Unser Kollege fuhr nach Nürnberg, um den VfL Bochum aufsteigen zu sehen. Doch es kam natürlich ganz anders. Über ein surreales Erlebnis.
Am Ende hat es natürlich auch noch geregnet, obwohl das in diesem fußnassen Mai keine Überraschung mehr sein konnte. Was auch dafür gilt, dass der Zug für die Rückreise mit halbstündiger Verpätung kam. „Grund dafür ist eine verspätetet Bereitstellung. Wir bitten um Entschuldigung.“ Kein Problem, letztlich ist es doch tröstlich, dass, wo das Reisen langsam wieder in Fahrt kommt, die Züge nicht auf einmal pünktlich bereitgestellt werden. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass die Wagenreihung nicht geändert wurde.
Aber das alles waren natürlich nachgerückte Probleme. Ich hatte mich von Berlin aus nach Nürnberg aufgemacht, um den VfL Bochum aufsteigen zu sehen. Dabei will ich gar kein übergeordnetes journalistisches Interesse vortäuschen, denn ich bin seit inzwischen 47 Jahren Anhänger des Klubs, was deutlich zu lang, aber nicht mehr zu ändern ist. Ich würde allerdings hartnäckig dementieren, dass ich ein Trikot untergezogen hatte, und zwar ein Retro-Shirt im Design der späten siebziger Jahre. Schließlich bringt so etwas eher Unglück.
Außerdem war ich sowieso fest davon überzeugt, dass der VfL Bochum nicht aufsteigen würde. Denn welcher Fan geht schon von einem günstigen Schicksal aus, wo wir es doch viel besser wissen. Um den Aufstieg zu schaffen, mussten meine Jungs gewinnen oder Fürth durfte nicht mehr punkten. Im Prinzip war das also unmöglich. Andererseits: Man weiß ja nie! An meiner steinern pessimistischen Grundhaltung, das will ich nicht verschweigen, waren aber auch all meine Freundinnen und Freunde Schuld, die mir in den letzten Wochen voreilig zum Aufstieg gratuliert hatten, weil der VfL Bochum so ausdauernd an der Tabellenspitze stand und das vermeintlich „leichtere Restprogramm“ hatte. „Das schafft Ihr schon“, schallte es mir auf allen Kanälen entgegen, verbunden mit dem Glückwunsch zum Aufstieg. Um es kurz zu machen: ICH HASSE EUCH ALLE! Natürlich nicht wirklich, aber so etwas bringt noch mehr Unglück als Trikots ins Stadion zu schummeln.
Außerdem kamen etliche dieser Glückwünsche von Bewohnern der Bundesliga, die nicht wissen, dass die Zweite Liga das totale Irrenhaus ist. Es ist ja zuletzt viel vom Fehlen eines offenen Wettbewerbs in der Bundesliga die Rede gewesen, eine Klasse darunter gibt es ihn. Jeder kann jeden schlagen, kein Witz! Doch wozu führt das? Man weiß vorher nie, wie ein Spiel ausgeht, da kann man noch so sehr an der Tabellenspitze stehen. Was das Ganze so richtig anstrengend macht. Willkommen in der Hölle!
„Ich war irgendwann skeptisch, ob wir überhaupt noch mal aufsteigen könnten“, sagte Günther, als ich im Max-Morlock-Stadion auf der Tribüne eintraf. Wobei das ein gewichtiges Wort ist, denn im Vergleich zu Günther Pohl bin ein New Kid on the Block. Er hat 1971 den ersten Fan-Club des VfL Bochum mitgegründet und berichtet inzwischen so lange fürs Bochumer Lokalradio, dass die Partie in Nürnberg seine sage und schreibe 1.149 am Mikrofon war. Das sind viele Spiele, sehr viele. Er leidet dabei so mit, dass man ihm ab und zu Herztabletten rüberschieben möchte.
Insofern war es schön, dass ich Günthers vertraute Stimme über die leeren Tribünen des Nürnberger Stadions wehen hörte, denn sonst wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Und damit meine ich nicht die Aufregung, das Schwanken zwischen Bangen und Hoffen, sondern die Bezirkssportanlagenhaftigkeit der ganzen Situation. Hinter mir plauderten die Nürnberger Kollegen gemütlich vor sich hin, was ich ihnen nicht vorwerfen konnte, weil das Ergebnis für den Club weitgehend bedeutungslos war. Als Nürnbergs Keeper Mathenia mal wieder die donnernde Mahnung „zweiter Ball“ über den Platz schrie, bevor es überhaupt einen ersten Ball gab, sagte einer von ihnen: „Ich werde es nicht vermissen, Mathenia zu hören, wenn wieder Zuschauer im Stadion sind.“ Dann hupten vor dem Stadion einige Nürnberger Fans in der 18., 28. und 33. Minute, um ihre scheidenden Spieler Behrens, Mühl und Margreitter zu verabschieden, weil deren Rückennummer 18, 23 und 33 sind. Das war schön, aber auch surreal.
Am Tag zuvor hatten fünftausend VfL-Fans ihre Mannschaft auf dem Weg nach Nürnberg verabschiedet, eine wunderbares Geleit entlang der Castroper Straße mit Gesängen, Pyrofackeln und blau qualmenden Rauchtöpfen. Die Bochumer Ultras hatten gerufen, und mehr Menschen waren im strömenden Regen gekommen als alle erwartet hatten. Die nur wenige hundert Meter lange Fahrt zur Autobahn hatte eine halbe Stunde gedauert. Auch in Nürnberg stand ein Dutzend vor dem Stadion, man konnte sie sogar höre, aber mehr noch Bochums verletzten Keeper Riemann, der weit weg im Oberrang des Stadions saß und wahrscheinlich noch auf dem Reichsparteitagsgelände zu hören war. Als er kurz nach der Pause „Tarsis, geh!“ schrie, schaute sein Mannschaftskamerad Tarsis Bonga zutiefst irritiert auf die Tribüne. Derweil wurden von der kleinen Schar auf der Pressetribüne die eifrig wechselnden Zwischenstände laut vermeldet, wobei Günther Pohl das unter seinem Kopfhörer nicht mitbekam und immer eine Minute zu spät positive Zwischenstände für den VfL Bochum vermeldet. „Ja, Günther, wissen wir schon.“ Was er aber natürlich auch nicht hörte.
Irgendwann, als wieder ein verrückter Zwischenstand vom Spiel des Hamburger SV oder vielleicht auch aus Karlsruhe oder Braunschweig vermeldet wurde, sagte einer: „Solche Spieltage muss man sich eigentlich zuhause im Fernsehen anschauen.“ Ich dachte erst, ich höre nicht richtig. Das war natürlich Blasphemie, andererseits fand ich vor Ort überhaupt nicht ins Spiel. Nach einer ziemlich miesen ersten Halbzeit und einem 0:1‑Rückstand, machte es Bochum nach dem Wechsel besser und glich aus. Aber in dieser Stimmung aus einem schreienden Torwart im Oberrang, fernem Fan-Gemurmel und der Vermeldung von Zwischenständen ergab sich kein bisschen eine Nach-elf-Jahren-nur-noch-ein-Tor-von-der-Bundesliga-entfernt-Stimmung.
Es gab dann sogar noch Chancen für den VfL, wenn auch keine riesengroßen. Dann war Schluss, und die Bochumer standen unschlüssig auf dem Rasen herum. Fürth spielte noch in Paderborn und lag 3:2 vorn. Würden sie noch den Ausgleich kassieren, wäre Bochum in der Bundesliga. In einer Loge lief ein Fernseher, und dann rief einer runter auf den Platz: „Tor für Fürth, 4:2.“ Die Bochumer trotteten vom Platz, und bald danach fing es an zu regnen und dann kam der Zug zu spät.
Tabellenführer sind sie immer noch, und am nächsten Sonntag gegen Sandhausen reicht ein Unentschieden. In der Hölle wird schon Brennholz nachgelegt.
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