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Seite 3: „Manni war ein Schlitzohr – im besten Sinne des Wortes“

Sie schickten die Ber­liner mit 5:0 nach Hause.
Votava: Wir haben uns wie gewohnt auf unsere Stärken kon­zen­triert – und haben bis zum Schluss nicht mehr damit auf­ge­hört. (Lacht.)

War Manni Burg­s­müller ein Typ für solche Momente?
Schaaf: Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlitzohr. Ich werde nie ver­gessen, als er, dieses Hemd, in der Schluss­phase gegen Moskau plötz­lich anfing, wild zu grät­schen. Wenn es sein musste, machte er Sachen, die nie­mand je von ihm erwartet hätte.

Das 5:0 gegen Dynamo erzielte in der Schluss­mi­nute der Abwehr­spieler Thomas Schaaf.
Reck: Ich sehe es noch vor meinem geis­tigen Auge: halb­rechte Seite, Voll­spann, richtig?
Schaaf: Jo!
Votava: Du warst immer bis zur letzten Sekunde voll da, Thomas!

Gab es andere Spieler, die gerade in Euro­pa­cup­par­tien über sich hin­aus­wuchsen?
Votava: Die Magie in diesen Par­tien machte das Team aus. Die Tat­sache, dass jeder genau wusste, was er zu tun hat und er für den anderen da sein muss.
Schaaf: Die Mischung machte es. Uli (Borowka, d. Red) hatte die Robust­heit, Manni die Schlitz­oh­rig­keit und Rune (Bratseth) die Technik.
Votava: Wenn einer nicht mit­ge­zogen hätte, es hätte nicht funk­tio­niert. Wie gesagt, Manni fing plötz­lich an zu grät­schen, das war völlig außer­halb der Norm. Wir haben uns jeden im Team zurecht­ge­bogen. Fragen Sie mal Mario Basler. Solange er seine Tore machte, wurde er geschont, aber wenn er mal keins machte, dann (Klatscht in die Hände.) bekam er eine Abrei­bung.

In magi­schen Par­tien sind es manchmal sym­bol­hafte Szenen, die das Pendel in die eine oder andere Rich­tung aus­schlagen lassen. Wel­cher Akteur gab bei Ihnen das Signal zur Attacke?
Schaaf: Mit der Grät­sche, die Uli oft ansetzte, würde er heute in jedem zweiten Match vom Platz gestellt. Aber damals wurde viel kör­per­li­cher gespielt und wir wussten: Wenn da gleich nach Anpfiff einer zu Fall kommt und der Schiri über eine Gelbe Karte nach­denkt, sind auch die Zuschauer wie eine Wand da. Und dann geht’s los!

Sie wussten also: Selbst in schwie­rigen Euro­pa­cup­spielen landet der Gegen­spieler von Uli Borowka nach drei Minuten auf der Aschen­bahn?
Reck: So radikal würde ich das nicht aus­drü­cken.

Es gab keiner mehr einen Pfif­fer­ling auf uns“

Son­dern?
Schaaf: Dass sein Gegen­spieler nach drei Minuten mit­be­kommen hatte, mit wem er es zu tun hat.
Reck: Der VAR hätte bei Par­tien mit Uli jeden­falls keine Pause machen können. Der hätte 93 Minuten lang für Voll­be­schäf­ti­gung gesorgt.
Votava: Jeder Gegner im Weser­sta­dion wusste, dass er auf ein Team trifft, das aggressiv zur Sache geht. Aber ich finde nicht, dass es auf Kosten der Attrak­ti­vität ging. Wir haben nicht nur robust, son­dern auch schnell nach vorne gespielt. Wie hätten wir sonst in einem Spiel fünf, sechs Tore erzielen können?

Im Dezember 1993 lag der SV Werder im Cham­pions-League-Spiel gegen den RSC Ander­lecht zur Halb­zeit mit 0:3 zurück. Uli Borowka sagte: Wir sind noch nie so vor­ge­führt worden.“
Reck: Dabei hat es geschüttet wie aus Eimern, und ich hatte von Beginn an ein gutes Gefühl.
Schaaf: Zur Halb­zeit gingen schon etliche Zuschauer nach Hause, weil keiner mehr einen Pfif­fer­ling auf uns gab.
Votava: Aber ab der 60. Minute schien es, als sei kein Gegner mehr auf dem Platz. Wahn­sinn, was die uns plötz­lich an Raum ließen. In der ersten Hälfte hatten sie uns ein­ge­schnürt, und nun ließen sie uns machen, was wir wollten.

Kam mit den Erfah­rungen auch die Gewiss­heit, dass Sie vor Anpfiff dachten: Heute ist wieder ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben?“
Reck: Wir gewannen über die Jahre die Über­zeu­gung, Spiele drehen zu können. Wir wussten irgend­wann, dass eine Partie erst ver­loren ist, wenn der Schiri abpfeift. Aller­dings muss ich zugeben, dass uns gegen Ander­lecht Marco Bode und Wynton Rufer mehr oder weniger im Allein­gang zurück ins Spiel brachten.
Schaaf: Die Qua­lität der Mann­schaft nahm von Jahr zu Jahr zu. Und damit der Hunger auf Erfolg. Ich habe in diesen Jahren nie­mals das Gefühl gehabt, dass wir als Team vor einer Situa­tion kapi­tu­lieren. Auch wenn es anfangs ein paar Jahre dau­erte, bis wir zu zähl­baren Erfolgen kamen.
Votava: Unser Selbst­ver­trauen wuchs nach sol­chen Wun­dern, und wir merkten den Respekt auch in der Liga. Bevor wir bei­spiels­weise den SSC Neapel im Dezember 1989 mit 5:1 im UEFA-Cup-Ach­tel­fi­nale besiegten, stand ich unter Beschuss einiger Fans und wurde oft aus­ge­pfiffen. Aber als wir Mara­dona aus­ge­schaltet hatten, war von jetzt auf gleich Ruhe. Diego kam genau im rich­tigen Moment.
Reck: Ein Geheimnis unseres Erfolges war auch die Locker­heit, mit der wir in Spiele gingen. Im Weser­sta­dion spielten wir vor Anpfiff drüben im Reha-Zen­trum oft noch Fuß­ball­tennis. Otto gab uns das Gefühl, dass wir ein Team sind, das es jedem Gegner schwer macht. Und dieses Gefühl, diese breite Brust, nahm stetig zu.

Werder 23 07 2020 11 Freunde Werder Bremen 4638 WEB

Thomas Schaaf

Patrick Runte

Nach wel­chem Wunder gab es die beste Party?
Reck: Nach dem 5:1 gegen Neapel war ich bis zum Mor­gen­grauen aus. Lag aber auch daran, dass ich Besuch von Freunden aus Frank­furt hatte.
Schaaf: Nach den Euro­pa­cup­spielen war ich nie vor drei Uhr im Bett. Auch weil ich vom Flut­licht so gepusht war.

Otto Reh­hagel soll nach diesen Par­tien meist gesagt haben: Meine Herren, schönes Spiel, aber denken Sie daran, Samstag ist wieder Bun­des­liga.“
Schaaf:
Natür­lich ging es viel­leicht auch mal etwas länger. Aber uns war auch bewusst: Am Samstag müssen wir wieder fit sein und auf dem Rasen stehen. Auch in der Hin­sicht hat jeder auf den anderen auf­ge­passt.

Wer ein Wunder erlebt, will es immer wieder“

Thomas Schaaf, inwie­weit hat die Bremer Wunder-Tra­di­tion Ihre Arbeit als Chef­coach beein­flusst? Haben Sie Ihre Spieler mit diesen Erleb­nissen kon­fron­tiert, etwa vor dem UEFA-Cup-Rück­spiel gegen Olym­pique Lyon 1999, das mit einem 4:0‑Sieg endete? Das Hin­spiel war mit 0:3 ver­lo­ren­ge­gangen.
Schaaf: Natür­lich half es mir, den Jungs zu sagen: Wenn ihr den Glauben daran habt, ist es auch mög­lich! Ein Trainer muss diese Vision ver­mit­teln, und wenn er dazu pas­sende Bilder hat, ist das ideal. Anders könnten Moti­va­ti­ons­trainer ihren Job gar nicht aus­üben.

Haben Sie in Anspra­chen kon­kret über die Wunder“ aus Ihrer aktiven Zeit geredet?
Schaaf: Klar. Warum soll es nicht mög­lich sein, im Rück­spiel gegen Lyon vier Tore zu schießen? Gegen Spartak Moskau und Dynamo Berlin haben wir noch mehr erzielt. Glaubt mir, ich war dabei!

Oliver Reck, Thomas Schaaf, Mirko Votava, welche Szene aus einem Wunder von der Weser“ geht Ihnen bis heute gele­gent­lich noch durch den Kopf?
Schaaf: Einen kon­kreten Moment kann ich nicht benennen, aber wenn wir uns mit der alten Mann­schaft treffen, stelle ich fest, dass alle froh sind, Teil dieser Ära gewesen zu sein.
Reck: Wir waren eine Ein­heit! Wenn neue Spieler zu uns kamen, wurden sie sofort inte­griert. Was brauchst du? Wo kann ich dir helfen? Hast du schon eine Woh­nung? Von diesem Zusam­men­halt zehren wir bis heute.
Votava: Ich denke, man muss bestimmte Momente erlebt haben, um zu wissen, was sie bedeuten. Wer einmal ein Pokal­fi­nale in Berlin gespielt hat, will immer wieder dahin. Der Gedanke ist Moti­va­tion genug. So ist es auch mit den Spielen, über die wir reden: Wer je dabei gewesen ist, will es immer wieder erleben, dieses Wunder von der Weser!