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Seite 2: Doch dann kam Francis

1860 Mün­chen – LR Ahlen, Saison 2004/05 (34. Spieltag)
Es ist der 22. Mai 2005, letzter Spieltag in der 2. Bun­des­liga. LR Ahlen befindet sich auf Rang 15 und damit auf einem Abstiegs­platz. Nun ging es ins Grün­walder Sta­dion, in die Höhle der Sech­ziger Löwen. Um aus eigener Kraft den Klas­sen­er­halt zu schaffen, mussten hier drei Punkte her. Eine nahezu unmög­lich schei­nende Auf­gabe aus vie­lerlei Gründen.

1860 Mün­chen war als Tabel­len­vierter in der Rück­runde noch unge­schlagen und machte sich noch Hoff­nungen auf die Rück­kehr in die Bun­des­liga. Zudem spielten sie vor ihrem Umzug in die Allianz Arena ein letztes Mal im Grün­walder Sta­dion. Was für Ahlen sprach? Ehr­lich gesagt gar nichts. Mit Bernd Meier und Gledson fielen für dieses End­spiel die etat­mä­ßige Nummer eins und eine zen­trale Stütze im Abwehr­ver­bund aus. Nie zuvor war für Ahlen-Fans die Aus­gangs­lage so dra­ma­tisch.

Als 12-jäh­riges Kind war für mich die Reise ins über 600 Kilo­meter ent­fernte Mün­chen deut­lich zu weit. Meinen Vater hatte ich zudem noch nicht von einem Abo für den Bezahl­sender Pre­miere über­zeugen können. Es blieb mir wäh­rend der 90 Minuten also nur eins: der ARD-Video­text. Statt 22 Spieler auf dem Spiel­feld zu beob­achten, starrte ich auf zwei Zahlen. In lila Schrift auf schwarzem Hin­ter­grund standen sie da. Was hinter den beiden Zahlen für ein Spiel­ver­lauf ste­cken könnte, war meiner Fan­tasie über­lassen. Nähere Infor­ma­tionen zum Geschehen vor Ort? Fehl­an­zeige. Mir blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass die zweite Zahl hinter der Spiel­paa­rung immer um min­des­tens eins größer war als die erste. Alles andere würde für Ahlen den Abstieg bedeuten.

Da ich es nicht über die gesamte Spiel­zeit durch­hielt, auf die Text­tafel zu starren, ging ich wäh­rend des Spiels mit meinem Vater und dem Hund eine Runde spa­zieren. Zur Ent­span­nung trug dieser Spa­zier­gang defi­nitiv nicht bei. Was nicht am wun­der­schön anzu­se­henden Was­ser­schloss lag, um das wir spa­zierten, son­dern viel­mehr an den lila Zahlen, die mir wei­terhin durch den Kopf schwirrten.

Als wir wieder zuhause ankamen, lief ich auf direktem Weg zum Fern­seher. Die Zah­len­kom­bi­na­tion 276 tippte sich wie von alleine in die Fern­be­die­nung. Und als sich dann die Text­tafel mit der Ergeb­nis­über­sicht öff­nete, war meine Angst mit einem Mal ver­schwunden. Statt­dessen schossen mir Freu­den­tränen in die Augen. Hinter der Paa­rung 1860 Mün­chen gegen LR Ahlen stand tat­säch­lich in weißer Schrift das Ergebnis 3:4. Das Spiel in Mün­chen war abge­pfiffen und Ahlen hatte sich mit dem Sieg vor Energie Cottbus und Ein­tracht Trier (die wegen des um ein Tor schlech­teren Tor­ver­hält­nisses abstiegen) auf Platz 13 geschoben. Ich hatte eines der größten Spiele der Ver­eins­ge­schichte ver­passt, Ahlen blieb ein wei­teres Jahr in der 2. Bun­des­liga. Geglaubt hatte ich daran ehr­lich gesagt nicht. Aber wie sagte Sieg­tor­schütze Chris­tian Miko­la­jczak nach dem Spiel: Am Ende kackt die Ente!“ Ein Zitat, das für mich zum Motto wurde. Anders lässt sich der triste Alltag in der Ober­liga West­falen heute auch nicht aus­halten. 

Michael Bieck­mann

1860 Mün­chen – Hertha, Saison 2003/04 (33. Spieltag)
Die Saison hatte scheiße ange­fangen, und es wäre nur logisch gewesen, hätte sie auch beschissen auf­ge­hört. Aber der Reihe nach: Gleich am ersten Spieltag hatte sich Mar­cel­inho, der wahr­schein­lich beste Fuß­baller aller Zeiten, im Heim­spiel gegen Werder Bremen den Fuß gebro­chen. Und die Hertha-Mann­schaft, die ange­treten war, um nach vier Jahren Uefa-Cup end­lich in Rich­tung Meis­ter­schaft zu fliegen, war ohne ihren Star zu einer ver­ängs­tigten Ansamm­lung form­schwa­cher Ein­zel­spieler ver­kommen. Mit anderen Worten: Artur Wich­niarek.

Schon als Mar­cel­inho auf einer Trage abtrans­por­tiert wurde, sah man in seinem Gesicht nicht nur Schmerzen, son­dern auch Furcht. Er wusste wohl: Ohne mich, da könnte es eng werden. Und es wurde eng ohne ihn.

Hertha tau­melte durch die Saison, verlor Spiele und Selbst­ver­trauen, Huub Ste­vens wurde ent­lassen, Hans Meyer als Retter instal­liert. Unter ihm sta­bi­li­sierte sich das Team, Mar­cel­inho, wieder fit, schoss Tore und legte welche auf. Und trotzdem kam es zu einem echten Endpsiel. In Mün­chen, gegen 1860, das zwei Spiel­tage vor Schluss mit vier Punkten Rück­stand auf Hertha selber ums Über­leben kämpfte. 

Doch dann kam Francis 

Schon nach fünf Minuten ging 1860 in Füh­rung. Ein Mann namens Rodrigo Costa traf nach einer Gör­litz-Flanke. Zehn Minuten vor Schluss glich Alex­ander Mad­lung aus, Hertha war gerettet. Ich selbst, 14 Jahre alt, erlebte nach sor­gen­freien Fan-Jahren meinen ersten Abstiegs­kampf – aller­dings zeit­ver­zö­gert. In der Zusam­men­fas­sung, ab 18:00 Uhr. Und sprang also, eine Stunde, nachdem alles pas­siert war, von der Couch auf den Wohn­zim­mer­boden, ver­sprach Alex Mad­lung ewige Liebe und Dank­bar­keit, jubelte mit geballten Fäusten, als hätte ich selber getroffen. Bis der Kom­men­tator den Satz sagte, den man in Momenten dieser Art nicht hören will. Aber, liebe Zuschauer, es ist noch nicht vorbei!“ Was nur bedeuten konnte, dass es noch nicht vorbei war. 

Ich legte mich ver­ängs­tigt auf den Boden, sah, wie Arne Fried­rich irgend­einen Sech­ziger maximal unvor­sichtig weg­trat und wie der Schieds­richter ohne zu zögern auf den Punkt zeigte, weil Fried­rich däm­li­cher­weise im Straf­raum zuge­treten hatte. 90. Minute, Elf­meter für 1860, Hertha war so gut wie abge­stiegen. Dachte ich zumin­dest. Doch dann kam Francis.

Ich nenne ihn, Francis Kioyo, noch heute Francis, weil er sich selber so nannte, im Inter­view direkt nach dem Spiel. Ich finde das Inter­view nicht mehr, in meiner Erin­ne­rung ging es aber in etwa so. Ich dachte mir: Francis“, sagte Francis dem Field-Reporter, Ich dachte mir, Francis: Du bist ein cooler Typ. Und du haust jetzt den Elf­meter rein. Tja, hat nicht geklappt.“

Oh, wie Recht er hatte! Denn statt den Ball voller Über­zeu­gung ins Eck zu häm­mern, häm­merte Francis den Ball voller Über­zeu­gung am Tor vorbei. Weiter 1:1, 1860 ver­schwand aus der ersten Liga, Hertha war gerettet! Nie wieder liebte ich einen Spieler des Geg­ners so doll wie an diesem Vor­abend, nie wieder hat sich ein Ran-Inter­view so sehr in mein Hirn ein­ge­brannt. Ich sprang vom Boden auf, schwor Francis ewige Liebe und Dank­bar­keit, jubelte, als hätte ich selber für den Gegner ver­schossen. Das Seu­chen­jahr, zu dem ein Kioyo-Elf­meter-Tor in der Nach­siel­zeit so gut gepasst hätte, es war über­standen. Oder wie Mar­cel­inho einst in einem Inter­view mit uns erzählte: Ich habe gebetet: Bitte, bitte, lass den Kerl ver­schießen. Und er jagte den Ball tat­säch­lich neben den Pfosten.“

Max Din­ke­laker