Marc-André ter Stegen verlängert seinen Vertrag beim FC Barcelona bis 2025. Seine Ablöse wird auf 500 Millionen Euro festgeschrieben. Im September 2019 trafen wir den Nationalkeeper in seiner katalonischen Wahlheimat zum Interview. Das komplette Gespräch über die Konkurrenz zu Manuel Neuer, Trainingsspiele mit Lionel Messi und Gehälterwahnsinn – jetzt erstmals auf 11freunde.de
Sie sind 27, Manuel Neuer 33. Wenn Neuer noch drei Jahre im Nationaltor steht, könnte es passieren, dass Ihnen am Ende ein jüngerer Kollege zuvorkommt, wenn es um die Nachfolger geht. Beispielsweise: Alexander Nübel.
Darüber mache ich mir nicht mal ansatzweise Gedanken.
Äußern Sie Ihre Unzufriedenheit im persönlichen Gespräch mit Jogi Löw und DFB-Torwarttrainer Andreas Köpke?
So wie ich bei Barça immer offen und ehrlich gesagt habe, wie sich die Situation darstellt und welche Ziele ich habe, so habe ich es auch bei der Nationalelf getan. Die wissen genau, wie ich denke. Nun kann es für mich nur noch darum gehen, Leistung zu zeigen.
Die Argumente, zumindest eine Chance im Nationaltor zu bekommen, haben Sie. Gerade erst waren Sie zum Welttorhüter nominiert und haben auch beim Champions-League Spiel in Dortmund eine herausragnde Leistung gezeigt.
Für einen Keeper ist es nicht einfach, ein gutes Jahr zu spielen und ständig Topleistungen abzurufen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Sie kennen Manuel Neuer und Bernd Leno seit Jahren, doch nur einer kann die Nummer eins sein. Wie wirkt sich das im persönlichen Umgang aus? Trainieren Sie meist wortlos nebeneinander her?
Ach was, die persönliche Ebene hat doch nichts mit der sportlichen Konkurrenz und dem Beruf zu tun. Und wir tun alle gut daran, das nicht zu vermischen. Mein Verhältnis zu Bernd und Manu ist absolut professionell und wir können uns ganz normal über alles Mögliche unterhalten, unabhängig davon, wie die Ambitionen des Einzelnen sind.
Torwartrivalen wie Oliver Kahn und Jens Lehmann, Uli Stein und Toni Schumacher sind in den Fußballgeschichtsbüchern auf immer miteinander verbunden. Denken Sie darüber nach, dass es Ihnen mit Manuel Neuer eines Tages auch so gehen könnte?
Überhaupt nicht. Ich lebe im Jetzt, ich will in der Gegenwart etwas erreichen. Natürlich hat das mittelbar auch mit Manu zu tun, aber das ist eine rein professionelle Frage.
Aber wenn Manuel Neuer nicht weicht, könnte es passieren, dass Sie als Nationalspieler eine Randfigur bleiben.
Mein Ziel ist, maximal erfolgreich zu sein. Dazu gehört auch die Nationalelf. Aber ich kann nur versuchen, stets noch besser zu sein als gestern. Ich möchte für den FC Barcelona und sein Spiel eine Bereicherung sein. Die Entscheidung bei der Nationalelf liegt nicht in meinen Händen. Ich kann nur zusehen, den Leuten, die darüber befinden, wer im Tor steht, die Entscheidung so schwer wie möglich zu machen.
Wie lange muss ein Keeper Geduld haben? Sagen Sie sich insgeheim, wenn’s bis zum 30. Geburtstag in der DFB-Elf nicht klappt, trete ich ab?
Ich plane nur bis nächsten Samstag, was ich erreichen will. Denn da stehe ich wieder auf dem Platz.
Marc André ter Stegen, der FC Barcelona hat in den letzten drei Champions-League-Saisons unglaubliche Spiele erlebt. Im Achtelfinale 2016/17 drehten Sie gegen Paris St. Germain ein 0:4 aus dem Hinspiel durch ein 6:1, im Viertelfinale 2017/18 schieden Sie spektakulär gegen den AS Rom (4:1/0:3) aus, zuletzt das Halbfinale gegen den FC Liverpool (3:0/0:4). Wie blicken Sie auf solche Spiele zurück: als historische Ereignisse oder als Ärgernis, weil Sie so viele Treffer gefangen haben?
Natürlich sagt mir mein Verstand, dass solche Duelle der Grund sind, warum Menschen ins Stadion gehen. Aber ich analysiere auch die Details und da ist es bitter festzustellen, wie viele Tore gefallen sind, bei denen ich völlig machtlos war. Sowohl das Ausscheiden in Rom, als auch in Liverpool war extrem hart. Nicht nur für mich, fürs ganze Team.
Wie geht der FC Barcelona mit solchen Situationen um?
Wir sind sehr mit uns ins Gericht gegangen. In Rom, in Liverpool, aber auch 2017 im Viertelfinale gegen Juve ist viel schief gelaufen, was nicht vorhersehbar war.
Was konkret?
Dinge, die nicht durch spielerische oder taktische Fehler erklärbar sind, sondern wo man tief in die Psychologie eintauchen muss.
Sprich: Im Kopf hat’s nicht gestimmt.
Zumindest haben sich die Dinge so entwickelt, dass sie schwer greifbar sind. Deshalb würde ich nie sagen, dass uns sowas nicht noch einmal passieren kann.
Warum scheidet der große FC Barcelona in zwei aufeinanderfolgenden Jahren trotz komfortabler Hinspielsiege so schmählich aus?
So ist Fußball. Wenn an der Anfield Road schnell aufeinanderfolgend zwei Tore fallen, ändert sich alles. Dann können Sie das Hinspiel vergessen. Und ich muss auch zugeben, dass der Gegner an diesem Tag in jeder Hinsicht besser war.
Nach dem 6:1‑Sieg gegen Paris St. Germain 2017 sagte Ihr Teamkollege Arda Turan: „Du nennst es Wunder, wir nennen es normal.“ Wie nennen Sie es?
Auf keinen Fall normal. Nach der 0:4‑Niederlage im Hinspiel waren wir am Boden. Aber vor dem Rückspiel hat uns der Trainer eine Überzeugung mitgegeben, wie ich es so noch nie erlebt habe. Es war unglaublich, mit was für einem Gefühl wir auf den Platz gegangen sind. Aber es hat natürlich geholfen, dass wir schon nach drei Minuten in Führung gingen.
Welchen Einfluss können Sie in dramatischen Spielen als Schlussmann ausüben? Während der Partei gegen Paris St. Germain sollen Sie den Vorderleuten zugerufen haben: „Wir sterben nie, wir sind Barcelona, wir werden gewinnen.“ In Ihrer Übersetzung klingt das aber sehr martialisch. Ich würde es eher mit „Wir sind noch nicht tot“, im Sinne von „Leute, es ist noch nicht vorbei“ übersetzen. Als Paris in der 62. Minute das Anschlusstor zum 1:3 machte, gingen bei uns die Köpfe runter. Aber ich wollte nicht aufhören, an das Wunder zu glauben. An diesem Tag hatte ich die Überzeugung und ich wollte keinen negativen Gedanken zulassen. Und dann fiel unser viertes Tor…
Und was haben Sie gerufen, als Liverpool im Frühjahr in Anfield plötzlich Morgenluft witterte? Wir sind alle Menschen, wenn die plötzlich treffen, passiert was in den Köpfen. Meistens versuche ich als Torwart dann beruhigend zu wirken. Sinngemäß: „Nerven behalten, wir kriegen das schon wieder in den Griff.“
Wie müssen wir uns die Stimmung nach dem Halbfinal-Aus in Liverpool in der Barça-Kabine vorstellen?
In dem Moment waren alle nur fassungslos, weil es für uns schlichtweg keine Erklärung gab. Da fragt man sich: Wie soll ich meinen Eltern oder meiner Frau plausibel die Frage beantworten, warum wir trotz eines 3:0‑Siegs im Hinspiel nicht weitergekommen sind?
Fragen Ihre Eltern danach?
Zum Glück nicht, aber natürlich kommen viele Fragen von Leuten aus dem Verein. Und da braucht man schon mentale Stärke, um damit zurechtzukommen.
Sind die Barça‑Superstars besser in der Verarbeitung solcher Niederlagen als durchschnittliche Bundesligaspieler?
Auf dem Niveau, auf dem sich der Klub bewegt, müssen alle Spieler in der Lage sein, Enttäuschungen schnell abzuhaken. Weil schon die nächste Herausforderung auf uns wartet und immer die höchsten Erwartungen an uns gestellt werden.
Als Sie 2014 nach Barcelona wechselten, wurde Ihre Ablöse auf 80 Millionen Euro festgeschrieben. Damals hielten Sie die Klausel für symbolisch, weil Sie sich nicht vorstellen konnten, dass die Option je gezogen würde. Inzwischen verlangt der FC Barcelona 180 Millionen für Sie.
Der Markt ist dauernd in Bewegung. In der Zwischenzeit sind auch schon 80 Millionen für Torhüter bezahlt worden, das war damals unvorstellbar. Fußball ist heute nicht mehr nur elf gegen elf, sondern ein riesiges Marketinginstrument. Deswegen haben sich auch die Summen verändert, die in den Verträgen stehen.
Laut Transfermarkt.de hat das Team des FC Barcelona aktuell einen Marktwert von 1,18 Milliarden Euro. Ist das krank?
Ob das gut oder schlecht ist, sollen die beurteilen, die das Geld in die Hand nehmen. Wir Profis tun nur unser Bestes, um im Verein einen Stellenwert zu erhalten. Und damit steigt der Wert des Kaders. Aber dass sich der Markt so entwickelt, war sicherlich nicht abzusehen.
Sprechen Sie mit Ihren Teamkollegen über derlei Entwicklungen?
Nein, in Spanien werden schon lange hohe Summen im Fußball bezahlt, in Deutschland ist Geld ein sensibleres Thema. Hier werden die Ablöseklauseln als Absicherung für den Verein betrachtet. Aber natürlich bin auch ich verwundert, wenn in Ausnahmefällen wie beim Ney (Neymar, d.Red.), solche Summen tatsächlich bezahlt werden.
Vor zehn Jahren beging Robert Enke Selbstmord, wohl auch, weil er dem Druck des Fußballbusiness nicht gewachsen war. Wie empfinden Sie als heutiger Profi die Situation?
Diese Welt ist für den ein oder anderen sicher nicht leicht zu verkraften. Wer nicht in der Lage ist, Kritik abzufedern, wer alles persönlich nimmt, für den ist es in diesem Geschäft schwer.
Was macht das Fußballgeschäft so anstrengend?
Dass die Kritik oft über den Sport hinausgeht.
Haben Sie negative Erfahrungen gemacht?
Sportliche Kritik ist okay, aber wenn Menschen, die mich gar nicht kennen, persönlich über mich urteilen und Unwahrheiten verbreiten, trifft einen das schon hart. Ich erinnere mich an einen Artikel nach einem Champions-League-Spiel vor ein paar Jahren, da würde ich noch heute gern wissen, was sich der Schreiber dabei gedacht hat und mit ihm drüber reden.
Warum machen Sie es nicht?
Weil sich der Autor bei der Zeitung leider nicht herausfinden ließ.
Letzte Frage: Wie stellen Sie sich eine vollendete Profikarriere vor?
Eine vollendete Laufbahn wäre es, wenn ich stets Spaß am Fußball gehabt habe, Titel gesammelt und im Einklang mit den Mitspielern gelebt habe. Denn mindestens so wichtig wie eine Trophäe sind die Erinnerungen an die Momente, die man mit dem Team erlebt hat.