Hat der pressingstarke Konterfußball den Ballbesitzfußball wirklich besiegt? Die wichtigsten Taktiktrends der Saison 2013/14.
Es ist schwer zu glauben, aber Silvio Berlusconi hat der Welt mehr geschenkt als zahlreiche Skandale und Skandälchen. Als Berlusconi Ende der Achtziger als Präsident des AC Mailand den bis dato unbekannten Arrigo Sacchi zum Cheftrainer beförderte, hat er wesentlich zur Entwicklung der Fußballtaktik beigetragen. Systematisches Verschieben zum Ball, ein kollektives Pressing, pfeilschnelle Konter, all dies setzte Sacchi ab 1987 als erster Trainer mit seinen Mailändern um – und bis heute ist sein Einfluss spürbar.
Ralf Rangnick nennt Sacchi sein Vorbild, Jürgen Klopp ebenso – und Carlo Ancelotti, der jüngst mit Real Madrid das Champions-League-Finale erreicht hat. Dass Ancelottis Madrilenen im Halbfinale gegen die Bayern mit ihrem roboterhaften Verschieben und ihren pfeilschnellen Kontern auf fast schon beängstigende Weise an den AC Milan von Sacchi erinnerten, war indes kein Zufall: Ancelotti rief Sacchi am Tag vor dem Bayern-Spiel an, um mit ihm die Taktik durchzugehen.
Das Zeitalter des Pressings
Im Jahr 2014 scheint es im internationalen Spitzenfußball unabdingbar, stark im Kollektiv zu verteidigen. In Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden wurde jeweils das Team mit den wenigsten Gegentoren Meister, und auch in Spanien ist Atletico mit nur 25 Gegentreffern auf dem Weg zum Titel. Im Champions-League-Finale stehen sich mit Atletico und Real Madrid die zwei konter- und pressingstärksten Teams der abgelaufenen Saison gegenüber.
Wenn man bei den vier sehr unterschiedlichen Champions-League-Halbfinalisten Chelsea, Bayern, Atletico und Real Madrid eine Gemeinsamkeit suchen möchte, dann ist dies mit Sicherheit die kollektive Defensive. Kein Spieler darf sich auf internationalem Top-Niveau mehr erlauben, gegen den Ball zu faulenzen. Spielertypen wie Ronaldinho, noch vor einigen Jahren bester Spieler des Planeten, verkommen zum Anachronismus. Selbst ein Cristiano Ronaldo, vor zwei Jahren noch Defensiv-Verweigerer, ordnet sich dem Spiel der Mannschaft unter und arbeitet gegen den Ball.
Nachdem in der vergangenen Saison vor allem das Münchener und Dortmunder Gegenpressing dominierte, liegt der Fokus in dieser Saison wieder stärker auf dem Verschieben im Mannschaftsverbund. In den Champions-League-Halbfinals triumphierten am Ende nicht der extreme Defensivfokus von Jose Mourinho oder die Ballbesitzmanie des Pep Guardiolas, sondern der ausgewogene, pfeilschnelle Fußball von Atletico und Real Madrid.
Der Ballbesitzfußball stirbt? Keineswegs
Einige Kritiker des Ballbesitzfußballs nahmen den Triumph Reals gegen die Bayern zum Anlass, mit dem Ballbesitzspiel abzurechnen. Zu fixiert sei Guardiola auf sein „tiki taka“, zu selten ziehe sein Team das Tempo an. Allerdings macht ein Spiel noch nicht den Untergang eines Systems aus – schließlich waren die Bayern noch wenige Wochen zuvor ungeschlagen in der Liga.
Die Lehre des Spiels könnte viel eher eine andere sein: Real Madrid war perfekt auf die Bayern eingestellt, vom Trippeln gegen Franck Ribery bis hin zu den schnellen Konter über die Flügel. Ancelotti scheute sich nicht einmal, sein eigentliches 4 – 3‑3-System zugunsten eines stabileren 4−4−2 aufzugeben. Den Bayern hingegen fehlte über 180 Minuten hinweg die zündende Idee, wie sie die angepasste Defensive der Madrilenen bezwingen können.
Das ist vielleicht der größte Trend der Saison: Kein Team der Welt kann sich auf eine feste Formation verlassen. Spätestens auf internationalem Top-Niveau ist es notwendig, sein Team an den Gegner anzupassen. Ironischerweise war gerade Guardiola jener Coach, dem dies über weite Strecken der Saison am besten gelang. Selten nutzte er in zwei Spielen hintereinander dieselbe Formation, ständig wechselte er zwischen einem 4−3−3 und einem 4−2−3−1 und passte sein Team an den Gegner an; selbst wenn dieser nur Eintracht Braunschweig hieß. Nur in den entscheidenden Partien der Saison verpokerte er sich.
Peps Bayern als Taktiklabor
Die vergangene Saison zeigte auch, dass die meisten Trainer lieber bekannte Systeme perfektionieren, anstatt innovative Ideen zu entwickeln. Sacchis Fußball ist nicht neu, und doch ist er noch die grundlegende Blaupause für die meisten Teams, insbesondere in der Bundesliga. Das 4−2−3−1 bleibt die meist verwendete Formation im europäischen Fußball, auch wenn die Formation in den meisten Fällen als ein Mix aus 4−4−1−1 und 3−5−1−1 interpretiert wird. Abkippende Sechser, inverse Flügelspieler und falsche Neuner gehören weiterhin zum Vokabular eines jeden Fußballhipsters, werden aber immer mehr zur Normalität und verlieren ihren innovativen Klang.
Einer der wenigen innovativen Mannschaften dieses Jahr waren die Bayern. Pep Guardiola hat in seinem ersten Jahr viel probiert. Seine Idee, Philipp Lahm und David Alaba als falsche Außenverteidiger in die Mitte ziehen zu lassen, ist die vielleicht größte taktische Innovation des Jahres. Gänzlich neu ist das indes nicht. In manchen Spielen ähnelten die Bayern mit ihrer 3 – 2‑2 – 3‑Formation bei eigenem Ballbesitz fast schon frappierend dem WM-System, das zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren populär war.
Die WM als taktischer Anachronismus
Dass wir ein solches System oder gar einen falschen Außenverteidiger bei der WM erleben dürfen, ist indes eher unwahrscheinlich. Taktisch hinken die Nationalteams den Klubmannschaften stets ein, zwei Jahre hinterher, auch wenn Trainer wie Spaniens Vincente del Bosque, Italiens Cesare Prandelli oder auch Jogi Löw näher am Zahn der Zeit sind als ihre Vorgänger. Betrachtet man das (Gegen-)Pressing als den wichtigsten taktischen Trend der letzten zwei Jahre, hätten Spanien und Deutschland die besten Karten auf den WM-Sieg – wenn ihre Trainer die im Klub vorhandenen Pressingstärken ihrer Spieler in ihr Ballbesitzsystem integrieren können.
Doch gerade bei Weltmeisterschaften triumphiert selten das modernste Team, sondern jenes, das in seinen sieben Spielen die wenigsten Tore zulässt. Deshalb ist es auch schwer vorauszusagen, ob am Ende eine Ballbesitz- oder eine Kontermannschaft triumphiert. Auch bei der WM wird entscheidend sein, welcher Trainer seine Ausrichtung am besten an den Gegner anpassen kann.
Wer weiß, vielleicht lässt sich ja ein Nationaltrainer vom pfeilschnellen Konter- und Pressingfußball von Atletico oder Real Madrid inspirieren – und damit auch von Sacchi. Der frühere Meistercoach dürfte diese Saison mit Sicherheit genossen haben.