In den siebziger Jahren war die Fankurve von Rot-Weiss Essen an der Hafenstraße gefürchtet – wegen ihrer Sangeskraft und wegen ihrer Schlagfertigkeit. Hier kommt ihre Geschichte.
Die Bundesligapartie zwischen Rot-Weiss Essen und Bayern München im Februar 1971 hitzig zu nennen, wäre eine Untertreibung. Jeder Angriff der Essener wurde frenetisch bejubelt, das Aufbauspiel der Münchner mit gellenden Pfiffen bedacht. Vor allem in der Westkurve brüllten sich die jungen Anhänger die Seele aus dem Leib. Und plötzlich, da gerade wieder eine Attacke der Münchner rollte, steckte plötzlich ein Messer im Rasen. Erregt lief Bayerns Keeper Sepp Maier im schwarzen Torwartdress zu Schiedsrichter Redelfs und präsentierte ihm die Klinge. Rasch wurde der Werfer aus dem Block in der Westkurve des Essener Georg-Melches-Stadions gezogen. Ein 17-jähriger betrunkener Gymnasiast, der beteuerte, ein anderer habe es geworfen und der bat, bloß seinem Vater nichts zu sagen, der werde ihn ansonsten sicher totschlagen.
Die Gäste aus München stellten später trotzdem einen Strafantrag, wegen groben Unfugs. Der Messerwurf sorgte bundesweit für Schlagzeilen und verschaffte der Essener Westkurve unverhofft eine Menge Prestige. Immer, wenn fortan über die Verrohung der Fans in den Stadien gesprochen wurde, sprachen Journalisten und Politiker von der lebensgefährlichen Attacke auf Sepp Maier.
„Ach, das war doch ein Messer, damit konntest du dir nicht mal in den Finger schneiden“, winkt Lothar Dohr heute ab. Der Fanbeauftragte muss es wissen, er war jahrzehntelang als „Schreck vom Niederrhein“ eine der prägenden Figuren der Essener Fanszene. Denn immer dann, wenn unten auf dem Rasen nichts mehr ging, wurde Dohr auf die Stange gebeten. Mit kehliger Stimme brüllte er ein paar Fragen an den RWE-Anhang. Wer ist der Schreck vom Niederrhein? Wer sammelt alle Punkte ein? Wer spielt den Gegner an die Wand? Und auf alle Fragen hatte die Kurve eine donnernde Antwort: Nur der RWE!
Zum ersten Mal auf der Stange stand Dohr beim Auswärtsspiel in München. Weil Borschi, der sonst im Block die Ansagen machte, nicht mitgefahren war, kletterte Lothar kurzentschlossen hoch, brüllte seine Verse und avancierte rasch zum bekanntesten Essener Anhänger. Was allerdings auch daran lag, dass Lothar kein Kind von Traurigkeit war. Wer in den Siebzigern in der Westkurve mitreden wollte, musste für den Klub nicht nur mit Gesängen einstehen. „Wenn wir nach Schalke gehen, kriegen wir die Hucke voll“, berichteten RWE-Fans in einer zeitgenössischen Dokumentation. „Wir kamen in Bochum an, was haben wir gekriegt? Dicke Augen!“
Doch auch die Anhänger, die aus Köln, Hamburg und vor allem aus Gelsenkirchen an die Hafenstraße reisten, versteckten ihre Schals oft lieber unter der Jacke, um sie nicht im Stadion gegen ein blaues Auge eintauschen zu müssen. Denn Fußball in Essen, das war stets ein raues Vergnügen. Vereinspräsident Georg Melches hatte in den sechziger Jahren noch versucht, seinen Spielern Manieren beizubringen, und ihnen in seiner Villa gezeigt, wie man mit Messer und Gabel isst. Auf den Rängen war eine solche Benimmschule vergebene Liebesmüh. Schon von der Gegengerade mussten sich die auswärtigen Spieler eine Menge anhören, die Westkurve war jedoch eine der stimmungsvollsten und furchteinflößendsten Fantribünen der Republik, die die Spieler des Gegners routiniert einschüchterte, gerade wenn sie zum Eckball in die Kurve mussten. Wie sonst nur in Kaiserslautern schlug den Kickern pure Feindseligkeit entgegen, manch einem wackelten da mächtig die Knie.
Das lag auch daran, dass sich in der Kurve, unüberdacht und nur leicht geschwungen, all jene sammelten, die in Essen richtig was erleben wollten. In den Fünfzigern hatten Originale wie Sirenen-Willi Aufsehen erregt, der mit weißem Frack und schwarzem Zylinder ins Stadion kam und dort eine mitgebrachte Feuerwehrsirene aufheulen ließ. Oder Moses Lenz, der in allen Stadien des Ruhrgebietes auftauchte und eine Jacke trug, auf deren Rücken jeweils eine Karikatur des Starspielers der Mannschaft prangte. „Vor jedem Spiel kam Moses zu mir und präsentierte seinen Rücken. Er hielt ein wenig die Hand auf, und ich war einen Zwanziger los“, erinnerte sich Ente Lippens.
In den Siebzigern übernahmen neue Fans die Regie. Und wie die alle hießen: Taxi-Manni, Mücke und eben Lothar, der Schreck vom Niederrhein. Dazu tausende junge Anhänger, die mit großen und kleinen Fahnen, Schals und Kutten ins Stadion kamen. Da konnte der Stadionsprecher noch so häufig mahnen, das „inakzeptable Verhalten“ einzustellen, da konnten sich die empörten Besucher auf der Haupttribüne auch über die langhaarigen Rowdies mokieren, die Westkurve gab alles, bejubelte jede Grätsche und jeden gewonnenen Zweikampf, lachte sich aber auch scheckig, wenn Lippens mal wieder mit wackelndem Hintern zwei Gegenspieler aufs Kreuz gelegt hatte.
Denn die Sprechchöre und die Anfeindungen waren stets nur die Kehrseite des Enthusiasmus, mit der die Essener ins Stadion gingen. Während sich beim Nachbarn Schwarz-Weiß auch der eine oder andere Kleinbürger auf die Tribüne verirrte, drängelten sich beim RWE die Arbeiter aus den Stahlwerken und Kohlegruben. Am Wochenende an die Hafenstraße in die Kurve, das war für all die jungen Lehrlinge und Arbeiter die große Freiheit. Und die Jungs hatten nichts gegen schönen Fußball, kamen aber auch, wenn es sportlich nicht mehr lief. Das rettete den Klub oft, denn in den Siebzigern war Essen längst ein Fahrstuhlverein mit ständig leeren Kassen, der zwischen den Ligen pendelte. Vor Gründung der Bundesliga hingegen hatte der RWE noch zur nationalen Spitze gehört, Meister 1955 und zwei Jahre zuvor Pokalsieger, in Essen kickten Boss Helmut Rahn und August Gottschalk, Penny Islacker und Keeper Fritz Herkenrath. Doch dann war man irgendwann „für die Regionalliga zu gut, aber für die Bundesliga etwas zu schwach“ und kehrte nach dem Abstieg 1977 nie wieder in die erste Liga zurück. Was die Anhänger nicht vom Stadionbesuch abhielt.
Roland Sauskat etwa, heute Leiter des Essener Fanprojekts. Sauskat wurde 1955 geboren („Eine Woche nach der Deutschen Meisterschaft!“), und in seiner Stimme klingt echtes Bedauern durch. Elfjährig betrat er an der Hand seines Vaters zum ersten Mal das Stadion und war überwältigt vom rot-weißen Fahnenmeer, das sich über die gesamte Kurve zog, und von den Chorälen, die durchs Stadion donnerten. Da war es um den jungen Roland geschehen, fortan ging er regelmäßig an die Hafenstraße, erst zu den Heim- und dann auch zu den Auswärtsspielen. Und als die Familie einen neuen Wagen kaufte, wurde ein Ford Taunus 17M angeschafft, natürlich in Vereinsfarben, weiß mit rotem Dach. „Als ich aber RWE-Aufkleber aufs Heck geklebt habe, gab es richtig Ärger“, erinnert er sich. Immerhin durfte Sauskat dann irgendwann auch allein ins Stadion und in die Kurve, was in den Siebzigern kein ungefährliches Vergnügen war. Vor allem, wenn es gegen Schalke ging, den Erzrivalen von nebenan, dessen Stadion nur zehn Kilometer Luftlinie entfernt lag.
Schlägereien waren schon zuvor an der Tagesordnung gewesen, nun aber machten die Essener den Nachbarn auch noch für den Abstieg aus der Bundesliga in der Saison 1970/71 verantwortlich. Hatten die Schalker nicht aktiv im Bundesligaskandal mitgemischt und absichtlich gegen Arminia Bielefeld verloren? Angesichts solchen Unrechts brannten manch einem Essener Anhänger schon vor dem Spiel die Sicherungen durch. 1974 etwa, als Schalke-Präsident Günter Siebert beim Duell in Essen leichenblass in Block E saß, umringt von streng blickenden Kripobeamten. Denn beim Landgericht in Essen, wo die Schalker Meineide im Bundesligaskandal verhandelt wurden, waren Morddrohungen von Essener Anhängern eingegangen. „Meiner Frau hab ich gar nichts von den Morddrohungen erzählt, die hätte mich gar nicht gehen lassen!“
Befreundet waren die Essener hingegen traditionell mit den Anhängern aus Bremen und auch mit denen vom Nachbarn Borussia Dortmund. Wobei die Freundschaft zu den BVB-Fans Mitte der Siebziger für kurze Zeit ruhte, weil sich ein paar Anhänger beider Klubs in der Westkurve in die Haare bekommen hatten. „Eigentlich eine Lappalie“, sagt Lothar Dohr heute. „Aber das braucht eben immer seine Zeit, bis sich das wieder eingerenkt hat!“
Mitte der siebziger Jahre hielt langsam die organisierte Fankultur Einzug in der Westkurve. Auf einer Busfahrt gründeten Lothar Dohr und ein paar Freunde den „1. Rot-Weiss Fanclub Essen“, noch heute zahlenmäßig der größte im Stadion. Es folgten zahlreiche andere Fanklubs, die gemeinsam die ständige Berg- und Talfahrt durchlitten. Mitte der Achtziger organisierten sich dann auch die Raufbrüder und wurden Hooligans. Nun lauerten die jungen Schläger der „Essener Löwen“ in Chevignonjacken und New-Balance-Schuhen den Gegnern auf. Als deutsche Hooligans während der WM 1990 in der Mailänder Innenstadt randalierten, war es dann auch ein Essener, der in der „Bild am Sonntag“ vom Krankenhausbett aus mit eingeworfenen Schaufensterscheiben prahlte.
Viele der Löwen sieht man heute noch am Spieltag. Sie flanieren am großen Autoflohmarkt vorbei, an der Tankstelle und am Hafenstübchen, wo das Bier aus dem Fenster hinausgereicht wird. Aktiv im raufenden Gewerbe sind nur noch die wenigsten, das erledigen inzwischen andere, aber sie werden immer dann wieder fickrig und bekommen glänzende Augen, wenn es rund um die Hafenstraße mal wieder ein bisschen nach Erfolg riecht. Dafür reicht dann sogar ein Niederrhein-Pokalfinale gegen Duisburg oder Oberhausen, wenn endlich mal wieder der Gästeblock richtig voll ist. Dann kommen die Erinnerungen wieder hoch, an die glorreichen Spiele von einst. An das dramatische Aufstiegsspiel 1968/69 an der Bremer Brücke in Osnabrück. An den rauschhaften 6:3‑Sieg in der Saison 1973/74 gegen Frankfurt vor 20 000 Zuschauern im Georg-Melches-Stadion, als die Westkurve gar nicht wusste, wohin mit der ganzen Begeisterung.
Aber natürlich gab es immer mal wieder große Pläne beim RWE, endlich aus der verdammten vierten Liga rauszukommen, in der man seit 2011 feststeckt, und endlich durchzumarschieren, zumindest in die zweite Bundesliga. „Darauf, dass alles besser wird, hoffen wir seit vielen Jahren“, sagt Uwe Strootmann, Autor des RWE-Blogs „Im Schatten der Tribüne“. Er fährt zu jedem Heimspiel 140 Kilometer aus Nordhorn nach Essen und wieder zurück, obwohl ihn schon auf der Hinfahrt der trübe Gedanke plagt, dass wieder alles umsonst ist. Aber nicht hinzufahren, ist auch keine Option. Und so klammern sich alle an die Hoffnung, dass nächstes Jahr endlich ein Coach verpflichtet wird, der der Truppe Beine macht. Der gegenwärtige Trainer, Argirios Giannikis, verabschiedet sich nach dieser Saison zum Drittligisten VfR Aalen. „So weit ist es schon“, sagt Strootmann.
Immerhin ein neues Stadion gibt es inzwischen. War ja nicht auszuhalten gewesen, mit den drei Seiten. 1994 war nämlich die alte Westkurve wegen Baufälligkeit abgerissen worden, im Vertrauen darauf, dass schon bald ein neues Stadion gebaut werden würde. Doch die üblichen Querelen in der Lokalpolitik, das oft halbseidene Management und die ständig leeren Kassen verzögerten den Bau um lange achtzehn Jahre. Zwischenzeitlich waren die Fans auf die Gegengerade umgezogen, die immerhin überdacht war und deren Dach die Gesänge lauter machte.
Im neuen Stadion heißt die Fankurve wieder Westkurve, obwohl sie im Osten liegt. Und auch ansonsten ist wenig übriggeblieben vom alten Charme. Die offenen Seiten machen das Stadion kalt und zugig, bei Regen sind die zehn Reihen links und rechts an den Rändern unbenutzbar, die vorderen Reihen auch, im Gästeblock wurden die Behindertenplätze gleich ganz vergessen. Anfangs hat Lothar Dohr immer die Stadionführungen gemacht und dann darum gebeten, abgelöst zu werden, weil er sich die ganze Zeit nur aufgeregt hat.
Aber bei allem Frust ist Lothar Dohr immer noch da. Und Roland Sauskat. Und Uwe Strootmann. Und all die anderen, die schon so lange ausharren und auf bessere Zeiten hoffen. Sie alle erinnern ein wenig an Lottospieler, die seit Jahrzehnten die gleichen Zahlen spielen, und nicht aufhören können, aus purer Angst, dann könnten sie gezogen werden.
Und so singen sie noch heute trotzig das Lied vom Opa Luscheskowski, der dem RWE immer und bis in den Tod hinein treu blieb. „Opa Luscheskowski, wo bist du nur geblieben? Du kennst den Rot-Weiss Essen schon seit 1907“ heißt es in dem Lied, das sie so ähnlich auch auf Schalke singen. „Du warst bei jedem Spiel, nur einmal warst du krank, Opa Luscheskowski, wir schulden dir noch Dank.“ So geht das über vier Strophen, und streng genommen erzählt das Lied von denen, die alles mitgemacht haben, den Absturz von der Bundesliga bis in die Niederungen der Regionalliga, und trotzdem nicht anders können, als jedes Wochenende wieder zur Hafenstraße zu pilgern, über den großen Parkplatz, unter dem die einstige Westkurve begraben ist, hinein ins neue Stadion, in dem es zieht wie Hechtsuppe und das natürlich ausgebaut werden könnte, wenn es mit dem Klub mal wieder aufwärts geht.
Bis dahin gilt das Prinzip Hoffnung und jenes Motto, das in den Neunzigern auf Handzetteln verteilt wurde. „Der ganze Dreck wird vergessen, der Pott steht in Flammen, Rot-Weiss Essen, wir halten zusammen.“ Darauf läuft es hinaus.