Das Saisonfinale steht vor der Tür und damit auch die Zeit des Jahres, in der aus namenslosen Spielern plötzlich Vereinslegenden werden. Legenden wie Jan-Age Fjörtoft, Marcelo Diaz oder Dante. Unsere Autoren erinnern sich an große Nachmittage.
1860 München – LR Ahlen, Saison 2004/05 (34. Spieltag)
Es ist der 22. Mai 2005, letzter Spieltag in der 2. Bundesliga. LR Ahlen befindet sich auf Rang 15 und damit auf einem Abstiegsplatz. Nun ging es ins Grünwalder Stadion, in die Höhle der Sechziger Löwen. Um aus eigener Kraft den Klassenerhalt zu schaffen, mussten hier drei Punkte her. Eine nahezu unmöglich scheinende Aufgabe aus vielerlei Gründen.
1860 München war als Tabellenvierter in der Rückrunde noch ungeschlagen und machte sich noch Hoffnungen auf die Rückkehr in die Bundesliga. Zudem spielten sie vor ihrem Umzug in die Allianz Arena ein letztes Mal im Grünwalder Stadion. Was für Ahlen sprach? Ehrlich gesagt gar nichts. Mit Bernd Meier und Gledson fielen für dieses Endspiel die etatmäßige Nummer eins und eine zentrale Stütze im Abwehrverbund aus. Nie zuvor war für Ahlen-Fans die Ausgangslage so dramatisch.
Als 12-jähriges Kind war für mich die Reise ins über 600 Kilometer entfernte München deutlich zu weit. Meinen Vater hatte ich zudem noch nicht von einem Abo für den Bezahlsender Premiere überzeugen können. Es blieb mir während der 90 Minuten also nur eins: der ARD-Videotext. Statt 22 Spieler auf dem Spielfeld zu beobachten, starrte ich auf zwei Zahlen. In lila Schrift auf schwarzem Hintergrund standen sie da. Was hinter den beiden Zahlen für ein Spielverlauf stecken könnte, war meiner Fantasie überlassen. Nähere Informationen zum Geschehen vor Ort? Fehlanzeige. Mir blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass die zweite Zahl hinter der Spielpaarung immer um mindestens eins größer war als die erste. Alles andere würde für Ahlen den Abstieg bedeuten.
Da ich es nicht über die gesamte Spielzeit durchhielt, auf die Texttafel zu starren, ging ich während des Spiels mit meinem Vater und dem Hund eine Runde spazieren. Zur Entspannung trug dieser Spaziergang definitiv nicht bei. Was nicht am wunderschön anzusehenden Wasserschloss lag, um das wir spazierten, sondern vielmehr an den lila Zahlen, die mir weiterhin durch den Kopf schwirrten.
Als wir wieder zuhause ankamen, lief ich auf direktem Weg zum Fernseher. Die Zahlenkombination 276 tippte sich wie von alleine in die Fernbedienung. Und als sich dann die Texttafel mit der Ergebnisübersicht öffnete, war meine Angst mit einem Mal verschwunden. Stattdessen schossen mir Freudentränen in die Augen. Hinter der Paarung 1860 München gegen LR Ahlen stand tatsächlich in weißer Schrift das Ergebnis 3:4. Das Spiel in München war abgepfiffen und Ahlen hatte sich mit dem Sieg vor Energie Cottbus und Eintracht Trier (die wegen des um ein Tor schlechteren Torverhältnisses abstiegen) auf Platz 13 geschoben. Ich hatte eines der größten Spiele der Vereinsgeschichte verpasst, Ahlen blieb ein weiteres Jahr in der 2. Bundesliga. Geglaubt hatte ich daran ehrlich gesagt nicht. Aber wie sagte Siegtorschütze Christian Mikolajczak nach dem Spiel: „Am Ende kackt die Ente!“ Ein Zitat, das für mich zum Motto wurde. Anders lässt sich der triste Alltag in der Oberliga Westfalen heute auch nicht aushalten.
Michael Bieckmann
1860 München – Hertha, Saison 2003/04 (33. Spieltag)
Die Saison hatte scheiße angefangen, und es wäre nur logisch gewesen, hätte sie auch beschissen aufgehört. Aber der Reihe nach: Gleich am ersten Spieltag hatte sich Marcelinho, der wahrscheinlich beste Fußballer aller Zeiten, im Heimspiel gegen Werder Bremen den Fuß gebrochen. Und die Hertha-Mannschaft, die angetreten war, um nach vier Jahren Uefa-Cup endlich in Richtung Meisterschaft zu fliegen, war ohne ihren Star zu einer verängstigten Ansammlung formschwacher Einzelspieler verkommen. Mit anderen Worten: Artur Wichniarek.
Schon als Marcelinho auf einer Trage abtransportiert wurde, sah man in seinem Gesicht nicht nur Schmerzen, sondern auch Furcht. Er wusste wohl: Ohne mich, da könnte es eng werden. Und es wurde eng ohne ihn.
Hertha taumelte durch die Saison, verlor Spiele und Selbstvertrauen, Huub Stevens wurde entlassen, Hans Meyer als Retter installiert. Unter ihm stabilisierte sich das Team, Marcelinho, wieder fit, schoss Tore und legte welche auf. Und trotzdem kam es zu einem echten Endpsiel. In München, gegen 1860, das zwei Spieltage vor Schluss mit vier Punkten Rückstand auf Hertha selber ums Überleben kämpfte.
Doch dann kam Francis
Schon nach fünf Minuten ging 1860 in Führung. Ein Mann namens Rodrigo Costa traf nach einer Görlitz-Flanke. Zehn Minuten vor Schluss glich Alexander Madlung aus, Hertha war gerettet. Ich selbst, 14 Jahre alt, erlebte nach sorgenfreien Fan-Jahren meinen ersten Abstiegskampf – allerdings zeitverzögert. In der Zusammenfassung, ab 18:00 Uhr. Und sprang also, eine Stunde, nachdem alles passiert war, von der Couch auf den Wohnzimmerboden, versprach Alex Madlung ewige Liebe und Dankbarkeit, jubelte mit geballten Fäusten, als hätte ich selber getroffen. Bis der Kommentator den Satz sagte, den man in Momenten dieser Art nicht hören will. „Aber, liebe Zuschauer, es ist noch nicht vorbei!“ Was nur bedeuten konnte, dass es noch nicht vorbei war.
Ich legte mich verängstigt auf den Boden, sah, wie Arne Friedrich irgendeinen Sechziger maximal unvorsichtig wegtrat und wie der Schiedsrichter ohne zu zögern auf den Punkt zeigte, weil Friedrich dämlicherweise im Strafraum zugetreten hatte. 90. Minute, Elfmeter für 1860, Hertha war so gut wie abgestiegen. Dachte ich zumindest. Doch dann kam Francis.
Ich nenne ihn, Francis Kioyo, noch heute Francis, weil er sich selber so nannte, im Interview direkt nach dem Spiel. Ich finde das Interview nicht mehr, in meiner Erinnerung ging es aber in etwa so. „Ich dachte mir: Francis“, sagte Francis dem Field-Reporter, „Ich dachte mir, Francis: Du bist ein cooler Typ. Und du haust jetzt den Elfmeter rein. Tja, hat nicht geklappt.“
Oh, wie Recht er hatte! Denn statt den Ball voller Überzeugung ins Eck zu hämmern, hämmerte Francis den Ball voller Überzeugung am Tor vorbei. Weiter 1:1, 1860 verschwand aus der ersten Liga, Hertha war gerettet! Nie wieder liebte ich einen Spieler des Gegners so doll wie an diesem Vorabend, nie wieder hat sich ein Ran-Interview so sehr in mein Hirn eingebrannt. Ich sprang vom Boden auf, schwor Francis ewige Liebe und Dankbarkeit, jubelte, als hätte ich selber für den Gegner verschossen. Das Seuchenjahr, zu dem ein Kioyo-Elfmeter-Tor in der Nachsielzeit so gut gepasst hätte, es war überstanden. Oder wie Marcelinho einst in einem Interview mit uns erzählte: „Ich habe gebetet: Bitte, bitte, lass den Kerl verschießen. Und er jagte den Ball tatsächlich neben den Pfosten.“
Max Dinkelaker