Am 08. Dezember 1993 – heute vor 30 Jahren – schlug Werder Bremen den RSC Anderlecht nach 0:3‑Rückstand noch mit 5:3. Mirko Votava, Oliver Reck und Thomas Schaaf über die legendären „Wunder von der Weser“.
Sie schickten die Berliner mit 5:0 nach Hause.
Votava: Wir haben uns wie gewohnt auf unsere Stärken konzentriert – und haben bis zum Schluss nicht mehr damit aufgehört. (Lacht.)
War Manni Burgsmüller ein Typ für solche Momente?
Schaaf: Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlitzohr. Ich werde nie vergessen, als er, dieses Hemd, in der Schlussphase gegen Moskau plötzlich anfing, wild zu grätschen. Wenn es sein musste, machte er Sachen, die niemand je von ihm erwartet hätte.
Das 5:0 gegen Dynamo erzielte in der Schlussminute der Abwehrspieler Thomas Schaaf.
Reck: Ich sehe es noch vor meinem geistigen Auge: halbrechte Seite, Vollspann, richtig?
Schaaf: Jo!
Votava: Du warst immer bis zur letzten Sekunde voll da, Thomas!
Gab es andere Spieler, die gerade in Europacuppartien über sich hinauswuchsen?
Votava: Die Magie in diesen Partien machte das Team aus. Die Tatsache, dass jeder genau wusste, was er zu tun hat und er für den anderen da sein muss.
Schaaf: Die Mischung machte es. Uli (Borowka, d. Red) hatte die Robustheit, Manni die Schlitzohrigkeit und Rune (Bratseth) die Technik.
Votava: Wenn einer nicht mitgezogen hätte, es hätte nicht funktioniert. Wie gesagt, Manni fing plötzlich an zu grätschen, das war völlig außerhalb der Norm. Wir haben uns jeden im Team zurechtgebogen. Fragen Sie mal Mario Basler. Solange er seine Tore machte, wurde er geschont, aber wenn er mal keins machte, dann (Klatscht in die Hände.) bekam er eine Abreibung.
In magischen Partien sind es manchmal symbolhafte Szenen, die das Pendel in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen. Welcher Akteur gab bei Ihnen das Signal zur Attacke?
Schaaf: Mit der Grätsche, die Uli oft ansetzte, würde er heute in jedem zweiten Match vom Platz gestellt. Aber damals wurde viel körperlicher gespielt und wir wussten: Wenn da gleich nach Anpfiff einer zu Fall kommt und der Schiri über eine Gelbe Karte nachdenkt, sind auch die Zuschauer wie eine Wand da. Und dann geht’s los!
Sie wussten also: Selbst in schwierigen Europacupspielen landet der Gegenspieler von Uli Borowka nach drei Minuten auf der Aschenbahn?
Reck: So radikal würde ich das nicht ausdrücken.
„Es gab keiner mehr einen Pfifferling auf uns“
Sondern?
Schaaf: Dass sein Gegenspieler nach drei Minuten mitbekommen hatte, mit wem er es zu tun hat.
Reck: Der VAR hätte bei Partien mit Uli jedenfalls keine Pause machen können. Der hätte 93 Minuten lang für Vollbeschäftigung gesorgt.
Votava: Jeder Gegner im Weserstadion wusste, dass er auf ein Team trifft, das aggressiv zur Sache geht. Aber ich finde nicht, dass es auf Kosten der Attraktivität ging. Wir haben nicht nur robust, sondern auch schnell nach vorne gespielt. Wie hätten wir sonst in einem Spiel fünf, sechs Tore erzielen können?
Im Dezember 1993 lag der SV Werder im Champions-League-Spiel gegen den RSC Anderlecht zur Halbzeit mit 0:3 zurück. Uli Borowka sagte: „Wir sind noch nie so vorgeführt worden.“
Reck: Dabei hat es geschüttet wie aus Eimern, und ich hatte von Beginn an ein gutes Gefühl.
Schaaf: Zur Halbzeit gingen schon etliche Zuschauer nach Hause, weil keiner mehr einen Pfifferling auf uns gab.
Votava: Aber ab der 60. Minute schien es, als sei kein Gegner mehr auf dem Platz. Wahnsinn, was die uns plötzlich an Raum ließen. In der ersten Hälfte hatten sie uns eingeschnürt, und nun ließen sie uns machen, was wir wollten.
Kam mit den Erfahrungen auch die Gewissheit, dass Sie vor Anpfiff dachten: „Heute ist wieder ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben?“
Reck: Wir gewannen über die Jahre die Überzeugung, Spiele drehen zu können. Wir wussten irgendwann, dass eine Partie erst verloren ist, wenn der Schiri abpfeift. Allerdings muss ich zugeben, dass uns gegen Anderlecht Marco Bode und Wynton Rufer mehr oder weniger im Alleingang zurück ins Spiel brachten.
Schaaf: Die Qualität der Mannschaft nahm von Jahr zu Jahr zu. Und damit der Hunger auf Erfolg. Ich habe in diesen Jahren niemals das Gefühl gehabt, dass wir als Team vor einer Situation kapitulieren. Auch wenn es anfangs ein paar Jahre dauerte, bis wir zu zählbaren Erfolgen kamen.
Votava: Unser Selbstvertrauen wuchs nach solchen Wundern, und wir merkten den Respekt auch in der Liga. Bevor wir beispielsweise den SSC Neapel im Dezember 1989 mit 5:1 im UEFA-Cup-Achtelfinale besiegten, stand ich unter Beschuss einiger Fans und wurde oft ausgepfiffen. Aber als wir Maradona ausgeschaltet hatten, war von jetzt auf gleich Ruhe. Diego kam genau im richtigen Moment.
Reck: Ein Geheimnis unseres Erfolges war auch die Lockerheit, mit der wir in Spiele gingen. Im Weserstadion spielten wir vor Anpfiff drüben im Reha-Zentrum oft noch Fußballtennis. Otto gab uns das Gefühl, dass wir ein Team sind, das es jedem Gegner schwer macht. Und dieses Gefühl, diese breite Brust, nahm stetig zu.
Nach welchem Wunder gab es die beste Party?
Reck: Nach dem 5:1 gegen Neapel war ich bis zum Morgengrauen aus. Lag aber auch daran, dass ich Besuch von Freunden aus Frankfurt hatte.
Schaaf: Nach den Europacupspielen war ich nie vor drei Uhr im Bett. Auch weil ich vom Flutlicht so gepusht war.
Otto Rehhagel soll nach diesen Partien meist gesagt haben: „Meine Herren, schönes Spiel, aber denken Sie daran, Samstag ist wieder Bundesliga.“
Schaaf: Natürlich ging es vielleicht auch mal etwas länger. Aber uns war auch bewusst: Am Samstag müssen wir wieder fit sein und auf dem Rasen stehen. Auch in der Hinsicht hat jeder auf den anderen aufgepasst.
„Wer ein Wunder erlebt, will es immer wieder“
Thomas Schaaf, inwieweit hat die Bremer Wunder-Tradition Ihre Arbeit als Chefcoach beeinflusst? Haben Sie Ihre Spieler mit diesen Erlebnissen konfrontiert, etwa vor dem UEFA-Cup-Rückspiel gegen Olympique Lyon 1999, das mit einem 4:0‑Sieg endete? Das Hinspiel war mit 0:3 verlorengegangen.
Schaaf: Natürlich half es mir, den Jungs zu sagen: Wenn ihr den Glauben daran habt, ist es auch möglich! Ein Trainer muss diese Vision vermitteln, und wenn er dazu passende Bilder hat, ist das ideal. Anders könnten Motivationstrainer ihren Job gar nicht ausüben.
Haben Sie in Ansprachen konkret über die „Wunder“ aus Ihrer aktiven Zeit geredet?
Schaaf: Klar. Warum soll es nicht möglich sein, im Rückspiel gegen Lyon vier Tore zu schießen? Gegen Spartak Moskau und Dynamo Berlin haben wir noch mehr erzielt. Glaubt mir, ich war dabei!
Oliver Reck, Thomas Schaaf, Mirko Votava, welche Szene aus einem „Wunder von der Weser“ geht Ihnen bis heute gelegentlich noch durch den Kopf?
Schaaf: Einen konkreten Moment kann ich nicht benennen, aber wenn wir uns mit der alten Mannschaft treffen, stelle ich fest, dass alle froh sind, Teil dieser Ära gewesen zu sein.
Reck: Wir waren eine Einheit! Wenn neue Spieler zu uns kamen, wurden sie sofort integriert. Was brauchst du? Wo kann ich dir helfen? Hast du schon eine Wohnung? Von diesem Zusammenhalt zehren wir bis heute.
Votava: Ich denke, man muss bestimmte Momente erlebt haben, um zu wissen, was sie bedeuten. Wer einmal ein Pokalfinale in Berlin gespielt hat, will immer wieder dahin. Der Gedanke ist Motivation genug. So ist es auch mit den Spielen, über die wir reden: Wer je dabei gewesen ist, will es immer wieder erleben, dieses Wunder von der Weser!