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Seite 2: Warum diese Verehrung der Niederlage?

Jeff und Syl­vain bestellen eine neue Runde bei Thomas, dem Wirt. Er ist ein kleiner Mann im wein­roten Hemd, der unent­wegt umher­streift und Gläser jon­gliert; er hat jetzt gerade keine Zeit. Er ist einmal gestol­pert, über Ste­wards, Ticket­fäl­scher und sich selbst. Sie rufen ihm nur Man­chester“ zu und er retour­niert mit einem eisigen Blick. Zum Euro­pa­po­kal­spiel in Man­chester 2017 reiste er mit 80 Fans über Düs­sel­dorf. Doch sie waren zu laut, sangen, schrien und tanzten im Flieger. Die Polizei hielt sie fest, wes­wegen sie den Anschluss­flug nach Eng­land ver­passten. Thomas schaffte es mit einer anderen Maschine noch recht­zeitig, musste aber vor dem Sehn­suchtsort Old Traf­ford kehrt­ma­chen. Sein Ticket war nicht gültig. Er schaute das Spiel der Spiele in einer Kneipe. Es sind die kleinen Schnurren der ver­ma­le­deiten Chancen, der ver­rückten Bege­ben­heiten, die durchs Lipo­pette schwirren. Eine andere spielte in Glasgow, erzählt die Gruppe:

Wir waren 2013 auf einer Sta­di­on­füh­rung im Glas­gower Hampden Park, da fragten wir, wo die Tore vom Finale 1976 seien. Als ASSE gegen Bayern spielte. Der Haus­meister führte uns in eine Abstell­kammer und wühlte durch all die alten Mate­ria­lien. Und plötz­lich, da lagen sie an der Seite, die eckigen Pfosten, ganz klar, das waren die Tore von 1976. In Saint-Éti­enne zeigten wir das Foto herum, eine Lokal­zei­tung druckte es ab. Mit der Mel­dung: Die Tor­pfosten sind auf­ge­taucht! Eine kleine Mel­dung, doch die Stadt drehte durch.

Der Verein rief in Glasgow an und wollte Pfosten und Latte nach Frank­reich bringen lassen. Da wit­terten die Schotten plötz­lich ein Geschäft. Sie for­derten 20 000 Euro. Eine wahn­wit­zige Summe. Doch die AS Saint-Éti­enne zahlte. Für das Tor­ge­stänge eines ver­lo­renen Finales. Wie soll man das ver­stehen?!

Phil­ippe Gastal fährt mit seinen dünnen Fin­gern einen Meter vor den Pfosten auf und ab. Sie sind hinter Glas gehalten wie ein kost­bares Gemälde. Gastal ist ein vor­nehmer, dünner Mann mit Sei­ten­scheitel, Anzug und unver­meid­lich-grüner Kra­watte. Auf Fran­zö­sisch klingt seine Job­be­schrei­bung noch wei­he­voller: Con­ser­va­teur du Musée des Verts. Das Museum von ASSE ist das erste Fuß­ball­mu­seum in Frank­reich; aus dem ganzen Land holen sich Ver­eine hier Tipps und bekommen generös Hilfe – außer Lyon, das ver­stehe sich ja wohl mitt­ler­weile von selbst. Gastal lächelt so ver­schmitzt wie nur Muse­ums­di­rek­toren oder Mathe­ma­tik­pro­fes­soren lächeln können. Er deutet wieder auf den teuren Import aus Schott­land. Es heißt bis heute, wären diese Pfosten rund gewesen, dann hätte Saint-Éti­enne das End­spiel gegen die Bayern gewonnen“, sagt Gastal.

Wäh­rend des Lan­des­meis­t­er­fi­nales 1976 hatte Saint-Éti­enne zwei Mal die Latte getroffen. Vom eckigen Gestänge sprangen die Bälle nicht ins Tor, son­dern ins Feld zurück. Die Bayern, wie sie nun mal so sind, gewannen non­cha­lant 1:0. Doch das Bild der poteaux carrés, der eckigen Pfosten, prägte sich ein ins Gedächtnis, sie wurden zu einem Mythos. 40 Jahre nach dem Spiel brachte L’Équipe“ eine Son­der­aus­gabe zum Finale heraus. In der Stadt tragen ein Restau­rant und eine Bar den Namen Poteaux Carrés. Neben den Ori­gi­nalen im Museum fla­ckert ein Spiel in Dau­er­schleife über ein TV-Gerät – das ver­lo­rene Finale. Gastal, der es hun­derte Male gesehen hat, mus­tert den Bild­schirm wie bei einer Live-Über­tra­gung.

Warum feiert Saint-Éti­enne nach vier Jahr­zehnten immer noch eine Nie­der­lage? Das mag sich zum einen mit der fran­zö­si­schen Men­ta­lität erklären. Sie lieben hier die per­d­ants, die schei­ternden Figuren, noch inniger als die Sieger. Der Rad­fahrer Ray­mond Poulidor ackerte sich ab 1953 jah­re­lang in der Tour de France ab, erhob es aber fast zu einer Kunst­form, im ent­schei­denden Moment den großen Sieg zu ver­passen. Die Fans jedoch ver­ehrten den ewigen Ver­lierer“ mit jedem Tief­schlag mehr. So wie sie immer noch abend­fül­lend über die unglück­liche Nie­der­lage gegen Deutsch­land bei der WM 1982 phi­lo­so­phieren. Zwar hat die Équipe tri­co­lore die Deut­schen seither häu­figer geschlagen, im EM-Halb­fi­nale oder jüngst in der Nations League, doch die Fran­zosen haben sich ver­guckt in die Melan­cholie und in das Drama.

In Saint-Eti­enne, da ist alles mög­lich!

Das ver­lo­rene Finale von 1976 schim­mert zudem aus einem anderen Grund durch ganz Saint-Éti­enne. Die dama­lige Mann­schaft bot berau­schenden Fuß­ball, mit tro­ckenen Abräu­mern wie Chris­tian Lopez in der Abwehr und esprit­vollen Drib­bel­künst­lern wie Dome­nique Roche­teau im Angriff. Der heu­tige Sport­di­rektor gab mit seinen langen, lockigen schwarzen Haaren eine Art George Best. Die Musiker der Stadt sangen Pop­songs über ihn. Saint-Éti­enne lie­ferte unglaub­liche Auf­hol­jagden zu Hause, die die Zei­tungen zu den heute geflü­gelten Worten inspi­rierte: À Saint-Éti­enne, tout est pos­sible. In Saint-Éti­enne, da ist alles mög­lich.

Das grüne Trikot von damals, mit Frank­reichs Natio­nal­farben auf dem Kragen, wurde zu einem iko­no­gra­fi­schen Leib­chen. Les Verts, die Grünen, mutierten sei­ner­zeit gar zur inof­fi­zi­ellen Natio­nal­mann­schaft Frank­reichs, für die das ganze Land Sym­pa­thien ent­wi­ckelte. Frank­reichs Prä­si­dent Valéry Gis­card d’Estaing schrieb dem Bür­ger­meister der Stadt damals: Danke, dass ihr Frank­reich ins Finale geführt habt.“

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Gastal findet sein jün­geres Ich auf den alten Bil­dern von den Fan­kurven.

Muse­ums­chef Gastal zeigt auf die alten Bilder: 100 000 Men­schen haben die Mann­schaft auf den Champs-Ély­sées emp­fangen. Das hat es vorher und danach nie für eine Ver­eins­mann­schaft gegeben.“ Gastal richtet sich stolz die Kra­watte. Er ist nicht der Ein­zige, den die alten Zeiten nicht los­lassen. In ein paar Stunden im Museum begegnet man ihnen unent­wegt, den Nost­al­gi­kern und Schwär­mern.

Wie der Frau, die draußen vor dem Museum ihren Wohn­wagen mit Saint-Éti­enne-Auf­kle­bern auf den Park­platz setzt. Alle zwei Wochen fährt Nathalie Salomon mit ihren drei Katzen die 400 Kilo­meter von Orléans nach Saint-Éti­enne. Sie besitzt eine Dau­er­karte. Oder Jason Kirk­wood, der durch die Gänge läuft und von der Herz­lich­keit der Bewohner erzählt, die ihn schon nach seinem ersten Besuch bei sich zu Hause haben über­nachten lassen. Kirk­wood stammt aus Brent­ford in Eng­land. In einem Vor­raum des Museums sitzt die 90-jäh­rige Elfi Tax, deren Vater Saint-Éti­enne in den drei­ßiger Jahren trai­nierte. Die Leute hier sind lieb, fuß­ball­ver­rückt und haben das Herz am rechten Fleck“, sagt sie in einem Wie­ne­risch mit fran­zö­si­schem Zun­gen­schlag.

Neben ihr hat Émile Robert Platz genommen, mit 97 Jahren der älteste Dau­er­kar­ten­in­haber des Klubs. Außerdem ist Auf­stiegs­held Patrick Guillou zu Besuch, er über­setzt ins Deut­sche. Über dem Museum führt Alex Mahinc in sein kleines Kabuff, wo er Tri­kots und Video­kas­setten auf­be­wahrt hat. Und so geht es immer weiter rund um dieses Museum. Überall tau­chen Men­schen auf, als wären sie zu Impuls­re­fe­raten ein­be­stellt in der beliebten Vor­trags­reihe: Was bedeutet eigent­lich das Wort Tra­di­ti­ons­verein“?