Matthias Brügelmann, Sportchef der „Bild“-Zeitung, war mindestens einmal von der „Syker Kreiszeitung“ beeindruckt. Es war in den Neunzigern, da war Brügelmann noch Journalistenschüler und Spieler beim TSV Leeste, einem kleinen Verein im Verbreitungsgebiet der „Kreiszeitung“. Gegen den Brinkumer SV schoss er ein Tor – unter den Augen des Heimatsportreporters Gerd Töbelmann. „Weltpremiere! Brügelmann trifft per Kopf!“, jubilierte dieser am nächsten Tag in der „Kreiszeitung“. Brügelmann staunt noch heute: „Solche Übertreibungen trauen ja nicht mal wir uns.“
2006 war Brügelmann schon Leiter der größten Sportredaktion des Landes. Es ist zwar nicht überliefert, aber vorstellbar, dass die Kollegen aus der Provinz ihn abermals beeindruckten. Gerade war Torsten Frings wegen seines Fausthiebes gegen den Argentinier Julio Cruz für das WM-Halbfinale gegen Italien gesperrt worden. Doch nicht ein „Bild“-Redakteur reagierte am schnellsten, Björn Knips von der „Kreiszeitung“ klingelte als Erster beim Wüterich durch: „Hallo, Torsten! Schon gehört? Ein Spiel Sperre!“ – „Nä! Ich hab doch gar nix gemacht! Sauerei!“ Aufgelegt. Handy aus.
Nicht die allmächtige „Bild“ hatte das einzige Zitat, stattdessen hieß es überall: „… sagte Torsten Frings gegenüber der ›Syker Kreiszeitung‹.“ Auf „spiegel.de“, auf „n‑tv“, in der „Süddeutschen Zeitung“ und sogar in der Sportschau. „Ich dachte, ich fall’ vom Stuhl, als Monica Lierhaus die Meldung vorlas“, sagt Björn Knips. Am nächsten Morgen gab es zur Feier des Tages Mettbrötchen in der Redaktion.
Werder-Boss Born hatte Witze über Ex-Manager Lemke gerissen
Die Frings-Meldung war der erste einer Reihe von journalistischen Streichen, die der Werder-Redaktion der „Kreiszeitung“ in den vergangenen Jahren gelangen. So waren sie die Ersten, die von Miroslav Kloses spektakulärem Wechsel nach München wussten, sie recherchierten das Zerwürfnis zwischen dem erkrankten Ivan Klasnic und der medizinischen Abteilung des Vereins, und erst im September informierten sie Deutschland über die Notoperation, der Torsten Frings sich unterziehen musste. Allein im Jahr 2009 brachte sie es auf 372 Erwähnungen in anderen Publikationen – bemerkenswert viel für eine Lokalzeitung mit einer Auflage von nur 70 000 Exemplaren. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und der „Kicker“ haben sie zitiert, aber auch „Australian FourFourTwo“ und der mexikanische Radiosender „Trece“. Als Mesut Özil im Sommer nach Madrid ging, meldeten sich die Kollegen der spanischen Tageszeitung „Marca“ in Syke und baten um ein Hintergrundgespräch. Selbst „Bild“ griff eine Meldung auf: Auf einem Dorffest hatte der damalige Werder-Vorstandsvorsitzende Jürgen L. Born Witze über den Ex-Manager Willi Lemke gerissen. Auf der Bierbank: ein Kreiszeitungsmann.
Werder kennt jeder, Syke kein Mensch
Und doch fragt sich die Welt noch immer: Wo, wer oder was ist Syke? „Wenn wir ›Norddeutsche Zeitung‹ hießen, würde sich kein Mensch wundern“, sagt Redaktionsleiter Ingo Trümpler. „Aber so wissen die Leute noch nicht mal genau, ob man Süke oder Sike sagt.“
Syke (sprich: „Sike“ – „Süke“ bedeutet im Plattdeutschen „Seuche“) liegt kaum 20 Kilometer vom Bremer Weserstadion entfernt, mitten im Werderland. 25 000 Menschen leben hier, ARD-Moderator Reinhold Beckmann machte einst sein Abitur am örtlichen Gymnasium. Nach der Verwaltungsreform 1978 verlor die Stadt ihr eigenes Autokennzeichen. Nur ein paar sehr alte Trecker fahren noch mit dem SY durch die Gegend. Auf allen anderen Nummernschildern steht DH für Diepholz, in Bremen sagen sie dazu „Dummer Hund“.
Am Ristedter Weg wächst eine Ligusterhecke, bei Grabmale Grabowsky kreischt die Flex. Vor dem Wertstoffhof zerrt ein älteres Ehepaar Altpapier aus dem Kombi. Am Ende der Hecke weht eine Fahne, auf der „Kreiszeitung“ steht. Wie immer brütet man in der Redaktion über Meldungen „aus Niedersachsen, Deutschland und der Welt“: Der Geflügelzüchterverein wird 100 Jahre alt. Im Autohaus Brandt bietet ein Gitarrenduo „nur leicht verzerrte Power-Akustik“. Die Kyffhäuserkameradschaft lädt zum Schlachteplatte-Essen. Anders als in den großen Medienstädten des Landes vergeht die Zeit in Syke nicht. Sie ist einfach da, in Form von Traditionen. Man hasst Veränderungen. Und man hasst auch Sensationen, weil sie mit Veränderungen einhergehen. Deswegen liebt man Werder so: Dort kann man Sensationen erleben. Und trotzdem bleibt alles beim Alten.
Anfangs als Bauernblatt verlacht, jetzt das Zentralorgan von Werder
Thomas Schaaf ist seit mehr als einer Dekade im Amt. Und beinah genauso lange berichtet die „Kreiszeitung“ täglich auf einer Seite über Werder, vor wichtigen Spielen sogar auf drei oder vier. Das Format heißt „Werder total“, und das ist keine Übertreibung: Wer wissen will, wie dieser Verein tickt, kommt an der „Kreiszeitung“ nicht vorbei. Anfangs als Bauernblatt verlacht, ist sie längst als „Zentralorgan des Vereins“ anerkannt, wie Jörg Marwedel, Werder-Experte der „Süddeutschen Zeitung“, es ausdrückt. „Wer so lange täglich bei uns ist, der kann Nähe aufbauen und bekommt automatisch viel mit“, sagt Tino Polster, Mediendirektor bei Werder.
Konkurrenten aus dem Umland verschliefen die Entwicklung. Vielleicht waren sie noch zu ermattet von der Ära Rehhagel, als Vizepräsident Klaus-Dieter Fischer Pressekonferenzen mit den Worten abzumoderieren pflegte: „Noch Fragen an den Trainer? Das ist nicht der Fall, ich danke Ihnen.“
Auch Schaaf war nie für ein enormes Sendungsbewusstsein bekannt. Doch anders als König Otto war er durchaus volksnah – und daran interessiert, die Fans in die „Werder-Familie“ zu integrieren. Eine Trainerlegende aus den Amateurklassen des Bremer Umlandes heißt Heini Tegeler. Schaaf, der am liebsten Ballonseide trägt, ist ihm ähnlicher als Fußballblaublütern wie Louis van Gaal. Er nahm die „Kreiszeitung“ ernst, und er ließ die Redakteure an sich heran, weil er wusste: Durch sie erreicht er die Haushalte, in denen seit Generationen der grün-weiße Wimpel über der Eckbank hängt. Die Herzkammer des Vereins. „… sagte Thomas Schaaf in der ›Syker Kreiszeitung‹“ – darüber mochte die Republik staunen, für die Leser des Blattes war es Alltag. Der Coach war ja einer von ihnen, warum sollte er dann nicht auch direkt zu ihnen sprechen? In der Freitagsausgabe von „Werder total“ tippt er seit Jahren regelmäßig den Spieltag. Seine Gegner heißen Marcel (12) aus Bruchhausen-Vilsen oder Rosemarie (65) aus Twistringen.
Mittendrin bei Werders Pokalsieg
Gemeinsam erlebten Marcel (12), Rosemarie (65) und Thomas (49) viel Schönes. Und die „Kreiszeitung“ verfasste die dazu passende Festschrift. Die Werder-Redakteure Flügge, Knips und ihre Kollegen Carsten Sander und Malte Rehnert sind die Chronisten der Ära Schaaf. Sie begleiteten die Mannschaft überall hin, reisten mit ihr nach Aktobe, Kasachstan, verbrachten mit ihr jeden Sommer zwei Wochen auf Norderney und im Winter eine in Belek, saßen mit ihr während des Lotsenstreiks am Athener Flughafen fest und feierten mit ihr nach dem Pokalsieg 2004 in einer Berliner Disko. Um zum enthemmt tanzenden Tim Borowski vorzudringen, flüsterten sie dem Türsteher das geheime Passwort zu: „Ailton!“
Arne Flügge hat Thomas Schaaf sogar mal ein Abo der „Kreiszeitung“ angedreht. Heute liest der Coach – das Abo muss sich ja lohnen – „alles, vom Lokalteil bis zum Sport, auch den Heimatsport“, wie er auf Anfrage sagt. Er entschied sich übrigens für einen „Wassermaxx“ als Prämie, ein Gerät zum Aufsprudeln von Leitungswasser. Eine Anekdote, die eine beidseitig enge Verbindung zwischen Zeitung und Verein symbolisiert. „In zehn Jahre ist auch eine emotionale Nähe zum Verein entstanden“, sagt Hans Willms, Chefredakteur der „Syker Kreiszeitung“. „Wir sind Fans von Werder Bremen. Und das heißt: hoffen, fühlen, glauben.“
Embedded journalism, eingebetteten Journalismus, könnte man das nennen. Dieses Dabeisein gerät allerdings rasch unter den Verdacht, Hofberichterstattung zu sein. Um das abschließend bewerten zu können, lief es bei Werder in den letzten Jahren jedoch schlichtweg zu gut. Und die Redakteure der „Kreiszeitung“ drückten der Mannschaft und sich selbst die Daumen, dass das nie aufhören möge. Sie wollten lieber am Athener Flughafen feststecken, als beim Testspiel in Osterholz-Scharmbeck zugeparkt zu werden.
Die Angst, Werder-Opa Dieter Eilts eine Sechs zu geben
Die „Kreiszeitung“ dokumentierte Sternstunden, aber auch Desaster wie das 2:7 gegen Lyon oder das Aus im UI-Cup gegen den österreichischen Niemand Superfund Pasching. Dass der Ton nach solch herben Schlappen gemäßigt blieb, ist der persönlichen Haltung der Redakteure geschuldet. „Hier wird nicht so schnell vergessen, was einer geleistet hat“, sagt Arne Flügge. Als er einmal zusehen musste, wie der späte Dieter Eilts in einem Spiel gegen Hertha BSC schon nach einer halben Stunde drei Gegentreffer verschuldet hatte, bereitete ihm die Benotung des Mittelfeldoldtimers echte Bauchschmerzen: „Ich hatte Angst, ihm eine Sechs zu geben.“ Er tat es dennoch, es ging nicht anders. Eilts zwinkerte ihm am nächsten Tag verschmitzt zu.
Die Mäßigung hat aber auch einen ganz pragmatischen Grund: „Wir bedenken immer, dass wir den Leuten wieder in die Augen schauen können“, sagt Björn Knips. Die Tage am Trainingsplatz können lang werden, wenn der Bremer Landregen niedergeht und der Coach einen keines Blickes würdigt. „Kollegen, die nicht so nah dran sind, können draufhauen“, sagt Knips. „Wir müssen vorsichtig sein.“
Skandal bei Werder? Die Syker bleiben diskret.
Einmal enthüllten sie, dass Diego und Mesut Özil, obwohl beide offiziell verletzt, heimlich an der Weser an einem Spaßkick teilnahmen. In den meisten Fällen, die sich abseits des Platzes ereignen, bleiben sie aber diskret. „Uns wurde mal ein Foto von Carlos Alberto zugespielt, wie er morgens um vier in der Disco tanzt“, sagt Arne Flügge. „Wir haben es nicht gebracht. Wir warten ja auch nicht nachts an der Laterne.“
Chefredakteur Hans Willms versteht seine Mitarbeiter, ist mit Blick auf die Auflage aber manchmal zwiegespalten: „Ich bin froh, dass ich nicht immer weiß, was die Kollegen aus der Sportredaktion wissen.“ Wenn du mir alles erzählst, erzähle ich nicht alles weiter – das ist der Pakt. „Es ist angenehmer, mit der ›Kreiszeitung‹ umzugehen als mit dem ›Kölner Express‹“, sagt Ralph Durry, Werder-Redakteur beim Sportinformationsdienst. „Das ist wohl ein Grund, warum Schaaf es
sich zweimal überlegt, ob er den Verein wechselt.“ Als sich die Bremer Mitte November, eine Woche nach dem 0:6 in Stuttgart, zu einem 0:0 gegen Frankfurt quälten, maulte „Bild“: „Werder nur noch zum Gähnen.“ Die „Kreiszeitung“ schrieb: „Ein erster Hoffnungsschimmer.“
Die Hoffnung ist nicht uneigennützig. Sollte Bremen sich erstmals seit zehn Jahren nicht für einen internationalen Wettbewerb qualifizieren, bekommen die Redakteure Probleme, ihr „Werder total“ zu füllen. Ein Vorbericht am Freitag, ein Nachdreher am Montag – doch was schreiben sie an den Tagen dazwischen, wenn sie nicht mit dem Team durch Europa touren? „Dann geraten wir unter akuten Beschaffungsdruck“, sagt Ressortleiter Ingo Trümpler.
Der Bremer Herbst der Niederlagen bietet schon ein dumpfes Vorgefühl. Das einst so kumpelhafte Verhältnis hat gelitten. Schaaf hat auf einer Pressekonferenz die versammelte Journaille abgewatscht, weil ihm die Kritik am Neuzugang Mikael Silvestre nicht schmeckte, und gab wochenlang keine Interviews – auch nicht der „Kreiszeitung“. Die schrieb daraufhin ungewöhnlich distanziert von „Herrn Schaaf“.
Eine Woche nach dem „Hoffnungsschimmer“ geht Werder 0:4 auf Schalke unter. „Der Tag der Dilettanten“, schreibt Arne Flügge in der „Kreiszeitung“. Er gibt Aaron Hunt, Petri Pasanen und Sebastian Prödl die Note, vor der er einmal solche Angst hatte: die Sechs.
„Schaa-haaf raus!“ Das singt sich blöd. Auch bei der „Kreiszeitung“ tut man sich schwer damit. Die jahrelang gepflegten Kontakte und Vertrauensverhältnisse stünden zur Disposition. „Wir wollen niemanden vernichten“, sagt Chefredakteur Willms. „Aber aus publizistischen Gründen kann es dazu kommen, dass ich sage: Jetzt müssen wir auch mal die Trainerfrage stellen.“ Da hatte Thomas Schaaf angeblich schon selbst gefragt: „Soll ich zurücktreten?“ So stand es jedenfalls in der „Bild“-Zeitung. Diesmal war sie schneller.