Dieser Text erschien erst­mals in Aus­gabe #221. Hier im Shop erhält­lich.

So fuck off, Gold and Sully! Where’s our fucking money? It’s all lies, lies, lies.“ An einem kalten Tag im Februar 2020 stehen Fans von West Ham United vor dem Pub Vic­toria Tavern“ im Osten von London. Zur Melodie des Slade-Hits Cum On Feel the Noize“ wün­schen sie die Besitzer ihres Klubs – David Gold und David Sul­livan – zum Teufel. Doch dabei bleibt es heute nicht. Heute halten sie einen Pro­test­marsch ab. Wie viele es sind, das ist schwer zu sagen. Die Ver­an­stalter hofften auf 2000 Fans, doch es sind mehr. Die Polizei spricht von 2500, die sich gleich auf den drei Kilo­meter langen Weg zum Olym­pia­sta­dion machen werden, in dem ihre Mann­schaft inzwi­schen spielt. Doch auch diese Schät­zung ist eher kon­ser­vativ.

Keiner will in die Schüssel

Der geht nicht in die Schüssel, der auch nicht, und der erst recht nicht!“ Paul Col­borne, einer der Orga­ni­sa­toren des Mar­sches, steht im Pub und zeigt auf die Fans, die her­ein­kommen, um sich mit einem Pint für den Fußweg zu stärken. Mit Schüssel“ meint er das neue Sta­dion, das alle hier für see­lenlos halten. Viele Fans boy­kot­tieren es. Auch Col­borne geht nicht mehr zu den Spielen, aller­dings aus anderen Gründen. Nachdem er vor zwei Jahren bei einer Partie aus Pro­test gegen die Klub­füh­rung mit einer Eck­fahne in der Hand auf den Platz rannte, ist er lebens­lang gesperrt. Was nicht heißt, dass er tatenlos ist. Er und die anderen ver­ges­senen Fans der Ham­mers glauben an eine Revo­lu­tion von unten. Sie wollen sich ihren Klub zurück­holen, der im Sommer 2016 nach 112 Jahren den berühmten Upton Park ver­ließ und in die Schüssel umzog, die für die Olym­pi­schen Spiele in London errichtet wurde. Ein Umzug, der für die Gegend dra­ma­ti­sche Folgen hatte. Jetzt, kurz vor dem Marsch, herrscht in der Vic­toria Tavern natür­lich Hoch­be­trieb, doch der Umsatz des Pubs ist um 80 Pro­zent gesunken, seit West Ham nicht mehr nebenan spielt.

Nun kommen nur noch die Ein­hei­mi­schen her, wie zum Bei­spiel Joe Eng­land und seine Kum­pels Andy und Danny. Ein paar Tage vor dem Pro­test treffen sie sich auf ein Bier in der Vic­toria Tavern, um über die alten Zeiten zu reden. Joe Eng­land – ein Mann mit einem typisch Ost-Lon­doner Namen – ist 55 Jahre alt und erheb­lich viel­schich­tiger als man das viel­leicht von West-Ham-Fans erwarten würde, die als harte, raue Kerle gelten. Wenn man sich mit ihm unter­hält, spürt man eine Fein­füh­lig­keit und Ver­letz­lich­keit, die sicher auch daher rührt, dass man seinen Verein ent­wur­zelt hat. Ich hatte erwartet, dass ich Zorn oder Schmerz fühlen würde“, sagt er, wenn ich hier her­um­laufe, wo mal der Upton Park stand. Aber ich fühle mich nur betäubt.“ Wie viele hier, so ist auch Joe betrübt, kann aber nicht wirk­lich trauern, denn schließ­lich exis­tiert sein Verein ja noch. Auch wenn es sich anders anfühlt.

Der Klub inter­es­siert sich nicht für die Treuen

Joe besuchte sein erstes Spiel 1973. Aber weil der Freund, der ihn mit­nahm, sich im Datum vertan hatte, sahen sie zusammen mit nur ein paar Hun­dert anderen Zuschauern ein Spiel der Reser­verunde. Doch gerade weil kaum Fans da waren, ver­liebte sich Joe in den Upton Park. Er malte sich aus, wie dieser Ort wohl aus­sehen würde, wenn die Ränge voll wären. Eine Woche später sah er die erste Elf vor aus­ver­kauftem Haus, und es war um ihn geschehen. Zur letzten Saison im Upton Park, 2015/16, brachte Joe das Fan­zine 5 Mana­gers“ heraus, dessen Name darauf anspielte, dass West Ham zwi­schen 1895 und 1989 tat­säch­lich nur fünf Trainer hatte.

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Der einst stolze Arbei­ter­klub wird geführt wie ein Zirkus: Es geht nur noch um Geld und Enter­tain­ment.

Harry Mit­chell

Doch das letzte Spiel im alten Sta­dion – am 10. Mai 2016 gegen Man­chester United – musste Joe sich am Fern­sehen ansehen. Für diese Partie wurden die Ein­tritts­karten ver­lost, und Joe hatte ein­fach kein Glück. Es war nur eine von vielen Maß­nahmen, die den Ein­druck erweckten, dass der Klub sich nicht wirk­lich für die Treu­esten seiner Treuen inter­es­siert. Joe ver­folgte das Spiel im East Ham Working Men’s Club“, einer Art Frei­zeit­zen­trum für Arbeiter. Als die Partie abge­pfiffen wurde, wusste er, dass nichts mehr so sein würde wie vorher. Sowohl der Working Men’s Club als auch das Sta­dion wurden bald abge­rissen, um Platz für teure Woh­nungen zu machen. Ein Apart­ment im Neu­bau­ge­biet Upton Gar­dens kostet 493 000 Pfund. Der Min­dest­lohn in dieser Gegend beträgt 9,30 Pfund pro Stunde.