Das Saisonfinale steht vor der Tür und damit auch die Zeit des Jahres, in der aus namenslosen Spielern plötzlich Vereinslegenden werden. Legenden wie Jan-Age Fjörtoft, Marcelo Diaz oder Dante. Unsere Autoren erinnern sich an große Nachmittage.
Karlsruher SC – HSV, 2014/15 (Relegation)
Aberglaube bedeutet vor allem eines: Stress. Ständig muss man sich selbst daran erinnern, welches T‑Shirt man beim letzten Heimsieg getragen hat, und ob man damals, als Jan Furtok den Ball ins lange Eck schlenzte, eine Zigarette im Mund hatte oder ein Bier in der Hand oder beides.
Aber an jenem 1. Juni 2015 ist mir das egal. Heute bin ich abergläubisch und stecke meine Jeans in meine HSV-Wollsocken. So fahre ich in die Redaktion. Dort hat ein Praktikant ein Interview mit Reinhold Yabo vom Karlsruher SC geführt. Ich redigiere es. Am Ende soll der Spieler den Satz „Heute Abend werde ich…“ vervollständigen. Yabo sagt: „… Erstligaspieler sein.“ Ich streiche die Passage als Fehler an, der Praktikant lässt sie natürlich drin. Grinst. Macht sogar die Überschrift daraus. Dann ist Mittagspause. 27 neue Nachrichten im Whatsapp-Chat, Hilferufe aus Hamburg. „Bock! Schreib was! Wer rettet uns?“ Ich antworte: „Sollen absteigen, interessiert mich nicht!“ Selbstschutz.
Am Abend, kurz vor sieben. Die Frau hat Gäste. Das Wohnzimmer ist besetzt. Nicht schlimm. Ich verziehe mich ins Arbeitszimmer. Ein Wasser auf dem Tisch, dazu eine Scheibe Schwarzbrot ohne Butter. Ich will es mir nicht gutgehen lassen. Ich will Schweigekloster-Atmosphäre.
„Sind wir schon wieder Weltmeister?“
Zwei Stunden später, 20:47 Uhr, schreibe ich „Das war’s!“ in die Whatsapp-Gruppe, und dann möchte ich den Rechner ausmachen. Aber ich kann mich nicht bewegen, denn plötzlich liegt der Ball zum Freistoß bereit. Eine Standardsituation. Wie viele habe ich seit 1990 gesehen? 10.000? 20.000? Manni Kaltz hat mal einen Freistoß versenkt, 1987 im DFB-Pokal-Finale gegen die Stuttgarter Kickers. Gewitzt schlenzte er den Ball flach an der Mauer vorbei ins kurze Eck. Aber sonst?
Trotzdem: Ich bleibe dran. Eine letzte Chance. Ein letzter Kuss. Bevor es für immer vorbei ist. Rafael van der Vaart steht dort. Neben ihm Marcelo Diaz. Wer ist dieser Typ überhaupt? Und wo ist Manni Kaltz? Wenig später zappelt der Ball im Netz. Ich renne zum Fenster, reiße es auf, schreie Marcelo Diaz’ Namen über den Hinterhof, und ein Nachbar fragt vom Fenster aus: „Sind wir schon wieder Weltmeister?“ Wenig später steht die Frau im Zimmer. „Tor?“ – „Ja!“ – „Wer hat’s gemacht?“ – „Marcelo Diaz, der beste Fußballer der Welt!“ Dann zünde ich mir eine an.
Andreas Bock
Cottbus – Gladbach, 2008/09 (32. Spieltag)
Sieben Spieltage der Saison 2008/09 waren absolviert und Borussia Mönchengladbach hatte schlappe drei Punkte und ein Torverhältnis von 6:15. Die Euphorie des Aufstiegs unter Jos Luhukay war ebenso Geschichte wie Jos Luhukay selbst. Interimstrainer Christian Ziege holte anschließend einen Punkt in Bochum und dann Hans Meyer zurück an die Seitenlinie. Das Glück darüber war groß, selten wurde ein Gladbacher Trainer von den Fans so verehrt wie er, vielleicht noch Hennes Weisweiler vor- und Lucien Favre hinterher.
Daran änderte sich auch in dieser Amtszeit wenig, allein sportlich lief es nach einem kurzen Zwischenhoch auch dann nicht wirklich gut. Bis zum 31. Spieltag stand die Mannschaft an 19 von 22 Spieltagen unter Hans Meyer auf einem Abstiegsplatz. Dann besiegte die Borussia daheim den FC Schalke 04, das Siegtor durch Roberto Colautti fiel in etwa in der 99. Minute und das Team rutschte über den Strich, wenn auch nur aufgrund des besseren Torverhältnisses gegenüber Arminia Bielefeld. Anschließend ging es nach Cottbus, die 17. waren und drei Punkte zurück. Die Anreise im Regionalexpress aus Berlin war abenteuerlich.
In Königs Wusterhausen stiegen Energie-Anhänger zu, die uns zielsicher als Gegner erkannten und sofort die Verbal-Keule auspackten, pointiert attackierten: „Was ist grün und stinkt nach Fisch? Die Fohlen!“ Meine Reisegruppe blieb sprachlos, auch auf dem von martialischen Polizei-Gefährten begleiteten Weg zum „Stadion der Freundschaft“, auch während der recht ereignisarmen 90 Spielminuten. Eine Ecke noch, dann Schluss, dann „immerhin nicht verloren“ denken, dann wieder Hoffen und Bangen, dass es irgendwie noch reichen würde an den verbleibenden zwei Spieltagen, an denen es noch gegen Leverkusen und Dortmund gehen würde. Dann kam Dante.
Augen zu und Dante
Dieser brasilianische Wuschelkopf, den man allein dafür lieben musste, dass er immer lächelte, selbst, wenn es nichts zu Lächeln gab, und der erst zur Rückrunde von Standard Lüttich nach Mönchengladbach gewechselt war und dem zu diesem Zeitpunkt nun wirklich nicht anzumerken war, dass er mal Champions-League-Sieger mit Bayern München und Nationalspieler Brasiliens werden würde. Dann kam Dante und schädelte diese Ecke ins (Sieg-)Tor. Ein Moment, der ewig dauerte, da er noch andauerte, vermutlich, weil die eigene Wahrnehmung wusste, wie groß und ewig gültig er sei. Manchmal schäme ich mich dafür, aber es ist nunmal die Wahrheit: Ich war noch nie glücklicher in meinem Leben.
Ebenso glücklich, das schon. Aber glücklicher? Nein. Auch brüllte ich so laut wie nie in meinem Leben. Keine Ahnung, was ich brüllte, vermutlich einfach nur „Ja“ und das reichte auch, denn mehr gab es nicht zu sagen. Vor allem aber flog ich nie wieder wie an diesem Abend in Cottbus. Durch den gesamten Gästeblock flog ich und kurz streifte ich, so zumindest erzählt es mir meine Erinnerung, den Himmel. Und ich landete wie auf Wolken. Wahrscheinlich waren es Kuttenträger oder doch der Beton, das würde meine aufgeplatzten Knie erklären, deren Wundheilung mich bald traurig stimmte, denn das getrocknete Blut war der ultimative Beweis dafür, dass alles echt, alles genauso passiert war. Gladbach verlor anschließend noch mit 0:5 in Leverkusen, hielt aber die Bundesliga, mit einem Punkt vor Cottbus, die in der Relegation gegen Nürnberg unterlagen. Aber das war schon gar nicht mehr so wichtig. Denn eines hatte ich in diesem Saisonfinale gelernt: Es geht immer nur um Momente. Und dass diese allein jede Mühe Wert sein können, jede Mühe Wert sind. Für jeden Augenblick sonst gilt: Augen zu und Dante.
Ilja Behnisch