Als Javi Martinez vor acht Jahren zum FC Bayern kam, war er der teuerste Bundesliga-Transfer aller Zeiten. Gestern hat er zum wohl letzten Mal ein Spiel für den Rekordmeister geschrieben. Der Baske im Interview.
Das Gespräch mit Javi Martínez fand im Rahmen eines Pressetermins mit „Oakley“ statt. Martínez ist Markenbotschafter und das aktuelle Gesicht für Oakley-Korrektionsbrillen. Das Interview erschien erstmals im Februar 2020.
Javi Martínez, würden Sie gerne mal wieder auf der Zehn spielen?
Uff, es ist schon so lange her, dass ich das gemacht habe. Ich habe zwar als Stürmer und später als Zehner angefangen, aber im Jugendbereich werden die besseren Spieler immer vorne reingestellt. Auf der Sechs und in der Innenverteidigung bin ich sehr zufrieden. Meine Stärke ist das Verteidigen.
Gab es einen Trainer, der Sie endgültig auf die Sechs gestellt hat?
Nein, das war ein Prozess. Je älter ich wurde, desto weiter hinten wurde ich aufgestellt. In meinen ersten Jahren bei Athletic Bilbao war ich ein klassischer Box-to-Box-Spieler, hatte offensiv deutlich mehr Freiheiten als heute – und habe auch einige Tore geschossen. Aber es gab einen Trainer, der mich zum allerersten Mal in die Verteidigung gestellt hat: Marcelo Bielsa.
Wie war es, unter ihm zu trainieren?
Die Art, wie er trainiert, die Ansprachen… Er ist einzigartig. Er ist ein Trainer, der dich körperlich komplett ans Limit bringt. Er weiß einfach, wie er alles aus dir herauspressen kann, dich auf dein absolutes Topniveau bringt. Aber ich habe bei ihm nicht nur sportlich viel gelernt, sondern bin auch menschlich gewachsen. Manchmal dauerten seine Ansprachen eine Stunde lang, ohne dass er ein einziges Wort über Fußball verloren hätte. Er hat einfach nur über das Leben geredet.
Später trainierten sie unter Pep Guardiola. Merkt man, dass Bielsa sein Vorbild ist?
Als ich unter Pep trainiert habe, kam er immer wieder zu mir und hat mich über meine Zeit mit Bielsa ausgefragt. Er wollte wissen, wie Bielsa trainierte, wie er mit den Spielern umging. Aber diese Hochachtung beruht auf Gegenseitigkeit. Pep bewundert Bielsa. Bielsa bewundert Pep. Ich kann mich noch an ein Spiel erinnern, als wir mit Bilbao gegen Barcelona gespielt haben. San Mamés, Abendspiel, es hat geregnet, Bielsa gegen Pep. Taktisch war das einfach unglaublich. Es war das schönste Fußballspiel, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.
Das sie gesehen haben?
Später, im Fernsehen.
Hat sich dieses Spiel für Sie auf dem Platz auch so schön angefühlt?
Nein. Wenn ich spiele, denke ich nicht nach. Ich spiele einfach. Es kommen oft Leute zu mir nach dem Spiel und sagen: „Hey, wie gut war denn bitte der heute?!“ Oder: „Was hat der denn heute zusammengespielt?!“ Ich kann dazu nie etwas sagen. Ich konzentriere mich und schalte alles andere aus.
„Wenn man Basti gebraucht hat, war er da und hat dir einen Rettungsring zugeworfen.“
Aber auf Ihrer Position muss man doch auf alles achten, was auf dem Spielfeld passiert.
Absolut, aber ich schaue nicht darauf, wie jemand spielt. Unsere Aufgabe ist es, die gesamte Mannschaft zu ordnen. Das Wichtigste für einen Sechser ist, durchgehend konzentriert zu sein. Man darf nie abschalten. Auch wenn der Ball weit weg ist, musst du durchgehend nachdenken, antizipieren: Wie kann der ballführende Spieler uns wehtun?
Wie hat sich die Rolle des Sechsers in den vergangenen Jahren verändert?
Es gibt kaum noch Mannschaften, die mit der Doppel-Sechs spielen. Seit vier, fünf Jahren ist eine einzelne Sechs mit zwei offensiveren Mittelfeldspielern zum Standard geworden. Aber der Fußball verändert sich jedes Jahr. Vielleicht kommt die Doppel-Sechs irgendwann wieder.
Sie bildeten mit Bastian Schweinsteiger die vorerst letzte Doppel-Sechs bei Bayern. Wie war es, mit ihm zusammenzuspielen?
Es war unglaublich. Basti war jahrelang einer der besten Mittelfeldspieler der Welt. Er war überall auf dem Spielfeld, war torgefährlich, konnte verteidigen. Er war ein kompletter Mittelfeldspieler, eine Maschine. Wenn man ihn gebraucht hat, war er da und hat dir einen Rettungsring zugeworfen.
War Ihnen von Beginn an klar, dass sie gut zueinander passen würde?
Mit Basti zu spielen war sehr einfach. Wir brauchten zwar eine kleine Eingewöhnungsphase, aber nach ein paar Monaten wussten wir genau, was der andere braucht und was der andere tun würde. Abseits des Platzes waren wir uns menschlich sehr ähnlich, waren beide sehr extrovertiert, immer gut gelaunt. Und auf dem Platz waren wir beide Spieler, die den ganzen Platz bespielt haben. Wir haben Kilometer gefressen.
Fehlt Ihnen und der Mannschaft Bastian Schweinsteiger manchmal?
Ich bin stolz auf alle meine Mitspieler, die ich bisher hatte. Aber wenn Spieler gehen, treten andere an ihre Stelle. Basti und auch Philipp (Lahm, d. Red.) waren wichtig für die Mannschaft. Jetzt sind Thomas Müller, Manu und Lewy sehr wichtig für den Zusammenhalt in der Kabine. Aber wenn sie gehen, werden andere an ihre Stelle treten. So ist der Kreislauf. Auch ohne Basti läuft beim FC Bayern im Mittelfeld einiges an Qualität herum.
Wie erlebten Sie ihr erstes Jahr beim FC Bayern?
Mein ganzes Leben hat sich damals durch den Transfer verändert. Ich bin von Bilbao nach München gezogen, bin zu einer der größten Mannschaften der Welt gewechselt. Ich hatte großes Glück, zum FC Bayern zu kommen. Und noch mehr Glück, zum ersten Mal in der Geschichte das Triple zu holen. Wir waren eine großartige Truppe. Die Kabine nach dem Champions-League-Sieg war eine einzige Party. Die Jungs hatten ein paar schlechte Jahre hinter sich. Es hat sich angefühlt wie eine Befreiung.
Wie haben Sie den Titel gefeiert?
Ich habe den Titel mit meiner Familie gefeiert. Sie war, wie bei allen wichtigen Spielen, im Stadion. Nicht nur ich habe sehr hart gekämpft, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin, sondern meine ganze Familie. Meine Mutter hat aufgehört zu arbeiten, um mich ständig zum Training fahren zu können. Die Champions League war ein Titel für uns alle.
Sie sind in einem kleinen Dorf mit 1000 Einwohnern aufgewachsen. Wie wird ein Junge aus der spanischen Provinz zum Fußballprofi?
Der Fußball fließt seit meiner Geburt durch meine Adern. Ich und meine Kumpels haben durchgehend Fußball gespielt. Den ganzen Tag nur Fußball. Wir kannten keinen anderen Sport, keine andere Art zu leben. Wir sind aus der Schule raus und haben einfach gespielt. Stundenlang. Unsere Eltern mussten uns jedes Mal abholen, damit wir zum Essen kommen. Wir hätten es sonst vergessen. Für uns gab es nichts anderes, nur Fußball, Fußball, Fußball, Fußball. Zum Glück war der Platz relativ nah bei unserem Haus.
Was war das für ein Platz?
Ein Rasenplatz, der oft in einem furchtbaren Zustand war. Es hat viel geregnet. Und jedes Mal, wenn es geregnet hatte, war der Platz unter Wasser. Wir mussten dann auf einen Acker gehen, auf dem überall Steine lagen und der bergauf ging. Aber in dem Alter ist dir eigentlich alles egal. Du willst spielen und du willst Spaß haben. Es geht nicht darum, ob du irgendwas lernst, oder irgendwas trainierst. Du willst den Fußball genießen.
Haben Sie noch Kontakt zu den Freunden von damals?
Klar, sie kommen mich oft besuchen und ich fahre, wenn ich frei habe, so oft wie möglich in mein Heimatdorf. Wenn ich meine Karriere beende, will ich auch wieder dorthin zurück.
Wie hat sich der Fußball für Sie verändert, als Sie vom Bolzplatz in Ihren ersten Verein nach Logroño gewechselt sind?
Die Trainer wurden besser, das Niveau höher, du lernst deutlich mehr. Aber ich wollte Fußball spielen, um Spaß zu haben. Ich bin oft nach den Spielen zu meiner Mutter gelaufen und habe gefragt: „Mama, habe ich gut gespielt?“ Die Antwort war immer die gleiche: „Hattest du Spaß?“ Wenn ich ja sagte, sagte sie: „Na dann hast du gut gespielt.“
Danach begann ein sehr schneller Aufstieg. Mit 15 spielten Sie in der dritten Liga, ein Jahr später zahlte Athletic Bilbao sieben Millionen Euro für sie. Mit 17 debütierten Sie in der Primera División. Wie erinnern Sie sich an dieses Spiel?
Es war ein 1:1 gegen Real Sociedad. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern.
Wirklich nicht? An ihr Debüt?
Ich kann mich an solche emotionalen Momente nicht erinnern. Ich weiß nicht, woran das liegt. Mir geht es genauso mit dem WM-Finale und dem Champions-League-Finale. Ich habe so gut wie keine Erinnerung an diese Spiele.
Liegt das am Druck?
Kann sein. Aber ich weiß es wirklich nicht. Ich schätze mal, ich bin bei diesen wichtigen Spielen so konzentriert, dass ich einfach alles ausblende.
An Ihre erste Saison generell können Sie sich aber bestimmt noch erinnern, oder?
Athletic war im Abstiegskampf. Das war etwas Historisches. Bilbao, Real Madrid und FC Barcelona sind die einzigen Vereine, die noch nie aus der ersten Liga abgestiegen sind, und wenn in so einem Verein nicht alles nach Plan läuft, gibt es Druck. Ich war 17 Jahre alt und hatte ein Gefühl von Machtlosigkeit, weil wir einfach nicht so spielten, wie wir sollten. Die Saison war für mich wie ein Masterstudium in Persönlichkeitsentwicklung und Reife.
Wie haben Sie diese Phase durchgestanden?
Im Abstiegskampf ist das Wichtigste, dass die Kabine zusammenhält. Wir waren ein echter Freundeskreis, jeder hat auf den anderen geschaut, ihn unterstützt. Ich glaube, in jedem anderen Verein hätte ich deutlich mehr gelitten.
Haben Sie in ihrer Karriere jemals wieder einen derartigen Druck gespürt?
Nein. Dieser Druck, wenn es darum geht, abzusteigen… Das ist etwas komplett eigenes. Das hat nichts mit dem Druck zu tun, den du spürst, wenn du um Europa-League-Plätze kämpfst oder darum, die Bundesliga zu gewinnen. Dabei leidet man bei weitem nicht so wie im Abstiegskampf.
Nicht mal nach einem verlorenen Finale?
Wenn man ein Finale verliert, verliert man ein Finale. Es sind 90 Minuten. Im Abstiegskampf zieht sich dieses Gefühl ein ganzes Jahr lang hin.
In den letzten Monaten schienen Sie aber auch zu leiden, weil Niko Kovac nicht mehr auf Sie baute.
Ich war natürlich frustriert. Ich war oft der Meinung dass ich der Mannschaft auf dem Platz hätte helfen können. Das war es, was mich am traurigsten gemacht hat. Aber ich habe immer daran geglaubt, dass irgendwann meine Zeit wieder kommen würde.
Mit Hansi Flick hat sich nicht nur Ihre Situation geändert. Die Mannschaft wirkte in den ersten Spielen wie ausgewechselt.
Die größte Veränderung ist, dass wir wieder höher verteidigen. Dieses 10 – 15 Meter höhere Pressing erstickt den Gegner praktisch. Irgendwo habe ich gelesen, dass wir in den ersten vier Spielen unter Flick drei Schüsse auf Tor zugelassen haben. Das ist symptomatisch. Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
Ist es für Sie als Sechser nicht deutlich schwieriger, wenn die Mannschaft so hoch verteidigt?
Für mich bedeutet das, dass ich sehr viel mehr Eins-gegen-Eins-Situationen habe. Und in diesen direkten Zweikämpfen fühle ich mich wohl. Mir gefällt diese Verantwortung, zu wissen, dass ich der letzte Mann bin, dass wenn ich einen Fehler mache, ein Tor fallen wird. Dadurch kann ich 120 Prozent geben, gehe mit mehr Intensität in einen Zweikampf, in dem es um alles geht.
Sie sind jetzt seit acht Jahren in München. Helfen Ihnen die Berge vor der Haustür dabei, sich heimisch zu fühlen?
Absolut. Ich komme aus einer sehr bergigen Gegend in Spanien. Bevor ich zu Bayern gewechselt bin, haben mir viele Leute gesagt: „Mach’s nicht. Es ist zu kalt in München.“ Aber für mich war es nicht schwer, mich einzugewöhnen. Das Wetter ist ähnlich wie da, wo ich herkomme.
Gehen Sie oft in die Berge?
Auf jeden Fall. Ich habe schon gesagt, dass ich nach meiner Karriere mit der spanischen Snowboard-Nationalmannschaft herumreisen will. Ich liebe die Berge, ich liebe den Schnee und ich liebe Sportarten mit Adrenalin, gehe Bergsteigen und Mountainbiken. In den Bergen fühle ich mich frei, es gibt immer etwas Neues zu entdecken und ich kann meinen Körper an sein Limit führen. Deswegen bin ich richtig froh, dass ich jetzt eine Partnerschaft mit Oakley eingegangen bin. Als Jugendlicher habe ich immer die Snowboard- und Fahrradbrillen gekauft. Und die Korrektionsbrillen, die ich für die aktuelle Kampagne tragen darf, passen perfekt in meinen aktiven Alltag zwischen Sport und Privatleben.
Werden wir Sie demnächst mit Brille auf dem Rasen sehen, so wie einst Edgar Davids?
Ehrlich gesagt würde ich das richtig gerne machen. Ich habe mich tatsächlich schon informiert, aber man braucht eine ärztliche Bestätigung, dass man tatsächlich die Brille braucht.
Haben Sie sonst noch Pläne für Ihre Zeit nach dem Fußball?
Das ist mir jetzt zu viel Gerede über mein Karriereende. Ich bin 31! (Lacht.) Nein, im Ernst. Ich will unbedingt reisen. Klar, als Fußballer reise ich viel, aber ich sehe den Flughafen, das Hotel und das Stadion. Wir können die Städte nicht besichtigen. Ich bin ständig an so coolen Orten, aber ich kann nichts davon wirklich sehen, oder die Kultur kennenlernen, weil ich mich auf das Spiel konzentrieren muss. Aber ich habe schon eine Liste mit Orten, die ich nach meiner Karriere abarbeiten werde.
Welche Orte stehen denn da drauf?
Ganz oben: New York, Mexiko, Los Angeles, Rom und viele, viele mehr. Die Welt ist großartig.
Ihre Familie hat ein Restaurant in Ihrem Heimatdorf. Ist das auch eine Alternative für das Karriereende?
Ich arbeite dort jetzt schon ab und zu als Kellner. Aber die Gäste beschweren sich immer über meinen Service. Aber nur, um mich aufzuziehen, mein Service ist überragend. Und das Restaurant ist wirklich großartig. Die Albondigas, die Bohnen, die Schnecken – unglaublich. Hier isst man keine Schnecken, oder?
Nein, eher selten. Vermissen Sie das spanische Essen in München?
Meine Mutter besucht mich mindestens einmal pro Monat und kocht genug, dass es für den Rest des Jahres reichen würde. Und ich koche selber sehr gerne..
Haben Sie schon Mal für Ihre Mitspieler gekocht?
Klar, erst vor wenigen Wochen habe ich in der Bayernkantine für alle Tortilla gemacht. Aber es war während der Länderspielpause, deswegen musste ich nicht ganz so viel kochen.