Am 08. Dezember 1993 – heute vor 30 Jahren – schlug Werder Bremen den RSC Anderlecht nach 0:3‑Rückstand noch mit 5:3. Mirko Votava, Oliver Reck und Thomas Schaaf über die legendären „Wunder von der Weser“.
Dieses Interview erschien erstmals in unserem Spezial „Spiele unseres Lebens“. Die gesamte Ausgabe ist weiterhin hier im Shop erhältlich.
Oliver Reck, Thomas Schaaf, Mirko Votava, glauben Sie an Wunder?
Mirko Votava: Warum nicht? Schließlich geschehen in jedem gesellschaftlichen Bereich hin und wieder Dinge, die wir uns nicht vorstellen können.
Thomas Schaaf: Wenn Sie Wunder so definieren, dass Dinge passieren, die unmöglich vorauszusehen sind, gibt es im Fußball definitiv welche.
Oliver Reck: Als Fußballer neigen wir heute dazu, alles berechnen zu wollen. Wir meinen, alles über den Gegner zu wissen. Und dennoch gibt es Aktionen und Zufälle in Spielen, die sich nicht berechnen lassen. Und dann wird es wundersam.
Heißt das im Umkehrschluss, dass durch die minutiöse Datenerfassung im Fußball die Zahl der Wunder abnimmt?
Reck: Ich denke schon. In den späten Achtzigern gab es nicht einmal vor Bundesligapartien eine Videovorbereitung. Wenn wir im Europacup antraten, kannten wir Gegenspieler manchmal nur von Fotos.
Schaaf: Über Mannschaften aus dem Ostblock wussten wir praktisch nichts und mussten die Fragen, die sich uns bei einem Gegner stellten, spontan auf dem Platz beantworten.
Votava: Wir gingen mit nicht viel mehr als dem Glauben an unsere eigene Stärke auf den Rasen und dachten nicht darüber nach, welcher Gegenspieler oder welche taktische Variante uns Probleme bereiten könnte. Bei den „Wundern von der Weser“ wussten wir nur: Wir müssen Tore machen, wenn wir noch weiterkommen wollen.
Die sogenannten „Wunder von der Weser“ zwischen 1987 und 1993 ereigneten sich allesamt vor spärlich besetzten Rängen an kalten, oft regnerischen Herbsttagen. Brauchte der SV Werder widrige Umstände, um zu Höchstform aufzulaufen?
Votava: Damals war Fußball noch kein Familienvergnügen. Es kamen fast achtzig Prozent Männer ins Stadion. Reck: Und wenn die keine Hoffnung mehr hatten, blieben sie an kalten Mittwochabenden auch mal zu Hause. Allerdings war zu der Zeit das Weserstadion ohnehin nur ausverkauft, wenn wir gegen den FC Bayern oder den HSV spielten, sonst kamen nie mehr als 15 000 Zuschauer.
Die Kulisse war für die „Wunder“ also nicht entscheidend.
Schaaf: Nun ja, es waren Abendspiele! Und wenn im Weserstadion das Licht anging, eröffnete sich hier eine andere Welt. Und dann machten die 16 000 gegen Moskau Krach, als wäre das Stadion proppenvoll.
Das Hinspiel in Moskau im Herbst 1987 war in die Hose gegangen.
Schaaf: Das Match kam erst im zweiten Anlauf zustande. Wir hatten uns schon einige Tage zuvor nach Moskau aufgemacht, bekamen aber wegen starken Nebels keine Landeerlaubnis und landeten in Wilna zwischen. Dort schliefen wir in einem Zollhaus auf unseren Taschen und aßen das bisschen Proviant, das wir dabei hatten. Im Morgengrauen bestiegen wir einen Bus, der noch zwei Stunden auf der Landebahn rumstand, und flogen zurück nach Bremen.
Stimmt es, dass Sie im Wilnaer Zollhaus Fünf gegen Zwei gespielt haben, um im Falle des Weiterflugs aufgewärmt zu sein.
Schaaf: Das ist Legende. Aber damals sahen die Regularien der UEFA vor, dass wir losfliegen müssen, auch wenn die Voraussetzungen widrig sind, sonst wären wir disqualifiziert worden.
Sie machten sich eine Woche später erneut auf den Weg und kamen in Moskau mit 1:4 unter die Räder.
Reck: Wir spielten auf gefrorenem Boden und hatten keine Chance.
Schaaf: Die haben uns regelrecht kaputtgerannt.
Reck: Und sie haben trotz des Eisbodens wunderbar harmoniert und den Ball laufenlassen. Zum Glück wechselte Otto (Rehhagel, d. Red.) nach der Halbzeit Manni (Burgsmüller) ein, dem noch ein Tor gelang. So hatten wir fürs Rückspiel zumindest noch ansatzweise Hoffnung.
„Wenn Engländer von der Insel mussten, waren sie nur halb so gut“
Otto Rehhagel soll nach dem Hinspiel sehr sauer gewesen sein.
Reck: Das lag daran, dass wir anschließend in der Hotelbar saßen und versuchten, uns die Niederlage mit ein paar Sponsorenvertretern schön zu reden.
Thomas Schaaf, Sie schmunzeln…
Votava: Thomas, gib es doch zu, du warst mit dem Spiel eigentlich ganz zufrieden. (Lacht.)
Schaaf: Es war eine surreale Situation. Wir waren binnen weniger Tage zwei Mal dahin gereist und dem Gegner neunzig Minuten lang nur hinterhergerannt. Da war gar nichts, was einem noch Hoffnung machte. Doch allen war bewusst: Diese Blamage können wir auf keinen Fall so stehen lassen.
Das bedeutete fürs Rückspiel …?
Votava: … volle Konzentration auf unsere Spielweise der kontrollierten Offensive. Denken Sie nicht, dass da nur eitel Sonnenschein war. Im internen Kreis haben wir uns ordentlich gezofft. Aber das war wichtig, um wieder Zug in die Sache zu kriegen. Otto wusste, dass wir uns selbst am meisten ärgerten und die Sache ausbügeln wollten. Nicht zuletzt, weil wir noch nicht so viel verdienten und eine weitere Runde im Europacup bedeutete, dass wir etwas mehr ins Portemonnaie bekamen.
Was war Ihr Plan vorm Rückspiel?
Schaaf: Mit den Sowjets war es ähnlich wie mit den Engländern. Über die es hieß: Wenn die von ihrer Insel runterkommen, sind sie nur halb so gut! Spartak war gedrillt, die hatten ihre Vorgaben, also mussten wir zusehen, ihnen über körperliche Aggressivität den Schneid abzukaufen und sie nicht ins Spiel kommen zu lassen. Wir wussten, dass sie sich schwertaten, auf unvorhergesehene Taktikvarianten zu reagieren. Also wurde im Rückspiel von Beginn an zurückgefightet.
Bei Anpfiff waren es fünf Grad im Weserstadion. Spürten Sie, dass etwas in der Luft lag?
Reck: Otto sagte uns, dass es vor Anpfiff eine Ehrung geben würde: Keeper Rinat Dassejew wurde als bester Torhüter Europas ausgezeichnet. Als wir das hörten, haben wir gewitzelt: „Hoffen wir mal, dass es kein schlechtes Omen für ihn ist und er nach dem Spiel noch eine weiße Weste hat.“ Ich glaube, Dassajew hat in seiner gesamten Karriere nie mehr sechs Stück in einem Spiel gekriegt.
Werder startete mit zwei Toren von Frank Neubarth fulminant, zur Halbzeit lagen Sie mit 3:0 vorn und waren auf dem Papier weiter. Erinnern Sie sich noch an die Ansprache von Otto Rehhagel? Er soll ja mitunter zu überlangen Ausführungen geneigt haben.
Reck: Es gab Halbzeitansprachen, in denen Otto bis zum Wiederanpfiff durchquatschte, und auch welche, in denen er zwei Sätze sagte und uns in Ruhe ließ. Ich denke, er wird an diesem Tag nicht viel gesagt haben. Er wusste, dass wir die Dinge auch unter uns klärten.