Die 11FREUNDE-Dienstagskolumne: Jede Woche machen sich Frank Willmann, Lucas Vogelsang, Titus Chalk und Frank Baade im Wechsel Gedanken über den Fußball, die Bundesliga und was sonst noch so passiert. Dass unser heutiger Kolumnist, der Buchautor und Ostfußball-Experte Frank Willmann überhaupt noch Zeit für eine Kolumne hat, ist ein Wunder. Sein neuestes Werk heißt „Zonenfußball“ („Verlag Neues Leben“.)
Zu Zonenzeiten hießen die Fußballfans zwischen Suhl und Saßnitz Anhänger. Das klingt ein wenig nach Sekte. Und wurde wahrscheinlich von Erich Mielke eingeführt.
Die Spiele wurden 14 Uhr angepfiffen, im Winter mal früher. Solchen Quatsch wie Freitag, Sonntag oder Montagspiele gab es nicht. Wenn es schneite, bohrten wir auf den gefrorenen Rängen weiter in der Nase und träumten vom Maracana Stadion. Oder von richtigen Bananen, die höchsten der verwöhnte Berliner zwischen 1949 und 1989 zu futtern bekam.
Ansonsten war der Fußball in Ost und West weitestgehend identisch. Er wühlte Wochenende für Wochenende unsere heißen Herzen auf. Mir als Anhänger des FC Carl Zeiss blieb viel Zeit zu feiern.
Einen Grund zum Feiern muss es immer geben. Jedoch bot der angebetete Geliebte, der huldreiche FCC, leider in den vergangenen Jahren selten Gelegenheit dazu. Jenafan zu sein, bedeutet, die Tiefen des Schmerzes auszuloten. Immer mit eindreiviertel Beinen im Grab. Ostwind Stärke zehn.
Ich bin wieder trunken vor Glück!
Seit wenigen Tagen rollt der Ball endlich wieder. Ich bin wieder trunken vor Glück. Vorbei sind die schlaffen Tage des gedankenlosen Vegetierens. In unserer schnöden Fußball-Welt des schnellen Geldes, ist jegliches Gefühl als zartes Pflänzchen zu bewerten. Nicht umsonst ist es bei einigen Ultras Mode, anstatt der Mannschaft sich selbst zu feiern. Ein Vorbote des endgültigen Verfalls unseres Sports?
Die Größe des Augenblicks, wenn unsere siegreiche Mannschaft etwas Unerwartetes erreicht hat, dieser kollektive Glückstaumel, den wir nicht fliehen möchten. Das ist unser Fußballsport! Der mich vergangenen Samstag wieder mit all seiner übermenschlichen Wucht traf – und fast niederstreckte. Noch jetzt muss ich mich zitternd ablegen, wenn ich an die Ereignisse des Wochenendes denke…
Ying-Yang? Franz Josef Strauß? Dolch im Rücken?
Samstag 12 Uhr. Ich lese im Liveticker, unser heutiger Schiedsrichter heißt Karl Valentin. Der alte Komödiant, der so gern blöde Witze reißt. Ist das nun ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen? Hat der Schiri vielleicht gar keine Gemeinsamkeit mit dem Witzemacher? Liegt ein Ying-Yang-Effekt vor? Der Schiedsrichter ist der wiedergeborene Franz Josef Strauß? Erst den Ossi mit Gaben (umstrittener Elfmeter) locken. Dann den Dolch in den Rücken und genüsslich Ausbluten lassen?
Ich geh noch mal schnell nach draußen, eine Runde drehen. Für den Fall, dass mir der Kopf abfällt, oder mir Diebe meine Geldkatze klauen, bleibe ich in der Nähe meiner Behausung. Mit abgefallenem Kopf und ohne Geldkatze kann man keinen Liveticker studieren.
Es wühlt in mir, es brodelt. Ich höre Geräusche. Das Spiel. Es geht gegen Saarbrücken, die sind momentan sehr aufgekratzt. Neuwahlen, der hellrote Oskar röhrt wieder. Ob das die Mannschaft zusätzlich motiviert?
14:03 Uhr: Jan Simak, mit Dir durchs Stahlbad!
14 Uhr, Anpfiff. Die Mannschaften betreten den Rasen. Die Gäste spielen ganz in Blau, unser FCC mit weißen Shirts und blauen Hosen.
14:02 Uhr. Die Gäste in blau? Wie konnte man das Zulassen? Das ist doch unsere Farbe! Das wird nix, durchzuckt mich ein böser Gedanke.
14:03 Uhr. Neuzugang Boskovic spielt heute als Stürmer. Hoffnung. Die ersten zweiunddreißig Minuten gehören Jena. Doch kein wilder Torrammler drischt eine der 99 Flanken, genialen Pässe und Freistöße unseres Althasen Jan Simak über die Torlinie. Jan Simak, gemeinsam mit dir durch das Stahlbad. Du gefallener Cherub, hast auch schon von fetteren Trauben genascht. Bangigkeit wechselt mit scheinheiligem Siegesvertrauen. Vom nahen Friedhof wimmert irgendein Vogel und bringt mich vollends aus dem Konzept. Haben wir denn keine Jäger für solche Fälle? Kann sich jeder Vogel herausnehmen zu krächzen, zu wimmern, mir den letzen Nerv zu rauben: Wir wohnen in einer Stadt, hier haben sich Tiere im Käfig oder im Aquarium aufzuhalten!
Wie am Marterpfahl der Schoschonen
Dann kommt die verflixte 33. Minute. Zwei Dreien hintereinander, das ging noch nie gut. Saarbrücken berennt erstmalig das Jenenser Tor und trifft zum 1:0. Wellen des Schmerzes durchpflügen mein Hirn, es ist wie ein Wochenende am Marterpfahl der Schoschonen.
Langsam komme ich zu mir. Auch der Schoschone hatte gegen Whiskey und Feuerrohr der Siedler keine Chance. Das gibt mir Zukunftsglaube.
Die Minuten bis zur Halbzeit verrinnen. Jena gelähmt, Saarbrücken spielt den Ball. Grausam und ehern. 4580 treue Seelen bangen mit mir im Stadion, ungezählt die einsamen Exilanten. Die wie ich am Liveticker hängen, dort älter und grauer werden.
Es hagelt gelbe Karten. Warum fällt kein Tor für Jena? Ich boxe zaghaft gegen die Wände meines Zimmers und frage die Hauskatze, wie das Spiel ausgehen wird. Die Katze streicht mir um die Beine und mauzt. Sie mauzt genau einmal. Bedeutet das den nahen Ausgleich? Ist das ein Hinweis für nahendes Glück? Ich renne in die Küche, diese Katze muss mit einem Leckerli belohnt werden.
Rot für Ullmann – ich möchte die Katze erwürgen!
Zurück am Liveticker hat unser Ullmann gerade nach einer schlanken Grätsche die rote Karte bekommen! Aus der Tiefe des Raumes funkeln die Augen der Katze. Ich will sie packen und erwürgen. Doch das miese Vieh sprintet schnell in das Zimmer meiner Frau. Katze und Frau schauen mich desinteressiert an. Ich schließe die Tür. Ich schließe mit der 3. Liga ab.
Der Abstieg in die Regionalliga? Bitterböse Endstation. Dort kommt doch keiner mehr raus. Das ist wie Stasiknast in Bautzen. Einmal dort abgeliefert, bleiben uns blaugelbweissen Schelmen nur Wasser, schimmliges Brot und der Zipsendorfer Fußballclub Meuselwitz.
Wankend stehe ich vorm Laptop. Die Minuten verrinnen. Simak verlässt den Platz! Ich lasse alle Hoffnung fahren und bereite mich auf die innere Emigration vor.
Erstaunliches geschieht. Obwohl Jena ein Balltreter fehlt, spielen sie Torchancen heraus.
Dann die 78. Minute! Halbgott Pichinot, der Joker!
Abermals keimt ein zartes Pflänzlein. Ich verrammle die Tür. Nur nicht wieder die Katze rein lassen, dieses blöde Biest. Tiere und Fußball, das geht gar nicht. Los, Jena, die letzen Reserven hervorgeholt! Ich strample mit den Füssen, ich klopfe auf den Schreibtisch, ich raufe mir die Haare und schreie einsam nach Hilfe.
Dann die 78. Minute! Halbgott Pichinot, der Joker! Er kommt irgendwie an die Flanke unseres ebenfalls eingewechselten Neuzugangs Becken und der Liveticker ist nur noch TOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOR!!!
Die Minuten bis zum Schlusspfiff vergehen wie in Trance. Beseelt glotze ich auf den Liveticker, mich kann nichts mehr schrecken.
Ich umarme mich, reibe die Achseln am Oberkörper, klatsche mich ab. Der Fußball ist gut.