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Es gibt berühmte Fuß­ball­spiele, deren Ruhm nichts mit Fuß­ball zu tun hat. Ein Bei­spiel dafür ist die Partie zwi­schen Borussia Dort­mund und dem Ham­burger SV am 29. Spieltag der Saison 1986/87. Sie fand zwei Wochen vor dem Stichtag zur Volks­zäh­lung statt, wes­halb in der Nacht vor dem Spiel ein unbe­kannter Akti­vist einen Boy­kott­aufruf auf den Rasen malte. Die Begeg­nung konnte nur statt­finden, weil ein Mit­ar­beiter der Stadt die Bot­schaft um einige Wörter ergänzte und damit ihre Bedeu­tung umkehrte.

Damit endet meis­tens die Geschichte dieses Frei­tags. Dabei war das Spiel, das dann folgte, min­des­tens ebenso erin­ne­rungs­würdig. Ernst Hap­pels HSV kämpfte um die Meis­ter­schaft und ging im Dort­munder Dau­er­regen zweimal in Füh­rung. Die Borussia machte sich uner­wartet Hoff­nungen auf den UEFA-Cup, glich unter Flut­licht zweimal aus, erzielte das 3:2, kas­sierte den Aus­gleich und schoss schließ­lich vor der Süd­tri­büne das fre­ne­tisch gefei­erte Siegtor.

Tech­ni­sche Per­fek­tion und Ein­falls­reichtum

Es war eine der letzten wahr­haft magi­schen Nächte des größten Magiers, den ich je sehen durfte. Seinen ersten großen Auf­tritt des Spiels hatte der damals 32-jäh­rige Marcel Radu­canu schon in der 20. Minute. Auf den Beinen war er nicht mehr ganz so flink wie einst, dafür aber im Kopf schneller als alle anderen. Nach einem Foul an Erdal Keser führte er den fäl­ligen Frei­stoß blitz­artig aus und spielte einen Pass gera­de­wegs aus dem Hand­buch für Zehner, but­ter­weich in den Lauf von Nor­bert Dickel. So ent­stand das 1:1, denn Dickel wurde gelegt und Michael Zorc ver­wan­delte vom Punkt.

Seinen letzten großen Auf­tritt des Abends hatte der begna­dete Regis­seur in der 71. Minute. Wäh­rend Daniel Simmes beim Stand von 3:3 das Leder durchs auf­ge­weichte Mit­tel­feld trieb, zog Radu­canu auf dem rechten Flügel einen Sprint an, bei dem man sich als Fan in die Ver­gan­gen­heit zurück­ver­setzt fühlte. Denn Radu­canu war erst in Dort­mund zum klas­si­schen Diri­genten geworden, der den Takt an- und das Tempo vorgab. In seiner Heimat Rumä­nien hatte er lange Zeit als Außen­stürmer gespielt. Schließ­lich ver­band er die klas­si­schen Stärken eines Mit­tel­feld­stra­tegen – tech­ni­sche Per­fek­tion und Ein­falls­reichtum – mit für Zehner eher unty­pi­schen Eigen­schaften: Zu seiner besten Zeit war Radu­canu lauf­freudig, tor­ge­fähr­lich und drib­bel­stark. Ach ja, flanken konnte er auch noch. Und das tat er nun gegen den HSV, denn als Simmes ihn schließ­lich anspielte, zir­kelte der rumä­ni­sche Spiel­ma­cher den Ball in den Straf­raum, prä­zise auf den Schädel von Dickel. So ent­stand das 4:3, denn der Kopf­ball lan­dete am Pfosten und Keser ver­senkte den Abpraller.

Mit einer Bei­läu­fig­keit zum Nie­der­knien

Aber mein viel­leicht liebster Radu­canu-Moment spielte sich zwi­schen diesen beiden Aktionen ab. Nach etwa einer Stunde stoppte der BVB einen Angriff des HSV und star­tete einen Konter. Natür­lich wurde der Ball zu Radu­canu gespielt, schließ­lich war er der Kopf der Elf und wusste stets, was zu tun war. Radu­canu stand zwei Meter in der eigenen Hälfte und mit dem Rücken zum geg­ne­ri­schen Tor. Er sah, wie der Ball auf ihn zukam. Er sah auch, wie links von ihm drei Mit­spieler Tempo auf­nahmen. Er wusste, dass seine Mann­schaft kost­bare Zeit ver­lieren würde, wenn er jetzt den Ball annahm und sich dann drehte. Also ließ er den Pass an seinem Stand­bein vor­bei­laufen und stupste ihn dann mit der Hacke – und mit einer Bei­läu­fig­keit zum Nie­der­knien – in den Lauf von Frank Pagels­dorf. So ent­stand das 3:2, denn Pagels­dorf spielte dann Simmes an, der den Ball ins lange Eck nagelte.

Ich muss gesehen haben, wie Simmes abzog. Doch in meiner Erin­ne­rung ruhten meine Augen auf Radu­canu, der sich das Tor aus gebüh­render Ent­fer­nung ansah. Nicht wie ein Feld­herr auf seinem Hügel, eher wie ein Maler, der etwas zurück­tritt, um ein wenig Abstand von seinem Werk zu gewinnen. In sol­chen Augen­bli­cken liebte ich Radu­canu ganz beson­ders. Und in sol­chen Augen­bli­cken tat er mir immer ein wenig leid.

Wie alle echten Helden, so umwehte auch Radu­canu ein Hauch von Tragik. Rumä­niens Fuß­baller des Jahres 1980 hatte das Pech, in einem Land geboren zu werden, das man nicht ein­fach so ver­lassen konnte. Des­halb setzte er sich im Sommer 1981 nach einem Spiel der Natio­nal­mann­schaft in Dort­mund ab. Dafür wurde er ein Jahr gesperrt und konnte erst im August 1982, im Alter von fast 28 Jahren, für einen Verein Fuß­ball spielen, den er sich selbst aus­ge­sucht hatte. Das war der BVB, der durch den Prä­si­denten Rein­hard Rau­ball saniert worden war, sich kurz zuvor unter Trainer Branko Zebec für den UEFA-Cup qua­li­fi­ziert hatte und zum ersten Mal seit 16 Jahren wieder euro­pä­isch spielen würde.

Wie ein Bal­lett-Tänzer unter Schuh­platt­lern

Tja, und dann wurde Zebec wegen seiner Alko­hol­pro­bleme ent­lassen und Rau­ball trat zurück, um sich auf seinen Beruf zu kon­zen­trieren. Damit begannen Dort­munds düs­tere Acht­ziger. Nazis auf den Rängen, limi­tierte Kicker auf dem Rasen, totale Ebbe in der Kasse. Der Klub war bei­nahe abge­stiegen, dann bei­nahe bank­rott, dann bei­nahe beides. Und mitt­den­drin Radu­canu, den der Kicker“ schon nach seinem ersten Spiel für Borussia als Super­star“ bezeichnet hatte. Er wirkte wie ein Bal­lett-Tänzer unter Schuh­platt­lern.

Sechs Jahre tat er sich das an. In den meisten von ihnen hielt er den BVB mehr oder weniger alleine in der Bun­des­liga. Und das viel­leicht Bewun­derns­wer­teste an ihm waren nicht seine langen Pässe oder die klugen Zuspiele in die Spitze. Son­dern wie er es mit stoi­scher Ruhe ertrug, dass die meisten seiner Ideen zu nichts führten, weil die Mit­spieler nicht mal ansatz­weise seine Klasse hatten. Irgendwie ist es stimmig, dass Radu­canu den BVB nach einer wei­teren ent­täu­schenden Saison im Sommer 1988 ver­ließ, um seine Kar­riere in der Schweiz aus­klingen zu lassen – und so den glor­rei­chen Pokal­sieg 1989 ver­passte.

Bei dem führte dann übri­gens schon sein Nach­folger Regie. Er hieß Andreas Möller und war auch ziem­lich gut. Aber nie so magisch wie der beste Zehner, den ich je für Dort­mund spielen sah: Marcel Radu­canu. 

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