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Es ist schwer zu glauben, aber Silvio Ber­lus­coni hat der Welt mehr geschenkt als zahl­reiche Skan­dale und Skan­däl­chen. Als Ber­lus­coni Ende der Acht­ziger als Prä­si­dent des AC Mai­land den bis dato unbe­kannten Arrigo Sacchi zum Chef­trainer beför­derte, hat er wesent­lich zur Ent­wick­lung der Fuß­ball­taktik bei­getragen. Sys­te­ma­ti­sches Ver­schieben zum Ball, ein kol­lek­tives Pres­sing, pfeil­schnelle Konter, all dies setzte Sacchi ab 1987 als erster Trainer mit seinen Mai­län­dern um – und bis heute ist sein Ein­fluss spürbar.

Ralf Rang­nick nennt Sacchi sein Vor­bild, Jürgen Klopp ebenso – und Carlo Ance­lotti, der jüngst mit Real Madrid das Cham­pions-League-Finale erreicht hat. Dass Ance­lottis Madri­lenen im Halb­fi­nale gegen die Bayern mit ihrem robo­ter­haften Ver­schieben und ihren pfeil­schnellen Kon­tern auf fast schon beängs­ti­gende Weise an den AC Milan von Sacchi erin­nerten, war indes kein Zufall: Ance­lotti rief Sacchi am Tag vor dem Bayern-Spiel an, um mit ihm die Taktik durch­zu­gehen.

Das Zeit­alter des Pres­sings

Im Jahr 2014 scheint es im inter­na­tio­nalen Spit­zen­fuß­ball unab­dingbar, stark im Kol­lektiv zu ver­tei­digen. In Deutsch­land, Frank­reich, Ita­lien und den Nie­der­landen wurde jeweils das Team mit den wenigsten Gegen­toren Meister, und auch in Spa­nien ist Atle­tico mit nur 25 Gegen­tref­fern auf dem Weg zum Titel. Im Cham­pions-League-Finale stehen sich mit Atle­tico und Real Madrid die zwei konter- und pres­sing­stärksten Teams der abge­lau­fenen Saison gegen­über.

Wenn man bei den vier sehr unter­schied­li­chen Cham­pions-League-Halb­fi­na­listen Chelsea, Bayern, Atle­tico und Real Madrid eine Gemein­sam­keit suchen möchte, dann ist dies mit Sicher­heit die kol­lek­tive Defen­sive. Kein Spieler darf sich auf inter­na­tio­nalem Top-Niveau mehr erlauben, gegen den Ball zu fau­lenzen. Spie­ler­typen wie Ronald­inho, noch vor einigen Jahren bester Spieler des Pla­neten, ver­kommen zum Ana­chro­nismus. Selbst ein Cris­tiano Ronaldo, vor zwei Jahren noch Defensiv-Ver­wei­gerer, ordnet sich dem Spiel der Mann­schaft unter und arbeitet gegen den Ball.

Nachdem in der ver­gan­genen Saison vor allem das Mün­chener und Dort­munder Gegen­pres­sing domi­nierte, liegt der Fokus in dieser Saison wieder stärker auf dem Ver­schieben im Mann­schafts­ver­bund. In den Cham­pions-League-Halb­fi­nals tri­um­phierten am Ende nicht der extreme Defen­siv­fokus von Jose Mour­inho oder die Ball­be­sitz­manie des Pep Guar­diolas, son­dern der aus­ge­wo­gene, pfeil­schnelle Fuß­ball von Atle­tico und Real Madrid.

Der Ball­be­sitz­fuß­ball stirbt? Kei­nes­wegs

Einige Kri­tiker des Ball­be­sitz­fuß­balls nahmen den Tri­umph Reals gegen die Bayern zum Anlass, mit dem Ball­be­sitz­spiel abzu­rechnen. Zu fixiert sei Guar­diola auf sein tiki taka“, zu selten ziehe sein Team das Tempo an. Aller­dings macht ein Spiel noch nicht den Unter­gang eines Sys­tems aus – schließ­lich waren die Bayern noch wenige Wochen zuvor unge­schlagen in der Liga.

Die Lehre des Spiels könnte viel eher eine andere sein: Real Madrid war per­fekt auf die Bayern ein­ge­stellt, vom Trip­peln gegen Franck Ribery bis hin zu den schnellen Konter über die Flügel. Ance­lotti scheute sich nicht einmal, sein eigent­li­ches 4 – 3‑3-System zugunsten eines sta­bi­leren 4−4−2 auf­zu­geben. Den Bayern hin­gegen fehlte über 180 Minuten hinweg die zün­dende Idee, wie sie die ange­passte Defen­sive der Madri­lenen bezwingen können.

Das ist viel­leicht der größte Trend der Saison: Kein Team der Welt kann sich auf eine feste For­ma­tion ver­lassen. Spä­tes­tens auf inter­na­tio­nalem Top-Niveau ist es not­wendig, sein Team an den Gegner anzu­passen. Iro­ni­scher­weise war gerade Guar­diola jener Coach, dem dies über weite Stre­cken der Saison am besten gelang. Selten nutzte er in zwei Spielen hin­ter­ein­ander die­selbe For­ma­tion, ständig wech­selte er zwi­schen einem 4−3−3 und einem 4−2−3−1 und passte sein Team an den Gegner an; selbst wenn dieser nur Ein­tracht Braun­schweig hieß. Nur in den ent­schei­denden Par­tien der Saison ver­po­kerte er sich.

Peps Bayern als Tak­tik­labor

Die ver­gan­gene Saison zeigte auch, dass die meisten Trainer lieber bekannte Sys­teme per­fek­tio­nieren, anstatt inno­va­tive Ideen zu ent­wi­ckeln. Sac­chis Fuß­ball ist nicht neu, und doch ist er noch die grund­le­gende Blau­pause für die meisten Teams, ins­be­son­dere in der Bun­des­liga. Das 4−2−3−1 bleibt die meist ver­wen­dete For­ma­tion im euro­päi­schen Fuß­ball, auch wenn die For­ma­tion in den meisten Fällen als ein Mix aus 4−4−1−1 und 3−5−1−1 inter­pre­tiert wird. Abkip­pende Sechser, inverse Flü­gel­spieler und fal­sche Neuner gehören wei­terhin zum Voka­bular eines jeden Fuß­ball­hipsters, werden aber immer mehr zur Nor­ma­lität und ver­lieren ihren inno­va­tiven Klang.

Einer der wenigen inno­va­tiven Mann­schaften dieses Jahr waren die Bayern. Pep Guar­diola hat in seinem ersten Jahr viel pro­biert. Seine Idee, Philipp Lahm und David Alaba als fal­sche Außen­ver­tei­diger in die Mitte ziehen zu lassen, ist die viel­leicht größte tak­ti­sche Inno­va­tion des Jahres. Gänz­lich neu ist das indes nicht. In man­chen Spielen ähnelten die Bayern mit ihrer 3 – 2‑2 – 3‑Formation bei eigenem Ball­be­sitz fast schon frap­pie­rend dem WM-System, das zwi­schen den drei­ßiger und fünf­ziger Jahren populär war.

Die WM als tak­ti­scher Ana­chro­nismus

Dass wir ein sol­ches System oder gar einen fal­schen Außen­ver­tei­diger bei der WM erleben dürfen, ist indes eher unwahr­schein­lich. Tak­tisch hinken die Natio­nal­teams den Klub­mann­schaften stets ein, zwei Jahre hin­terher, auch wenn Trainer wie Spa­niens Vin­cente del Bosque, Ita­liens Cesare Pran­delli oder auch Jogi Löw näher am Zahn der Zeit sind als ihre Vor­gänger. Betrachtet man das (Gegen-)Pressing als den wich­tigsten tak­ti­schen Trend der letzten zwei Jahre, hätten Spa­nien und Deutsch­land die besten Karten auf den WM-Sieg – wenn ihre Trainer die im Klub vor­han­denen Pres­sing­stärken ihrer Spieler in ihr Ball­be­sitz­system inte­grieren können.

Doch gerade bei Welt­meis­ter­schaften tri­um­phiert selten das modernste Team, son­dern jenes, das in seinen sieben Spielen die wenigsten Tore zulässt. Des­halb ist es auch schwer vor­aus­zu­sagen, ob am Ende eine Ball­be­sitz- oder eine Kon­ter­mann­schaft tri­um­phiert. Auch bei der WM wird ent­schei­dend sein, wel­cher Trainer seine Aus­rich­tung am besten an den Gegner anpassen kann.

Wer weiß, viel­leicht lässt sich ja ein Natio­nal­trainer vom pfeil­schnellen Konter- und Pres­sing­fuß­ball von Atle­tico oder Real Madrid inspi­rieren – und damit auch von Sacchi. Der frü­here Meis­ter­coach dürfte diese Saison mit Sicher­heit genossen haben.