Saint-Étienne steht zum ersten Mal seit 1982 im französischen Pokalfinale, seit den Siebzigern ist der Verein ein französischer Mythos. Die schwarze Stadt feiert ihre Verlierer – und alte, eckige Torpfosten. Zu Besuch beim Kultklub.
Jeff und Sylvain bestellen eine neue Runde bei Thomas, dem Wirt. Er ist ein kleiner Mann im weinroten Hemd, der unentwegt umherstreift und Gläser jongliert; er hat jetzt gerade keine Zeit. Er ist einmal gestolpert, über Stewards, Ticketfälscher und sich selbst. Sie rufen ihm nur „Manchester“ zu und er retourniert mit einem eisigen Blick. Zum Europapokalspiel in Manchester 2017 reiste er mit 80 Fans über Düsseldorf. Doch sie waren zu laut, sangen, schrien und tanzten im Flieger. Die Polizei hielt sie fest, weswegen sie den Anschlussflug nach England verpassten. Thomas schaffte es mit einer anderen Maschine noch rechtzeitig, musste aber vor dem Sehnsuchtsort Old Trafford kehrtmachen. Sein Ticket war nicht gültig. Er schaute das Spiel der Spiele in einer Kneipe. Es sind die kleinen Schnurren der vermaledeiten Chancen, der verrückten Begebenheiten, die durchs Lipopette schwirren. Eine andere spielte in Glasgow, erzählt die Gruppe:
Wir waren 2013 auf einer Stadionführung im Glasgower Hampden Park, da fragten wir, wo die Tore vom Finale 1976 seien. Als ASSE gegen Bayern spielte. Der Hausmeister führte uns in eine Abstellkammer und wühlte durch all die alten Materialien. Und plötzlich, da lagen sie an der Seite, die eckigen Pfosten, ganz klar, das waren die Tore von 1976. In Saint-Étienne zeigten wir das Foto herum, eine Lokalzeitung druckte es ab. Mit der Meldung: Die Torpfosten sind aufgetaucht! Eine kleine Meldung, doch die Stadt drehte durch.
Der Verein rief in Glasgow an und wollte Pfosten und Latte nach Frankreich bringen lassen. Da witterten die Schotten plötzlich ein Geschäft. Sie forderten 20 000 Euro. Eine wahnwitzige Summe. Doch die AS Saint-Étienne zahlte. Für das Torgestänge eines verlorenen Finales. Wie soll man das verstehen?!
Philippe Gastal fährt mit seinen dünnen Fingern einen Meter vor den Pfosten auf und ab. Sie sind hinter Glas gehalten wie ein kostbares Gemälde. Gastal ist ein vornehmer, dünner Mann mit Seitenscheitel, Anzug und unvermeidlich-grüner Krawatte. Auf Französisch klingt seine Jobbeschreibung noch weihevoller: Conservateur du Musée des Verts. Das Museum von ASSE ist das erste Fußballmuseum in Frankreich; aus dem ganzen Land holen sich Vereine hier Tipps und bekommen generös Hilfe – außer Lyon, das verstehe sich ja wohl mittlerweile von selbst. Gastal lächelt so verschmitzt wie nur Museumsdirektoren oder Mathematikprofessoren lächeln können. Er deutet wieder auf den teuren Import aus Schottland. „Es heißt bis heute, wären diese Pfosten rund gewesen, dann hätte Saint-Étienne das Endspiel gegen die Bayern gewonnen“, sagt Gastal.
Während des Landesmeisterfinales 1976 hatte Saint-Étienne zwei Mal die Latte getroffen. Vom eckigen Gestänge sprangen die Bälle nicht ins Tor, sondern ins Feld zurück. Die Bayern, wie sie nun mal so sind, gewannen nonchalant 1:0. Doch das Bild der poteaux carrés, der eckigen Pfosten, prägte sich ein ins Gedächtnis, sie wurden zu einem Mythos. 40 Jahre nach dem Spiel brachte „L’Équipe“ eine Sonderausgabe zum Finale heraus. In der Stadt tragen ein Restaurant und eine Bar den Namen Poteaux Carrés. Neben den Originalen im Museum flackert ein Spiel in Dauerschleife über ein TV-Gerät – das verlorene Finale. Gastal, der es hunderte Male gesehen hat, mustert den Bildschirm wie bei einer Live-Übertragung.
Warum feiert Saint-Étienne nach vier Jahrzehnten immer noch eine Niederlage? Das mag sich zum einen mit der französischen Mentalität erklären. Sie lieben hier die perdants, die scheiternden Figuren, noch inniger als die Sieger. Der Radfahrer Raymond Poulidor ackerte sich ab 1953 jahrelang in der Tour de France ab, erhob es aber fast zu einer Kunstform, im entscheidenden Moment den großen Sieg zu verpassen. Die Fans jedoch verehrten den „ewigen Verlierer“ mit jedem Tiefschlag mehr. So wie sie immer noch abendfüllend über die unglückliche Niederlage gegen Deutschland bei der WM 1982 philosophieren. Zwar hat die Équipe tricolore die Deutschen seither häufiger geschlagen, im EM-Halbfinale oder jüngst in der Nations League, doch die Franzosen haben sich verguckt in die Melancholie und in das Drama.
In Saint-Etienne, da ist alles möglich!
Das verlorene Finale von 1976 schimmert zudem aus einem anderen Grund durch ganz Saint-Étienne. Die damalige Mannschaft bot berauschenden Fußball, mit trockenen Abräumern wie Christian Lopez in der Abwehr und espritvollen Dribbelkünstlern wie Domenique Rocheteau im Angriff. Der heutige Sportdirektor gab mit seinen langen, lockigen schwarzen Haaren eine Art George Best. Die Musiker der Stadt sangen Popsongs über ihn. Saint-Étienne lieferte unglaubliche Aufholjagden zu Hause, die die Zeitungen zu den heute geflügelten Worten inspirierte: À Saint-Étienne, tout est possible. In Saint-Étienne, da ist alles möglich.
Das grüne Trikot von damals, mit Frankreichs Nationalfarben auf dem Kragen, wurde zu einem ikonografischen Leibchen. Les Verts, die Grünen, mutierten seinerzeit gar zur inoffiziellen Nationalmannschaft Frankreichs, für die das ganze Land Sympathien entwickelte. Frankreichs Präsident Valéry Giscard d’Estaing schrieb dem Bürgermeister der Stadt damals: „Danke, dass ihr Frankreich ins Finale geführt habt.“
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Gastal findet sein jüngeres Ich auf den alten Bildern von den Fankurven.
Museumschef Gastal zeigt auf die alten Bilder: „100 000 Menschen haben die Mannschaft auf den Champs-Élysées empfangen. Das hat es vorher und danach nie für eine Vereinsmannschaft gegeben.“ Gastal richtet sich stolz die Krawatte. Er ist nicht der Einzige, den die alten Zeiten nicht loslassen. In ein paar Stunden im Museum begegnet man ihnen unentwegt, den Nostalgikern und Schwärmern.
Wie der Frau, die draußen vor dem Museum ihren Wohnwagen mit Saint-Étienne-Aufklebern auf den Parkplatz setzt. Alle zwei Wochen fährt Nathalie Salomon mit ihren drei Katzen die 400 Kilometer von Orléans nach Saint-Étienne. Sie besitzt eine Dauerkarte. Oder Jason Kirkwood, der durch die Gänge läuft und von der Herzlichkeit der Bewohner erzählt, die ihn schon nach seinem ersten Besuch bei sich zu Hause haben übernachten lassen. Kirkwood stammt aus Brentford in England. In einem Vorraum des Museums sitzt die 90-jährige Elfi Tax, deren Vater Saint-Étienne in den dreißiger Jahren trainierte. „Die Leute hier sind lieb, fußballverrückt und haben das Herz am rechten Fleck“, sagt sie in einem Wienerisch mit französischem Zungenschlag.
Neben ihr hat Émile Robert Platz genommen, mit 97 Jahren der älteste Dauerkarteninhaber des Klubs. Außerdem ist Aufstiegsheld Patrick Guillou zu Besuch, er übersetzt ins Deutsche. Über dem Museum führt Alex Mahinc in sein kleines Kabuff, wo er Trikots und Videokassetten aufbewahrt hat. Und so geht es immer weiter rund um dieses Museum. Überall tauchen Menschen auf, als wären sie zu Impulsreferaten einbestellt in der beliebten Vortragsreihe: Was bedeutet eigentlich das Wort „Traditionsverein“?