison war für beide ein Befreiungsschlag, Assauer war für die folgenden Jahre wieder unantastbar. Möller wurde zwar nicht geliebt, aber geachtet – und das war mehr, als die Fußballwelt erwartet hatte. „Es hätte in die Hose gehen können“, sagt Möller, „aber es wurde eine wunderbare Saison.“ Eine Woche nach der verpassten Meisterschaft gewann er mit seinem Team den DFB-Pokal. Assauer und er, der Macho und die Kampfsuse, feierten an diesem 26. Mai 2001 bis tief in die Nacht. Auf den Tag genau ein Jahr nach Möllers Verpflichtung und dem Eintritt in die Hölle.
Die Reportage stammt aus unserem 11FREUNDE Spezial „Erzrivalen“. Ihr könnt das Heft bei uns im Shop kaufen.