Heiko Westermann wird heute 40 Jahre alt. 2017 haben wir ihn in Österreich besucht – um vor allem einer Frage nachzugehen: Warum haben sich über HW4 dauernd alle lustig gemacht?
Die Reportage erschien erstmals im September 2017.
Heiko Westermanns Stimme schallt über den frischgewässerten Trainingsplatz in Wien. „Siebzehn! Achtzehn! Ah, komm noch mal!“ Bei der Austria, seinem neuen Verein, spielt man Fünf gegen Zwei. Westermann zählt jeden Ballkontakt seines Teams laut mit. „Dreiundzwanzig! Vierundzwanzig! Fünfund … Neiiiiin!“ Mit einem Ausfallschritt versucht der in die Jahre gekommene Kahlkopf, den schlechten Pass eines Mitspielers noch zu erreichen. Westermann kann den Ball zwar noch touchieren, aber es reicht nicht – das Leder ist futsch. Er nimmt den Passgeber in den Arm. Alles halb so schlimm, ist ja nur Training, gleich noch mal. Westermann lacht. Hier, in Steinbrunn, einem Vorort von Österreichs Hauptstadt, hat er nicht nur einen neuen Arbeitgeber gefunden, sondern auch wieder Spaß am Fußball.
Wer Heiko Westermann im Frühjahr 2015 gefragt hätte, ob ihm das Spiel Spaß macht, der hätte wohl nur einen verständnislosen Blick geerntet. Vielleicht wäre der Fragesteller sogar gleich aufgefressen worden. Damals lagen die Nerven in Hamburg mal wieder blank. Es war keine durchwachsene Saison, keine mit Aufs und Abs. Nein: Der Hamburger SV steckte immer im Schlamassel. Völlig egal, wer sich an der Seitenlinie befand, nervös hektisch an den Rand der Coachingzone lief, Befehle erteilte und kopfschüttelnd zurück zur Bank lief. Ob es Mirko Slomka war, der am dritten Spieltag ohne ein einziges Tor entlassen wurde. Ob es Heilsbringer Joe Zinnbauer war, dem nach einem desaströsen, aber nahezu erwartungsgemäßen 0:8 gegen den FC Bayern die Ausgangstür gewiesen wurde. Ob es Bruno Labbadia war.
Nur auf eine Konstante konnte sich jeder Hamburger verlassen: Witze über HW4. Das Internet war voll mit Bildern, Videos und Sprüchen wie „Lionel Messi ist nur Weltfußballer, weil Heiko Westermann sich nicht wählen ließ“ oder „Kein Mensch, kein Tier, HW4“. Oder mit Videos. Etwa dem Clip, auf dem Westermanns Kopf mit Anlauf gegen den Pfosten knallt. Alles zwischen Humor und Mario Barth war erlaubt. Zu dieser Zeit hätten Scherze über Westermann wohl auch das Olympiastadion gefüllt. Was die Frage aufwirft: Warum eigentlich? Warum immer er?
Etwas in der Art fragte sich auch Mario Balotelli im Oktober 2011. Als er im Manchester-Derby ein Tor für City schoss, zog er beim Jubel sein Trikot hoch. Darunter trug er ein selbstgebasteltes T‑Shirt mit der einfachen Frage: „Why always me?“ Er wollte wissen, warum er – zu jener Zeit der beste italienische Stürmer – von der Presse und den Fans verspottet wurde. Warum seine Eskapaden mehr Aufsehen erregten als die Leistung auf dem Platz. Warum jeder einzelne Abschleppvorgang (30) seines falsch geparkten Autos länger kommentiert wurde als seine Tore für Manchester City (20). Die Antwort war: Die Menschen brauchten einen Sündenbock und Balotelli bot sich an wegen der Melange aus Fehlverhalten neben und arroganter Spielereien auf dem Fußballplatz, multiplizierende Faktoren in Zeiten des Internets. Und dann kam dazu natürlich noch der offene Rassismus im Einwanderungsland Italien, das kein Land für Einwanderer sein möchte.
Doch warum wurde Westermann zum Sündenbock? So paradox es klingt: Nicht zuletzt wegen eines tollen Tores. Am 4. April 2014 spielt der HSV gegen Bayer Leverkusen, einer der seltenen Höhepunkte einer Saison, die mit der (ersten) Relegation gegen Greuther Fürth endet. Es ist ein hochdramatischer Freitagabend. Beim Stand von 1:0 branden die Angriffe der Leverkusener gegen das Tor von René Adler wie Wellen gegen den Deich. Adler wächst über sich hinaus, bis ihm ein einfacher Ball von Julian Brandt durch die Finger gleitet. Wieder kein Sieg im Volksparkstadion? Die Hoffnung sinkt in der Ostkurve, auf der VIP-Tribüne.
Bis der Ball kurz vor Schluss auf die rechte Seite gespielt wird, wo Dennis Diekmeier eine letzte Flanke schlägt. In der Mitte rauscht Westermann heran. Urgewaltig. Diagonal in der Luft stehend, den Ball direkt abnehmend und ins lange Eck versenkend. Siegtor. Nach dem Treffer jubelt Westermann ohne große Geste, während um ihn herum die jungen Teamkollegen wie Hakan Calhanoglu durchdrehen. Aus ihren Gesichtern spricht Erleichterung. Das Video wird 10 000 Mal im Internet angesehen. Für jemanden wie Heiko Westermann, der von sich selbst sagt: „Ich hasse es abgrundtief zu verlieren“, müssen diese Jahre im Abstiegskampf beim HSV eine harte Zeit gewesen sein. Mit dem Tor lehnt er sich dagegen auf.
Am nächsten Tag ist er nicht mehr Heiko Westermann, sondern HW4. Es ist die Idee der Hamburger Pressebeauftragten. „Die Medienabteilung kam auf mich zu. Ein paar Fans hätten HW4-Shirts gebastelt. Ob ich das nicht unterstützen wolle“, erinnert sich Westermann an den Wendepunkt seiner medialen Interpretation. „Ich habe gesagt, macht was ihr wollt, aber lasst mich in Ruhe damit. Wir spielen hier gegen den Abstieg.“ HW4 – semiologisch ist das nicht zu erklären. Es könnte auch das Nummernschild eines stolzen 16-jährigen Mopedbesitzers aus Alzenau sein.
Gespräch mit Westermanns erstem Trainer im Profifußball: Eugen Hach. Er hat den damals 17-Jährigen in Fürth entdeckt, ihn herangeführt und aus ihm das gemacht, was er heute ist: ein Verteidiger. „Heiko brachte alles mit, was du dir als Trainer nur wünschen kannst. Ein hochveranlagter Rohling. Der wollte alles wissen, sich besser machen, der war zu allem bereit.“ Also sagte Hach ihm, dem Offensivspieler: Heiko, du bist jetzt Rechtsverteidiger. Ein schwerer Schlag? „Nein“, sagt Westermann, „ich wollte einfach nur dabei sein.“ Hach brauchte ihn auf der rechten Seite für das Pressing-System, das damals noch kaum einer kannte. Und Westermann ist niemand, der sich beschwert. Auch nicht, wenn man aus ihm HW4 machen will.
Unzählige Male klatschte der Ball zu jener Zeit in Fürth an eine Betonmauer. Der junge Westermann schob Sonderschichten nach dem Training. „Der hat sich den Ball genommen und immer wieder gegen die Wand geschossen. Immer wieder“, lacht Hach noch heute über seinen ehemaligen Schützling, der Angst hatte, er wäre nicht gut genug für die zweite Bundesliga. Zumal in der ungewohnten Rolle als Abwehrspieler. Also begann Westermann, sich diese Position auf den Leib zu schneidern. „Der hat sich seiner Schwächen angenommen. Alles wie ein Schwamm aufgesogen, es sich verdient zu spielen.“ Er trug Bälle, er trug Tore, er wartete beim Masseur, bis die älteren Profis von der Pritsche sprangen, damit er an die Reihe kam. Ein Musterprofi eben. Einem, dem nichts in die Wiege gelegt wurde.
Wieder spielt Leverkusen gegen den Hamburger SV. Es ist das Hinspiel der Saison 2013/14. Heung-Min Son entwischt Heiko Westermann, läuft links am herauseilenden René Adler vorbei und trifft das Tor aus spitzem Winkel. Es ist das erste von fünf Leverkusener Toren an diesem Tag. Westermann hat sich in den Schuss geworfen, ist am Ball vorbeigesprungen und wenige Hundertstel-sekunden später wird sein Kopf gegen den Pfosten brettern. „Heiko Westermann and the post – FAIL“ wird danach zu einem beliebten Internetvideo. Allein in dieser Fassung 50 000 Mal geklickt. Warum immer er? Nur weil er jetzt HW4 ist, was an CR7 erinnert, dem er nun wirklich nicht ähnelt? Nein, da sind auch die offensichtlichen Fehler in seinem Spiel und ein Siegeswille, den manch einer außerhalb des Platzes als Selbstüberschätzung deuten würde. Und er spielt beim abstiegsbedrohten Hamburger SV, einem Arbeitgeber, der kein mit Häme überzogener Absteiger sein will. Kurzum: Der Verein und die Menschen um ihn herum brauchen einen Sündenbock. Und ist der Ruf erst ruiniert …
Dann ist er das sogar in Amsterdam. In seiner Zeit bei Ajax tauchte schon nach wenigen Wochen ein Video auf, das die schlechtesten Szenen des Neuzugangs zusammenfasst. „Ich kenne dieses Video“, sagt er. Angesehen habe er es sich aber nicht. Über jeden Spieler ließe sich das zusammenschneiden, glaubt Westermann. Nur: Das wird es nicht.
Marc Overmars, der Sportdirektor von Ajax, hatte ihn vorgewarnt. Es wäre schwer vorstellbar, dass er spiele. Westermann entgegnete selbstbewusst, dass er es schon schaffen würde. Bisher habe er schließlich bei jedem Trainer gespielt. Gegen seinen Ruf. Doch in Amsterdam war es anders. Erst das Highlight-Video seiner schlechtesten Szenen und dann noch ein Konkurrent wie Matthijs de Ligt, das 17-jährige Supertalent. Er sollte am Ende der Saison zum jüngsten Teilnehmer in einem Europapokalfinale werden.
„Ich habe schnell erkannt, dass bei Ajax im Zweifel immer der Jüngere spielt“, sagt Westermann. So nahm er sich de Ligts an. „Er ist so, wie ich in Fürth war, will nicht aufhören zu trainieren. Ich musste ihn oft bremsen“, sagt Westermann. Er spielte sogar den Chauffeur, nahm den noch führerscheinlosen de Ligt als Beifahrer mit. Am Ende von Westermanns Zeit in Amsterdam fand dessen Großmutter öffentlich nette Worte für ihn: „Als Matthijs’ Oma will ich mich herzlich dafür bedanken, dass du meinen kleinen Matthijs super begleitet hast. Er hat viel von dir gelernt. Super, dass du ihn nach Hause gebracht hast, wenn es wieder spät wurde. Viel Erfolg in Wien.“
Hier in Wien sitzt Westermann und denkt über HW4 nach. Vor dem Stadtderby gegen Rapid war sein Coach Thorsten Fink nach ihm befragt worden. Der Trainer antwortete deutlich: Westermann, der Vize-Europameister von 2008, sei bisher der beste Mann auf dem Platz gewesen. In den Medien steht der neue Abwehrchef trotzdem in der Kritik. Alles wie immer also. Westermann spielt, Westermann wird kritisiert. „Die Leute erwarten Wunder von mir.“ Vor der Saison hat sein ehemaliger Teamkollege Paul Scharner über ihn hergezogen. 30 von 60 Gegentoren aus der gemeinsamen Zeit gingen auf die Kappe von HW4, soll er gesagt haben. „Habe ich gehört“, sagt Westermann, „aber ich habe auch gehört, dass es seine eigene Buchvorstellung war. Und er nur über mich geredet hat.“
Besonders beliebt sind Witze über HW4 auf der Facebook-Seite „Fusifüchse – News und Satire aus der Fußballwelt“. Dort wird Westermann nicht nur als designierter Sieger der kommenden Weltfußballerwahl und des Bambis, sondern auch als Lover der Bachelorette und Friedensbringer der G20-Demonstrationen gefeiert. Eine Anfrage an die Fusifüchse, die klären soll, warum Witze über Heiko Westermann noch witzig sind, wird per automatischer Mail beantwortet: „Wir sind gerade in einem Interview mit #HW4. Danach gehen wir mit Lord Bendtner in die Disco. Antwortzeit ist also fraglich. Alles Gute bis dahin!“
Westermann zuckt mit den Schultern: „Wenn sich Personen daran aufgeilen können, sollen sie es halt machen. Mich interessiert das nicht.“ Doch aus dem Schulterzucken wird eine Bewegung, als würde er eine Fliege fortjagen wollen, ohne zu wissen, wo sie sitzt und wann sie weiterfliegt. Als würde es ihn eben doch piesacken, dass sich die Leute ausgerechnet an ihm aufgeilen. Warum immer Westermann?
Er rührt lange in seinem Kaffee, bevor er diese Frage beantwortet. Oft habe er darüber nachgedacht. „Vielleicht mache ich immer einen Schritt mehr, als ich müsste.“ Ja, vielleicht ist es das. Auf dem Trainingsplatz in Steinbrunn lässt es Westermann gemächlich angehen. Der 34-Jährige weiß, dass er mit seinen Kräften haushalten muss. Er beugt – wie es für Menschen mit seiner Körpergröße üblich ist – die Hüfte leicht vor, wenn er über den Platz läuft. Wird ihm ein Ball zugespielt, dann zieht Westermann nicht durch. Nein, er macht einen kleinen, nahezu unauffälligen Hüpfschritt, kurz bevor er den Ball trifft. Ein Bewegung, als hätte er den Zeitpunkt falsch berechnet, als müsse er sich neu positionieren. Westermann geht diesen ungelenken Extraschritt jedes einzelne Mal. In den schlimmsten Momenten wirkt es, als würde er die Bremse nicht finden. Dann läuft alles von selbst weiter.
„Irgendwann wurde HW4 so groß, dass mich jeder drauf angesprochen hat“, sagt Westermann und rührt weiter. „Ich wurde es nicht mehr los.“ Und Westermann ist niemand, der sich beschwert. Nach einem 0:0 des HSV gegen Borussia Dortmund, einem – da waren sich ausnahmsweise alle einig – überragenden Spiel von ihm, hatte es der Kapitän ein letztes Mal versucht. Er war vor die Presse getreten und polterte: „Die Kritiker und Idioten, die meinen, den Fußball erfunden zu haben, können mich mal am Arsch lecken. Ich war immer hier und habe meinen Arsch hingehalten. Ich lasse mir nicht meinen Namen kaputtmachen.“ Nur: Sein Name war da längst zerstört. Durch die Medien. Durch Fans. Durch das Internet. Und der Verein bot ihm, dem Sündenbock, keinen neuen Vertrag an. Sie schickten ihn in die Einöde, wie Westermann das Ausland nennt. Betis Sevilla, gute Zeit. Ajax Amsterdam, durchwachsen. Seine Trikotnummer wechselte er sofort und ganz bewusst. Westermann beschwert sich nicht über HW4. „Ich nehme es mit einem Lächeln, klar“, sagt er wie ein Kranker, der mit seiner Diagnose leben muss. Dann räumt er die leeren Kaffeetassen in die Spüle. Und überlegt. Und sagt dann: „Ich bin Heiko Westermann.“